Tausendfache Vergeltung. Frank Ebert

Tausendfache Vergeltung - Frank Ebert


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ist aber mindestens zehn, zwölf Jährchen her.“

      Eine der adretten Bedienungen zwängte sich zwischen ihnen durch.

      „Sag mal, Al, bist du auf Besuch hier, oder was treibt dich in die US-Botschaft?“, fuhr Raymond fort.

      „Ich arbeite für die Los Angeles News – in unserer Seouler Redaktion. Seit Neuestem.“

      Er überreichte Raymond seine Visitenkarte.

      „Natürlich, du hast ja damals die Uniform an den Nagel gehängt – bist Journalist geworden. Der Flottenskandal, ich erinnere mich …“, winkte Raymond ab.

      „Und was machst du hier?“

      „Ja, weißt du …“ Raymond zupfte Al am Ärmel und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

      „Eine glänzende Idee! Darauf trinken wir.“

      Al prostete ihm zu. Die Runde erhob ihre Gläser. Raymond entschuldigte sich mit einer knappen Verbeugung.

      „Ist ja ein netter Kerl, sehr sympathisch“, himmelte Jung Sook hinterher.

      „Der alte Raymond, wer hätte das gedacht …“

      „Was macht er eigentlich hier bei der Botschaft?“

      „Ich erkläre es dir später. Er fragte mich soeben, ob wir uns nach dem Empfang irgendwo treffen wollen. Ich denke, du hast nichts dagegen. Wenn man nach so langer Zeit einen alten Freund wiedersieht … Wir sollten den Abend schön ausklingen lassen.“

      „Nicht lieber zu zweit?“

      Aus ihren bittenden Worten klang verhaltene Enttäuschung.

      „Ja doch, gewiss. Es braucht ja nicht so spät zu werden. Raymond muss noch ein paar Minuten hierbleiben. Wir beide könnten ja schon vorausfahren.“

      „Und wohin?“

      „Wir haben uns im Pressezentrum verabredet. Im Club der Auslandskorrespondenten sind wir ungestört.“

      „Muss das wirklich sein?“, fragte Jung Sook unwillig.

      „Es wird dir gefallen.“

       8 Seoul, Korea Press Center

      Es war kühl geworden. Eine sternenklare Nacht kündigte den bevorstehenden Herbst an. Jung Sook hatte ihren Mantel für die wenigen Schritte zu Al’s Wagen nur über ihre Schultern gehängt.

      „Was macht er nun, dein Freund?“, fragte sie Al ungeduldig, als sie losfuhren.

      „Scheint dich ja sehr zu interessieren“, gab Al gereizt zurück.

      „Zugegeben, so eine Navy-Uniform sieht schon toll aus. Hättest mich mal sehen sollen …“

      Jung Sook warf ihrem Chauffeur einen missmutigen Blick zu.

      „Lenk nicht ab, Al.“

      „Das konnte ich dir vorhin nicht sagen, vor allen Leuten. Er ist nur dem Rang nach Fregattenkapitän. Mit Marine hat er nichts mehr zu tun. Mir hat er anvertraut, dass er hier für die CIA arbeitet.“

      „Den amerikanischen Geheimdienst?“

      „So ist es. Was meinst du, wie viele Mitarbeiter von Geheimdiensten heute Abend da drin sind?“

      Al deutete mit einer Hand auf das Botschaftsgebäude zurück. „Keine Ahnung. Ich dachte, das seien alles wichtige Menschen, Diplomaten und so …“

      „Sind es auch. Vordergründig geht es den meisten nur um das Sehen und um das Gesehenwerden. Anderen bietet so ein beeindruckender Empfang die Gelegenheit, Kontakte zu knüpfen, zu beobachten, wer mit wem spricht, das eine oder andere Wort aufzuschnappen …“

      „Verstehe. Das ist also alles bloß eine gigantische Show, bei der jeder seine Rolle zu spielen hat. Die eleganten Gewänder, Roben und Uniformen bilden die Staffage und zeigen die Hackordnung an“, staunte Jung Sook.

      „So ungefähr“, bestätigte Al.

      „Glaubst du, dass auch nordkoreanische Agenten dabei waren?“

      „Bestimmt. Du hast viele Landsleute gesehen. Weiß ich, ob der freundliche Herr aus dem Wirtschaftsministerium, der mich auf meinen Artikel aus der letzten Woche ansprach, für Pjöngjang spioniert?“

      „Oder die Bedienungen … obwohl sie sehr aufmerksam waren“, schränkte sie ein.

      „Ja, vielleicht gerade deshalb … Die bekommen allerlei mit … Jung Sook, wir sind da.“

      Al stieg aus, ging um den Wagen herum und öffnete die Tür. Grazil entstieg Jung Sook dem Fahrzeug und hängte sich am Arm ihres Begleiters ein. Sie betraten das Gebäude des Pressezentrums. Der Lift brachte sie rasch in das oberste Stockwerk. Von einer der Nischen des Restaurants, die sich für vertrauliche Gespräche zu zweit oder zu dritt hervorragend eigneten, blickten sie auf den beleuchteten Springbrunnen vor dem Seoul Plaza Hotel. Tief unter ihnen breitete die unruhige Großstadt ihr nächtliches Gesicht aus.

      „Du hattest recht, Al. Der Ausblick von hier ist zauberhaft. Sieh doch nur, die vielen bunten Lichter“, begeisterte sich Jung Sook.

      Sie deutete auf den Namsan-Berg.

      „Da, das ist der Fernsehturm – der Seoul Tower.“

      „Und dahinter liegt Itaewon“, ergänzte Al.

      „Ja. Und deine Wohnung …“

      Al war nachdenklich geworden.

      „Was ist los mit dir?“, fragte sie.

      Al senkte seinen Kopf. Stumm sah er durch das volle Weinglas vor sich. Der Qualm, der von seiner Zigarette aus dem Aschenbecher aufstieg, kräuselte sich in blauen Wölkchen um seinen Kopf.

      Jung Sook lehnte sich an ihn und fasste ihn am Arm.

      „Du musst nicht traurig sein, Al. Bitte nicht“, flüsterte sie.

      „Ach, ich denke …“, seufzte Al.

      „ …an Shing-hee – ich weiß. Aber, du hast doch auch noch mich“, tröstete sie ihn und strich über sein Haar.

      „Wenn ich doch nur genau wüsste, warum sie sterben musste.

      Alles war so mysteriös …“

      „He, alter Junge!“

      Raymond schlug Al so kräftig auf die Schulter, dass er erschrocken zusammenfuhr.

      „Das ist kein Tag zum Trübsalblasen“, schärfte er ihm ein.

      Jung Sook war ein bisschen enttäuscht, weil Raymond nun einen grauen Anzug trug, wo ihm doch die Uniform so gut gestanden hatte. Jetzt sah er aus wie viele andere.

      „Ach, das ist alles schon hundert Jahre her. Alles Vergangenheit. Sie holt mich immer wieder ein“, klagte Al. „Damals, als wir junge Offiziere waren, den Kopf voller Flausen hatten, da dachten wir, uns gehöre die ganze Welt. Wir wollten Abenteuer erleben, fremde Länder sehen, Erfahrungen machen …

      Die Navy gab uns die Chance. Und wir haben sie genutzt. Aber die Wirklichkeit ist anders. Grausam ist sie, kalt und erbarmungslos. Vielleicht auch gerecht. Es ist unsere Aufgabe, uns ihr zu stellen“, philosophierte Al.

      Raymond fuhr dazwischen:

      „Mann! Unsere Crewkameradschaft zählt heute noch. Sollte sie nur das bisschen wert gewesen sein, was wir zusammen erlebt haben, dann hätten wir sie gleich damals vergessen können. Du bist nicht mehr dabei und ich auch nicht, okay?

      Das war einmal. – Oh, ich glaube, jetzt habe ich etwas gesagt, was ich lieber für mich behalten hätte.“

      Al hatte sich wieder gefasst und nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas.

      „Nein, nein. Du trägst zwar noch die Uniform. Aber jeder, der bis drei zählen kann, fragt sich


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