Tausendfache Vergeltung. Frank Ebert
strengen, konfuzianischen Herrscherhaus erzählt: Es hatte nicht nur den Palast samt seinen prunkvollen Pavillons, Sälen und Hallen im vierzehnten Jahrhundert erbauen lassen und damit das heutige Seoul gegründet. Es hatte vor allem das koreanische Alphabet, das Hangul, eingeführt. Shing-hee hatte Al bei der Gelegenheit auch durch das Nationalmuseum geschleppt. An der Stelle des ehemaligen Museumsgebäudes klaffte heute hier lediglich eine tiefe Baugrube. Al konnte sich noch sehr gut an den imposanten Steinbau aus den Zwanzigerjahren mit seinen hunderttausend Exponaten erinnern. Er war damals zutiefst beeindruckt gewesen. Inmitten der hochbetagten Palastbauten hatte er das Museum aber irgendwie als unpassend empfunden. Nun, offenbar dachten auch Verantwortliche so.
Er folgte dem Straßenverlauf in östlicher Richtung. Nach einem kurzen Blick zum französischen Kulturzentrum hinüber, hinter dem sich die Dienststelle des CIA befinden musste, erreichte er auf einem kleinen Umweg den antiken Chogyesa-Tempel.
Eine Weile ging er vor dem Tempel nervös auf und ab. Seine Gedanken kreisten um seine verstorbene Frau und um ihre Familie. Shing-hees Eltern hatten der Hochzeit mit ihm damals nicht zugestimmt. Zu tief fühlten sie sich den alten konfuzianischen Traditionen verhaftet. Fleißig und nationalbewusst waren sie – und bei aller Bescheidenheit sehr stolz. Der Vater hatte im Krieg gegen die kommunistischen Eindringlinge aus dem Norden für seine Heimat gekämpft. Nach dem Krieg hatte er ein Konfektionsgeschäft aufgebaut und später geheiratet. Aus der Ehe waren die Tochter Shing-hee und deren jüngerer Bruder Se Ung hervorgegangen. Der allmähliche Aufschwung und ein bescheidener Wohlstand ermöglichten den Eltern, die Kinder ein Geschichtsstudium absolvieren zu lassen. Als selbstverständliche Gegenleistung hatten sie von ihren Kindern Gehorsam erwartet und Respekt vor den elterlichen Entscheidungen. Se Ung fand eine Tätigkeit im auswärtigen Dienst der Regierung. Damit waren die Eltern einverstanden. Die Auslandsverwendungen ihres Sohnes in New York und in Deutschland erfüllten sie mit Stolz. Ein Diplomat, der aus einer Schneiderfamilie hervorgegangen war! Dabei kannten sie die wirkliche Tätigkeit ihres Sohnes beim ANSP bis heute nicht.
Erbitterte Auseinandersetzungen hatte es in der Familie gegeben, als Shing-hee den amerikanischen Kapitänleutnant Albert Ventura mit nach Hause brachte und bald ihre Absicht kundtat, ihn zu heiraten und mit ihm nach Kalifornien zu gehen. Weiß Gott, sie hatten sich die Zukunft ihrer Tochter anders vorgestellt! Jetzt brach der Tod ihrer einzigen Tochter den alten Leuten das Herz. Al hielt es für besser, sie vorerst nicht aufzusuchen. Sie würden ihm die Schuld anlasten. Stattdessen wollte er abwarten, bis die frische Narbe es ihnen möglich machte, mit ihm zu sprechen.
Shing-hees Bruder war Al als aufgeschlossener junger Mann in Erinnerung. Er hatte ihn zum letzten Mal vor zwei Jahren gesehen, als er für zwei Wochen in Los Angeles zu Besuch war. Es war dem Bruder aus zwingenden beruflichen Gründen nicht möglich gewesen, kurzfristig an der Beerdigung seiner Schwester teilzunehmen.
Al erreichte das Eingangstor nach Insadong. Jeder seiner Schritte fiel ihm schwerer, nicht nur, weil die Nachmittagshitze unerträglich auf der Stadt lastete. Dort erwartete Se Ung ihn bereits. Was würde er nun von ihm zu hören bekommen?
Die beiden Männer gingen mit allmählich langsamer werdenden Schritten aufeinander zu. Wortlos drückten sie sich die Hände, sahen verschämt zu Boden.
Nach einer Weile sagte Se Ung: „Was willst du hier?“
Al atmete tief durch. Die Frage traf ihn wie ein Keulenschlag. Se Ung wiederholte die Frage, eindringlicher, nachdrücklicher. Al verstand nicht. Er wischte sich eine Träne aus dem Gesicht.
„Müssen wir das hier besprechen, auf der Straße?“, fragte Al. „Lass uns in das Teehaus dort drüben gehen“, schlug er vor. Se Ung nickte wortlos.
Sie betraten das in einer Seitenstraße gelegene, im altkoreanischen Baustil errichtete, romantisch-bezaubernde Teehaus. Al musste seinen Kopf tief einziehen, um ihn sich nicht an der niedrigen Holztür anzuschlagen. Würziger Teeduft erfüllte den kleinen Raum, dessen einzige Gäste sie waren. Sie zogen nach koreanischer Tischsitte ihre Schuhe aus und nahmen auf den dicken Kissen auf dem Fußboden vor einem der niedrigen Holztischchen Platz. Ein ebenso freundliches wie schüchternes junges Mädchen goss aus einem silberfarbenen Teekessel dampfenden Ginsengtee in tönerne Tassen.
„Also, was willst du?“, wiederholte Se Ung.
„Das klingt wie eine Anklage“, antwortete Al gefasst. „Du bist Shing-hees Bruder!“
„Ja – ich war Shing-hees Bruder“, verbesserte Se Ung mit gesenktem Kopf, „bis zu ihrem Tod.“
„Meinst du, es geht mir nicht nahe, was passiert ist?“, fragte Al. Aber es kommt mir vor, als würde deine Familie mich für Shing-hees Tod verantwortlich machen.“
Se Ung wandte den Kopf ab, sah wie teilnahmslos durch eines der kunstvoll gearbeiteten, gitterartigen Fenster des Teehauses. Er schien leise zu schluchzen.
„Se Ung, du hast doch gesehen, wo wir gelebt haben, wie wir gelebt haben – und dass wir glücklich waren. Das hast du doch gesehen, vor zwei Jahren, nicht wahr?“, fragte Al nach einer Weile und fasste seinen Schwager dabei am Arm.
„Ja, das habe ich gesehen“, räumte Se Ung gebrochen ein.
„Ich habe deine Schwester geliebt wie niemanden sonst“, schloss Al an.
„Und dann gehst du von dort weg? Wie ist das denn alles passiert, was euer Leben zerstört hat? Was willst du hier?“, fragte Se Ung erneut, bevor er nachsetzte: „Ich denke heute noch an die erbitterten Auseinandersetzungen in unserer Familie, als Shing-hee den amerikanischen Kapitänleutnant Albert Ventura mit nach Hause brachte, ihn heiraten und mit ihm nach Kalifornien gehen wollte. Eine schwere Prüfung für unsere Eltern.“
„Schon wieder so vorwurfsvoll … Weiß Gott, eure Eltern hatten sich die Zukunft ihrer Tochter anders vorgestellt. Aber Shing-hee und ich auch!“
„Al, Du kannst dir das nicht ausmalen. Ihr Tod bricht den alten Leuten das Herz“, setzte Se Ung nach.
„Das glaube ich dir. Sie haben nie akzeptiert, dass wir geheiratet haben. Noch nicht einmal nach unserer Hochzeit, an der sie nicht teilgenommen haben, konnten sie mich als rechtmäßigen Schwiegersohn anerkennen. Ihr Leben lang haben sie zu mir ‚Herr Ventura‘ gesagt …“
Al ließ den Arm seines Schwagers wieder los und richtete sich auf. Er hatte das Gefühl, mit ihm jetzt vernünftig reden zu können.
„Pass auf, Se Ung! Keiner weiß, wie Shing-hee ums Leben kam. Keiner weiß, warum sie sterben musste. Ich weiß es auch nicht. Ich glaube aber nicht, dass es bloß ein Unfall war. Aber mein Leben geht weiter, das ganze Leben geht weiter, verstehst du?“
Al schlug sich mit der rechten Faust ein paarmal vorwurfsvoll an die Brust. Seine Stimme schwoll an.
„Und es nützt niemandem etwas, wenn ich in Los Angeles im Selbstmitleid versinke, begreifst du, nie-man-dem!“
Er redete jetzt so laut, dass die Bedienung erschien. Al winkte sie weg. Er sprach in gemäßigtem Ton weiter: „Ich muss etwas tun. Dauernd fragst du, was ich hier will. Ich werde es dir sagen.“
„Sprich!“, forderte Se Ung.
„Ich werde hier ein neues Leben beginnen, hier, im Land deiner Schwester, das ich durch sie kennen- und lieben gelernt habe.“
Aus Se Ung brach ein abruptes, irres Lachen hervor, bevor er mit einer abfälligen Handbewegung ungläubig entgegnete: „Wie willst du das denn anstellen? Du bist Amerikaner. Du kommst doch aus einer völlig anderen Welt.“
„Sieh das nicht als Nachteil. Meine Vorfahren kamen als Einwanderer nach Amerika, aus Portugal. Sie haben es geschafft, in einem fremden Land zurechtzukommen. Und ich werde es auch schaffen.“
„Al“, rang Se Ung mit den Händen, „Korea ist nicht Amerika! Du sprichst wie ein Idealist.“
„Ja, ich bin Idealist – aber ich bin auch Realist. Mein Boss schätzt diese Eigenschaften. Deshalb hat er mich hergeschickt. Aber – ich bin kein Fantast und kein Politiker! Und schon gar nicht bin ich korrupt …“
Ihm,