Tausendfache Vergeltung. Frank Ebert
Wohltat empfand, dass Bill für einen Moment den Mund hielt. „Am besten machst du es dir hier bequem, solange ich noch da bin.“
Bill zog Al in einen der leer stehenden Räume.
„Hier hast du auch eine Urne für deine Qualmerei.“ Als er Al’s verdutztes Gesicht sah, verbesserte er rasch: „Äh, ich meine einen Aschenbecher. Am Wochenende kannst du mein Zimmer übernehmen, ich bin gerade beim Aufräumen. Ich werde noch einige dringende Sachen erledigen. Dann könnten wir essen gehen. Ich lade dich ein. Bis gleich.“
Bill drehte sich auf dem Absatz um.
„Einverstanden“, rief Al hinterher und atmete auf. Die Hektik, die dieser Mann verbreitete, fiel wie eine Last von ihm ab. Al schloss die Tür hinter sich. Mit der bloßen Hand wischte er den Staub von der blank polierten, überdimensionalen Schreibtischplatte, untersuchte den Schrank und hängte seine Jacke hinein. Er machte sich daran, den Inhalt seiner Aktentasche sorgfältig auf dem Schreibtisch auszubreiten – seine Terminmappe, das Diktiergerät, einige Diktierkassetten, die nötigsten Schreibutensilien. Es würde noch einige Wochen dauern, bis er sich vollständig einrichten konnte. Seine Habseligkeiten verbargen sich in einem Schiffscontainer, der ihm in jenem Augenblick auf einem Frachter über den Pazifik entgegenschaukelte.
Er setzte sich an den Schreibtisch und zündete sich eine Zigarette an. Behutsam stellte er den schweren, goldmetallfarbigen Rahmen mit Shing-hees Bild vor sich hin. Er legte sein Kinn auf seine Arme, die er auf der Tischplatte verschränkt hatte, sah das Bild lange an und blies dabei nachdenklich den Qualm vor sich hin. Er konnte es noch immer nicht fassen, dass ihm diese wunderbare Frau nie mehr gegenübertreten würde. Ein paar Monate vor ihrem Tod hatte er das Foto selbst aufgenommen, das letzte Bild von ihr. Damals, kurz nach seinem fünfzigsten Geburtstag, hatten sie einen kurzen Wochenendurlaub entlang der Pazifikküste unternommen. Auf dem Weg von Los Angeles nach Santa Maria hatte Shing-hee Al gebeten, in Los Alamos zu halten.
Shing-hee hatte immer davon geschwärmt, ihren Lebensabend gemeinsam mit Al in Los Alamos zu verbringen. Al hielt dieses gottverlassene Nest mit seinen zwei Straßenkreuzungen inmitten einer Wüstenlandschaft für das Ende der Welt. Er konnte nie verstehen, was Shing-hee an den wenigen Häusern so aufregend fand. Nicht einmal eine Bar gab es. Er hätte eines der schmucken Häuschen in Long Beach oder in Santa Monica vorgezogen. Von ihm aus hätten sie auch in Rowland Heights im Orange County wohnen bleiben können. Im Hintergrund des Bildes flossen Kakteen und blühende Bäume ineinander. Shing-hee lächelte ihn mit leicht geneigtem Kopf aus dunklen, faszinierenden Augen an. Ihr Haar fiel sanft auf die rechte Schulter. Für einen Moment glaubte er, ihre Gegenwart zu fühlen. Damals war Frühling in Kalifornien …
Ein zaghaftes Klopfen an der Tür riss Al aus seiner Versonnenheit. Er erschrak.
„Ja.“
„Oh, Al, ich wollte Sie nicht erschrecken. Ein Kaffee gefällig?“, grinste Sandy und stand bereits mit einer Tasse vor ihm. Wie aufmerksam von ihr. „Oder lieber Tee?“
„Tee? Tee trinke ich nicht einmal, wenn ich krank bin“, antwortete Al. „Das mit dem Kaffee geht in Ordnung, Sandy. Ich mag ihn schwarz – und stark“, setzte er hinzu.
„Ich werd’s mir merken.“
„Al!“, rief Bill ein paar Türen weiter aufgeregt. Er hatte Mühe, trotz seiner schneidenden Stimme den Nachrichtensender zu übertönen, der immer noch quäkte.
„Die Nervensäge!“, murmelte Al und erhob sich.
„Al, wir könnten dann bald … Ich bin gleich so weit.“
Eine Hektik verbreitete dieser Mensch!
„Okay, Bill. Lass mich nur meinen Kaffee noch austrinken.“
„Nun mach doch schon“, drängelte Bill.
3 Seoul, Stadtteil Namsandong
Al und Bill bahnten sich ihren Weg durch das hektische Treiben der Innenstadt. Inmitten der Schluchten der Hochhäuser wimmelte es von rastlosen Menschen. Autos drängelten hupend durch das pulsierende Leben einer gigantischen Hauptstadt in der Mittagsschwüle.
Al musste sich im Treiben der Zwölfmillionenstadt erst zurechtfinden. Er schnaufte hinter Bill her. Dessen forscher Schritt kam Al vor, als ob der nervöse Mann noch heute nach Hause fliegen wolle. Statt die achtspurige, breite Namdaemunno-Straße sicher und bequem mithilfe einer der Fußgängerunterführungen zu kreuzen, zerrte er Al an der Straßenoberfläche über die Fahrbahnen – ein höchst gefährliches, halsbrecherisches Unterfangen, das um ein Haar einen Unfall zur Folge gehabt hätte. Der Daewoo hatte gerade noch rechtzeitig bremsen können. Der Fahrer des Wagens war vor Schreck kreidebleich in seinem Auto sitzen geblieben; er hatte nicht einmal Zeit gefunden, sich an dem permanenten urbanen Hupkonzert zu beteiligen. Die anderen Autofahrer schimpften und fluchten über zwei wahnsinnige, selbstmörderische Fußgänger.
Al starb tausend Tode. Im Achselbereich seines T-Shirts bildeten sich ausgedehnte Schweißränder.
„Das mache ich nicht noch einmal mit“, keuchte Al, als sie die gegenüberliegende Straßenseite erreicht hatten.
„Was hast du? Das geht so viel schneller, es ist einfach …“
„Wahnsinn, ja!“
„Das kommt nur daher, weil du keine Kondition hast. Ich sagte dir vorhin schon, dass sich die Kollegen zu Hause falsche Vorstellungen von dem Leben hier machen“, rechtfertigte sich Bill. „Oder du solltest einfach ein paar Zigaretten weniger rauchen.“
„Blödmann“, brummte Al.
Bill deutete auf ein kleines Restaurant neben dem wuchtigen, alten Südtor, das die Koreaner Namdaemun nennen.
„Dort haben sie die besten Naengmyon weit und breit – oder magst du keine kalten Nudeln?“
Bill fuhr sich mit der Zunge genüsslich über die Lippen.
Der Vorschlag kam Al entgegen:
„Genau das Richtige bei der Affenhitze. Das erste vernünftige Wort von dir!“
„Und noch etwas“, setzte Bill hinzu. „Sie haben Tische und Stühle hier und Messer und Gabeln. Du brauchst also weder auf dem Boden zu sitzen noch dich mit Stäbchen herumzuquälen. Und wir können uns ungestört unterhalten, die sind da nicht so …“
„Ja, denn sonst haben es die Koreaner nicht so gerne, wenn man beim Essen viel quatscht“, meinte Al.
Die absurde Hoffnung, eine ruhige Mittagspause verbringen zu können, hatte er längst aufgegeben.
„Hoffentlich merkst du dir das und hältst den Mund“, setzte er ärgerlich hinzu, ohne dass Bill es hören konnte.
Die Bemerkungen über das Sitzen auf dem Boden, das Essen mit Stäbchen und die schweigende Einnahme der Mahlzeiten wurmten Al. Schließlich war er mit den koreanischen Sitten bestens vertraut. Bills Gerede kam ihm wie ein Angriff auf die koreanische Kultur insgesamt vor. Er empfand die Kritik als unsachlich – und als unberechtigte Stichelei gegenüber der toten Shing-hee. Sie hatte Al einst den Zugang zu den Ursprüngen und den tieferen Sinn jener bestechenden, alten, geheimnisvollen Kultur vermittelt.
Aber Bill? Bill schien sich nicht der Mühe unterzogen zu haben, für asiatische Kultur Verständnis aufzubringen, geschweige denn sie auch nur im Ansatz zu begreifen. Seicht und oberflächlich, wie er war, musste er jahrelang mit Scheuklappen durch Korea gerast sein.
Amerikanische Fast-Food-Restaurants waren seine Heimat geblieben. Was hatte David B. Goldmann nur für einen Banausen nach Seoul geschickt! Spätestens jetzt war Al zutiefst davon überzeugt, dass dieser Mann hier wirklich fehl am Platze war.
In dem überfüllten Lokal herrschte drangvolle Enge. Sie warteten einen Moment und setzten sich an einen Tisch, der gerade frei wurde.
Bill dachte auch während der Mahlzeit nicht daran, still zu sein.
„Wir müssen noch