Deutschlandglotzen. Gerhard Stadelmaier
Vergangenheit ausgeblendet. Alle Zukunft in eine einzige Abwehrgeste prästabiliert. Der kleine rote Ball kam in Macrons Rhetorik zu geradezu gigantischen Schreckensehren. Das weiche, ja immer wie noch ungar wirkende Sanftheitsgesicht des jungenhaften Präsidenten zur Entschlossenheitsmaske erstarrt, der Blick mühsam in dunkles Funkelfeuer gebracht, das Kinn gereckt. Die deutsche Rolle im weltweiten Königsdrama: die Hygieneherrschaft. Dem Feind ausweichen! Ihm buchstäblich eins auswischen, will sagen auswaschen!
Die französische Rolle im weltweiten Königsdrama aber: das Gegenkönigtum. Nicht noch einmal einen Feind verkennen, wie so oft in der französischen Geschichte! Nicht wie einst Karl VI. die französische Krone (Corona) an den Engländer Heinrich V. dadurch verlieren, dass man einen offensichtlich längst in Gang befindlichen Krieg wenn nicht leugnet, so doch kaum ernst nimmt und sich so blasiert wie feige dekadent wegduckt! Sondern selbst die Rolle Heinrichs übernehmen! Als Franzose den Engländer spielen! Wie 1415 vor Harfleur Heinrich V. es vorgemacht hat in der Urszene alles Durchhaltewillens, komme er, woher auch immer, manifestiere er sich, in welchem Land auch immer, vom Engländer William Shakespeare als große Auf-geht’s!-Rede unsterblich formuliert für alle kommenden Nous-sommes-en-guerre!-Befehlshaber vom Schlage eines Churchills zum Beispiel (»König Heinrich V.«, III/1): »Noch einmal stürmt, noch einmal, liebe Freunde! / Sonst füllt mit toten Englischen die Mauer. / Im Frieden kann so wohl nichts einen Mann / Als Demut und bescheidne Stille kleiden, / Doch bläst des Kriegs Wetter euch ins Ohr, / Dann ahmt dem Tiger nach in seinem Tun; / Spannt eure Sehnen, ruft das Blut herbei, / Entstellt die liebliche Natur mit Wut, / Dann leiht dem Auge einen Schreckensblick / Und laßt es durch des Hauptes Bollwerk spähn / Wie ehernes Geschütz; die Braue schatt’ es / So furchtbarlich, wie ein zerfreßner Fels / Weit vorhängt über seinen schwachen Fuß, / Vom wilden wüsten Ozean umwühlt.« Er hätte auch sagen können, dass er seinen Kämpfern nichts als Blut, Schweiß und Tränen verspreche. Es ist die Animations- und zugleich Durchhalterede par excellence – in Zeiten vor allem, wo nichts gewiss ist außer Gefahr und Risiko. Und der Sieg nur ein vages Versprechen.
Die König-Heinrich-Rolle im Verzweiflungskampf gegen König Corona hatte auf der großen französischen Fernsehbühne als erster klassischer Staatsschauspieler Emmanuel Jean-Michel Frédéric Macron mit großem Pathos ergriffen. An der TV-Rampe der Nation. Zur besten Sendezeit. Sozusagen als bissiger Königspudel. In Deutschland war das eine Sache der Kanzlerwelpen. An den TV-Rampen der Nation. Aber mit dem gleichen Heinrich-Zuschnitt und dem gleichen Pathos. Während die Kanzlerin als Fürsorge-Leitwölfin den Ton vorgab und von Krieg nichts, vom Händewaschen und Abstandhalten alles wissen wollte, spielten zwei Ministerpräsidenten und ein Minister im großen Auf-geht’s-wider-den-Feind!-Spiel die hauptsächlichen vordergründigen Nebenrollen. Wobei der bayerische Ministerpräsident als Hauptwelpe das Rudel vor sich hertrieb. Mit einer Strenge und Entschiedenheit und selbst im offenen Hemdkragen und mit von durchkonferierten Nächten müdgeröteten Augen noch in allererster Verbellfront fit und agil, als müsse sich der kleine rote mächtige Coronakönigsball schon vor dem Luftzug seiner Basta-Reden in alle Ecken verziehen. Strengste Kontaktverbote. Freiwillige Isolation. Gang aus dem Haus nur mit triftigem Grund. Strengste Hygieneregeln sowieso. Er verkündete hinter mit Plastikfolie vor seinen eventuellen Vireneruptionen strengstens geschützten Mikrophonen auch nichts anderes als die Kanzlerin. Aber dies in einem gleichsam heinrichderfünftemäßigen Überkanzler-Ton. Hauptsatz um Hauptsatz. Er »ahmt dem Tiger nach in seinem Tun«.
Wogegen der gaumige nordrheinwestfälische Ministerpräsident, von Natur aus schon ein Weichzeichner, in weichgespülten Nebensätzen gurgelnd zu ertrinken schien, aber mit exakt derselben Botschaft wie der fränkische Bayer und mit demselben Überkanzler-Tonversuch. Er »lieh dem Auge einen Schreckensblick«. Während der Gesundheitsminister, den sich der Rheinländer für seine Parteivorsitzenden-Ambitionen ins Vize-Beiboot geholt hatte, naturgemäß ganz im von Tag zu Tag und von Lage zu Lage sich verändernden Verbotsmanagement im Auf-geht’s-wider-den-Feind!-Geschäft sich dauerlächelnd aufrieb, aber das Ganze irgendwie sehr sportlich nahm. Er »spannt seine Sehnen« – und wird selber allein gewusst haben, wofür und zu welchem Ende. Immerhin fand er, hinterm desinfizierten Rednerpult im Deutschen Bundestag, wir würden uns gegenseitig »nach der Corona-Krise vieles zu verzeihen haben«.
Sowohl der Königspudel in Frankreich als auch die Fürsorge-Leitwölfin und ihre Kanzlerwelpen in Deutschland traten in einem so seltenen wie denkwürdigen Moment auf: Als wirklich einmal die Welt und ihre Geschichte stillstand beziehungsweise stillzustehen schien. Als außer den täglich verkündeten Zahlen der an Covid-19 Erkrankten, Gestorbenen oder davon Genesenen nichts von dem wahrzunehmen war, was sonst immer ein dauernder, dahinstrudelnder Fluss an Meldungen von Katastrophen und Konflikten und Konferenzen und Problemen war. Ein Fluss, der auf einmal versiegt schien. Es schien, als hätte sich mit Hilfe und unter Anleitung eines verteufelt kleinen Virus, unseres kleinen roten Balls, die große unbekannte, unserer täglichen Aufmerksamkeit völlig abgewandte Rückseite der wahrnehmbaren Welt in den Vordergrund gedreht. Ohne aber ihr Geheimnis preiszugeben, also ohne Mittel und Wege zu zeigen, wie sie rasch durchforscht, bewältigt, entschlüsselt werden könnte. Was gerade von den drei Kanzlerwelpen sonst immer, wenn sie auf dem Bildschirm auftauchten, als sie noch nicht in zellophanverhüllte sterile Mikrophone sprachen und auch noch keine Nasen- und Mundschutzmasken trugen, in lässiger, aber doch jede Menge an Straffheit in Reserve versprechender Haltung vorgetragen wurde, nämlich dass sie »die Lage« oder auch »die Sache« oder »das Problem« wenn nicht im Griff, so doch im Kopf hätten, das fehlte ihnen jetzt völlig. Trotz oder gerade wegen aller Entschlossenheitsrhetorik.
Und wenn früher das Fernsehteam, das um sie herum war oder ihnen entgegenfilmte und den geeigneten Hintergrund für das Statement suchte, am besten eine holzgetäfelte Wand in einer Parteizentrale oder ein lichtes Treppenhaus oder auch nur die Rückwand der Bundespressekonferenz, wenn also das Fernsehen den jeweils zu Befragenden förmlich inszenierte, wie es ja alles, was es zeigt, in irgendeine Szene setzt, dann war es üblich, dass der zu Befragende oder auch nur der etwas besonders Wichtiges Sagenwollende zuerst mal gezeigt wurde, wie er eine Treppe herunter- oder einen lichtdurchfluteten Flur entlanggeht. Als sei er eben zu etwas ganz Unaufschiebbarem, Dringlichem, dem Fluss der Welt, wenn nicht der Geschichte, mindestens aber der Gegenwart Beförderndem unterwegs. Und als lasse er sich halt jetzt in Gottes Namen herab, um ganz rasch das dringende Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit zu befriedigen in Sachen Mindestlohn oder Brexit oder Klimawandel mitsamt entsprechenden Schulschwänz-Demonstrationen jeden Freitag oder Energiewende oder Rechtsterrorismus oder verkorkster Thüringer Ministerpräsidentenwahl oder rassistischen oder antisemitischen Amokschießereien mit neun Toten wie in Hanau oder zwei Toten wie in Halle – und hätte die Synagogentür dort nicht den Kugeln des Attentäters standgehalten, hätte es Dutzende von jüdischen Toten an diesem Tag gegeben.
Das waren die hauptsächlichen, keineswegs irgendeiner Lösung oder gar letzthinniger Erklärung zugeführten Ereignisse, die eine Deutschland-Welt in Atem und in Aufregung und in Entsetzen und Scham und Schande hielten, bevor diese Welt völlig zum Stillstand kam. Jetzt aber standen eben die Kanzlerwelpen auch still. Sie kamen keine Gänge mehr entlang. Schienen zu gar nichts mehr unterwegs zu sein. Als Figuren hatten sie plötzlich einen Text vorzutragen, der – obwohl sie ihre, wie gesagt, Entschiedenheitsrhetorik nicht ablegten – von Ratlosigkeit, allerdings einer Basta!-Ratlosigkeit gezeichnet war. Die Sprache der drei wirkte, als umspielte sie in ihrer Tiefenstruktur nichts weniger als die Schlussworte der »Drei Schwestern« von Tschechow: »Wenn man es nur wüsste …«, nämlich das, was noch kommt oder wird. Der jüngsten hat man den Verlobten erschossen, der mittleren den Geliebten genommen und sie zu ihrem langweiligen Gatten zurückverdonnert, der ältesten eine lebenslange Mühsal als heftekorrigierende Lehrerin auferlegt, allen dreien das Elternhaus und die letzte Sehnsuchtshoffnung, »Nach Moskau! Nach Moskau! Nach Moskau!«, genommen. Und nun, am Ende, erleben sie, wie die Zeit völlig stillsteht, obwohl sie natürlich vergeht. Und dass sie aufs Rad dessen geflochten sind, was man Schicksal nennt. Dass sie, die glaubten, über ihr Leben bestimmen und verfügen zu können, spüren, dass die Dinge nicht in ihrer Hand sind, es nie eigentlich waren. So ein Gefühl schafft entweder Demut – oder Verzweiflung. »Ducunt volentem fata, nolentem trahunt« (Den Willfährigen führt das Schicksal, den Widerwilligen zieht es mit sich weg), schrieb Seneca, ein Virtuose der Schicksalsergebenheit, in seinem Fall bis zum Tod, zu dem ihn Nero zwang, aber so