Tausendfache Vergeltung. Frank Ebert
hätte er auf Al wütend sein müssen. Jung Sook war seine Zugehörigkeit zur CIA nun bekannt. Eines seiner bestgehüteten Geheimnisse, das er nicht einmal Leuten preisgab, die er gut kannte, wusste diese wildfremde Frau. Weil sein Freund es ihr erzählt hatte – einfach so.
„Raymond! Nun beruhige dich. Frau Dr. Kang hat gelegentlich auch mit deinem Dienst zu tun“, erklärte Al und lächelte versöhnlich.
„Ja, das stimmt“, bestätigte Jung Sook. „Wissen Sie, ich bin häufiger in den Staaten.“
„Sie? Was machen Sie eigentlich?“, fragte Raymond.
„Habe ich dir das nicht erzählt?“
Al sah Raymond erstaunt an.
„Nein, Al, hast du nicht. Wann auch?“
„Mister Meyers, ich arbeite an der Universität von Seoul, als Professorin für koreanische Kunst“, antwortete Jung Sook zutreffend.
„Aha, und der Job führt Sie häufiger in die Staaten?“
Raymond wollte es genau wissen.
„Genauer gesagt nach Kalifornien, jedenfalls überwiegend.
Ich betreue zum Beispiel das Asiatische Kunstmuseum in San Francisco oder private Kunden.“
„Private Kunden?“
„Nun, auf der Welt wird allerlei angeboten. Die koreanische Kunst ist recht begehrt. Mein Fachgebiet ist die Malerei. Und echte Bilder aus der Koryo-Zeit mit ihren vielfältigen Malstilen von Fälschungen zu unterscheiden ist nicht immer ganz einfach, selbst für Fachleute. Universitäten, Galerien oder private Händler und Sammler gehen lieber auf Nummer sicher und lassen sich Expertisen anfertigen.“
„Ach, und das machen Sie?“
„Unter anderem das. Nicht alle Kunstliebhaber sind auch Experten. Ich katalogisiere, nehme an Auktionen teil und erstelle Gutachten.“
„Bemerkenswert!“, fand Raymond. „Jetzt wird mir auch klar, was Sie mit meinem Brötchengeber zu tun haben“, lachte er.
„Die CIA und die Kunst – ein weites Feld … Warum sagen Sie nicht einfach Raymond zu mir? Alle meine Freunde nennen mich so.“
„Nichts dagegen. Ich bin Jung Sook“, kokettierte sie.
Raymond blickte auf seine Uhr.
„Ach, Kinder, es ist spät geworden. Wir sollten austrinken und gehen. Morgen ist ein anstrengender Tag. Der Empfang muss ausgewertet werden.“
„Und ich muss einen Artikel über den Empfang für meine Zeitung schreiben“, schloss Al an.
Sie warteten auf den Fahrstuhl.
„Was hast du?“, erkundigte sich Jung Sook, als Al sich die Wange hielt.
„Wahnsinnige Zahnschmerzen.“
9 Seoul, Itaewon
Al hatte die ganze Nacht kaum ein Auge zugemacht. Seine Zahnschmerzen waren heftiger geworden. Stundenweise hatte er versucht, sein Leiden mit Schmerztabletten zu unterdrücken. Die Medikamente dämpften zwar den Schmerz, besiegten ihn aber nicht.
Bis um vier Uhr morgens hatte er gehofft, die Angelegenheit sei harmlos und die Schmerzen würden von selbst verschwinden. Aber als die Qualen statt nachzulassen immer unerträglicher wurden und er sie nicht mehr aushalten konnte, stand er auf. Zwei lange Stunden wanderte er ziellos durch seine Wohnung. Spülungen mit Ginseng-Schnaps, Zigaretten – nichts half. Als er im Badezimmer beiläufig in den Spiegel blickte, erschrak er vor sich selbst. Seine linke Wange war dick angeschwollen. Seinen Mund konnte er kaum noch öffnen. Aus dem Spiegel blickte nicht Al’s Ebenbild. Ein aufgedunsenes Monster gaffte ihn an.
Verschlafen stand Jung Sook hinter ihm.
„Du musst sofort zu einem Zahnarzt“, gähnte sie.
„Oh, ich habe dich geweckt.“
„Nicht so schlimm.“
„Kennst du einen?“
Sie suchte in ihrer Handtasche nach dem Notizbuch. Als sie die Nummer gefunden hatte, rief sie in der Praxis an.
„Der Anrufbeantworter. Die Praxis ist bis zum nächsten Wochenende geschlossen. In dringenden Fällen wird eine Frau Choi in der Zahnklinik empfohlen. Am besten, wir fahren gleich hin. Ich mache mich schnell zurecht.“
„Und ich hinterlasse auf dem Band in meinem Büro eine Nachricht. Die werden denken, dass ich heute Nacht abgestürzt bin …“
Eine knappe Stunde später lag Al auf dem Behandlungsstuhl. Das grelle Neonlicht der Operationsleuchte blendete ihn. Die Spritze, die Frau Choi injiziert hatte, musste bald wirken. Die junge Ärztin beugte sich über sein Gesicht.
„Sie sind in dieser Woche schon der dritte Weisheitszahn“, stellte sie nüchtern fest. „Gestern waren schon zwei vor Ihnen da, Herr Ventura. Aber Ihr Zahn sitzt auf Eiter, was die Behandlung nicht gerade erleichtert.“
„Ich bin froh, dass Sie mich behandeln“, brachte er gequält vor.
„Ja, es ist gut, dass Sie kommen. Sie hätten schon früher kommen sollen“, belehrte sie ihn.
Als sie mit einer Sonde prüfte, ob die Injektion wirkte, zuckte Al vor Schmerzen zusammen.
„Warten wir noch ein paar Minuten“, beruhigte sie ihn. „Erzählen Sie von sich.“
Währenddessen hielt sie seine Behandlungskarte in der Hand und las aufmerksam, was die Helferin notiert hatte.
„Sie sind Journalist, nicht wahr? Amerikaner.“
Al nickte. Als er sich aufsetzen wollte, um noch etwas zu sagen, drückte ihn die Ärztin auf den Behandlungsstuhl zurück.
„Schön liegen bleiben. Übrigens – Sie sprechen ausgezeichnet Koreanisch. Hier steht, Sie arbeiten für die koreanische Redaktion der Los Angeles News.“
„Meine Frau war Koreanerin.“
„Lebt sie hier?“
„Nein. Nein – sie ist gestorben, im vergangenen Jahr.“
„Ich glaube, wir können jetzt …“
Frau Choi prüfte erneut die Wirkung der Injektion. Al kniff nur noch leicht die Augenlider zusammen, als der Stahl der Sonde in sein Zahnfleisch drang.
Wenige Minuten später hielt Frau Choi Al’s letzten Weisheitszahn an einer Zange hoch und betrachtete den blutigen Gegenstand von allen Seiten. Al lag benebelt und erleichtert auf dem Behandlungsstuhl.
„Ein recht schönes Exemplar. Na, der wird Ihnen keinen Kummer mehr bereiten. Sie können sich jetzt entspannen.“
Der Zahn fiel klingend in eine Metallschale.
„Aber Sie müssen einiges für die Nachbehandlung tun.“
„Nachbehandlung?“, presste Al hervor, während er das blutstillende Watteröllchen auf seine Wunde biss.
„Zwei Stunden nicht essen und trinken. Auch nicht rauchen.“
„Ist das alles?“, seufzte Al.
„Hier, nehmen Sie diese Schmerztabletten mit – wenn Sie es gar nicht aushalten.“
Sie drückte ihm ein Röhrchen mit weißen Pillen in die Hand. Al spuckte den blutgetränkten Tampon in einen Abfallbehälter und verzog ob des faden, blutigen Geschmacks in seinem Mund das Gesicht.
„Es wird schnell aufhören zu bluten. In ein paar Tagen kommen Sie wieder und lassen die Wunde nachsehen. Die Schwester wird Ihnen einen Termin geben“, ordnete Frau Choi mit der Ärzten eigenen Bestimmtheit an.
Sie schickte sich an, ihre Hände zu waschen. Anschließend rieb sie sie mit einem Desinfektionsmittel