Tausendfache Vergeltung. Frank Ebert
dem Taxi zu, als sie kurz darauf an dem wie ein Maultier bepackten Mann an der Haltestelle der Flughafen-Expressbusse vorbeibrauste.
2 Seoul, Redaktionsbüro der Los Angeles News
William Antony Cooper leitete seit zwei Jahren das im achten Stock eines Wolkenkratzers der Seouler Innenstadt untergebrachte Redaktionsbüro der Los Angeles News. Er konnte es kaum erwarten, seinen Nachfolger zu sehen. Kaum einer der ausländischen Diplomaten, Journalisten und Geschäftsleute, die er kannte, war bereit, länger als zwei, bestenfalls drei Jahre hier zu arbeiten. Es gab weiß Gott begehrtere Auslandsdienstposten, vor allem klimatisch günstigere. In knochentrockenen, eiskalten Wintern erstarrte die Halbinsel unter der grimmigen Kälte, die aus der Mongolei hereinzog. Im Sommer lastete unerträgliche feuchte Schwüle über dem Land.
Cooper empfand abrupte Witterungsunterschiede stets als persönlichen Anschlag. „Was für ein Weichei du bist, Bill“, frotzelten seine sonnenverwöhnten Kollegen aus Los Angeles, wenn er sie am Telefon volljammerte. Das miese Wetter konnte er getrost Al überlassen. Das – und alles andere auch. Mit der koreanischen Mentalität kam er ohnehin so wenig klar wie mit einer Nähmaschine. Wie konnte einer nur aus Kalifornien hierher gehen! Noch dazu freiwillig. Er konnte Al’s Motive nicht begreifen. Aber – musste er das? In ein paar Tagen würde er dem ungeliebten Land den Rücken kehren. Der ewige Sonnenschein Kaliforniens erwartete ihn …
„Hey, Al. Mensch, Wahnsinn! Ich meine natürlich: Herzlich willkommen“, korrigierte sich Cooper beim Anblick seines Nachfolgers.
Er hüpfte hinter Bündeln von Papier von seinem Drehstuhl auf, stürzte mit weit ausgestreckten Armen auf Al zu und packte ihn kräftig bei den Schultern, um sogleich seine Hand kräftig zu schütteln.
„Hallo, Bill! Wie geht’s?“
Cooper lachte breit.
„Ich fasse es nicht. Wahnsinn! In weniger als hundert Stunden bin ich zu Hause – und du fragst, wie es geht?“
Cooper schüttete sich aus vor Lachen.
„Das wirst du sehen, Al. Hier regiert das Chaos – manchmal“, schränkte er sogleich ein, um nicht vor Al als unfähiger Redaktionsleiter dazustehen.
Al suchte nach einer passenden Bemerkung, um Bills Feststellung zu widersprechen. Ihm fiel keine ein. Der erste Eindruck, den er von dem Zustand des Büros gewann, war mehr als chaotisch. Die Pinboards an den Wänden quollen vor Zetteln und Bildern über. Auf den Schreibtischen türmten sich neben Computern Berge von Faxen, aufgestapelte Ausgaben der Los Angeles News und anderer Zeitungen, Mappen unterschiedlicher Stärke und Packen mit Fotos. Für einen Außenstehenden musste es aussehen, als ob das Chaos die Mitarbeiter fest im Griff hätte. Al schwankte, ob Bill mit der Leitung des Büros überlastet oder überfordert war. Hier würde er zunächst Ordnung schaffen müssen.
„Das hier ist kein Honiglecken, nicht nur Im-Sessel-Sitzen, wie daheim in L.A.“, fuhr Bill fort und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. „Die Leute in L. A. machen sich da oft falsche Vorstellungen …“
„Hör’ mit dem Blödsinn auf“, verlangte Al und entschied sich dafür, dass Bill überfordert sein musste. Der Mann wirkte gehetzt und nervös. Er verbreitete mit allem, was er sagte, Hektik und versprühte den Eindruck, als wäre jede Minute, die er länger hier verbringen musste, verschwendete Zeit. Sein Redefluss war nicht zu bremsen.
„Nächste Woche soll ich deinen Job in L. A. übernehmen. Freue mich schon drauf“, hechelte Bill. „Endlich wieder in Ruhe Berichte schreiben. Heim ins Mutterhaus, zu Väterchen David.“ Er rieb sich die Hände. „Ja, der gute, alte David – er hat schon gewusst, warum er dich hierher schickt.“
„Ich glaube, du machst dir falsche Vorstellungen von der Arbeit im Hauptquartier“, warf Al ein und fragte sich, was der Sarkasmus sollte. Der Begriff „Hauptquartier“ war eine von Al’s Sprachschöpfungen, die er seinem militärischen Wortschatz entlehnt hatte. Keiner außer ihm nannte die Chefredaktion „Hauptquartier“.
Al war sich jetzt ganz sicher, dass Bill überfordert und nicht nur überlastet war. So dummes Zeug konnte nur einer daherreden, der mit seiner Arbeit nicht zurechtkam. Und warum kam er nicht zurecht? Weil ihm die richtige Einstellung fehlte. Al hatte die richtige Einstellung. Als Journalist einer weltweit verbreiteten Zeitung musste er immer damit rechnen, im Ausland eingesetzt zu werden, wenn er vorwärtskommen wollte. Und Al wollte vorwärtskommen. Schon damals bei der Marine war er bereit, für eine gerechte Sache einzutreten – und zwar dort, wo sein Einsatz gefragt war. Egal wo. Überall. Nicht wie die Stubenhocker, die die Welt nur aus dem Fernsehen kennen und die auf alle Probleme eine Antwort wissen. Hätte er in Los Angeles bleiben wollen, hätte er auch Gerichtsreporter beim Orange County Herald werden können, einer drittklassigen Provinzzeitung. Bill wäre damit wahrscheinlich auch überfordert!
„Bill, ich muss dich was fragen“, warf Al ein, als Bill seinen Redefluss unterbrach, um Luft zu holen.
„Später, Al, können wir alles später besprechen“, winkte Bill hastig ab. „Uns wird nicht viel Zeit für deine Einweisung bleiben. Die wichtigsten Kontakte – dann musst du selbst klarkommen“, fuhr er fort und schob Al auf den Gang hinaus.
„Verlieren wir keine Zeit, fangen wir bei den Kollegen an.“
Gegen Bills kleinkrämerisches Gedrängel wirkte Al’s vornehme Zurückhaltung wie das Verständnis eines Lehrers gegenüber pubertierenden Schülern.
Sie traten in eines der anderen Zimmer. Die Tür war geöffnet.
„Das ist Tom. Er schmeißt den Laden, wenn du raus musst. Und du wirst verdammt oft raus müssen. Das hier ist nichts für Stubenhocker“, lachte Bill in einer schadenfroh-ironischen Mischung.
Was weißt du schon, dachte Al und schwieg. Es schien ihm das Beste zu sein, mit Bill keine Diskussionen zu führen. Mit dem Mann konnte er nicht diskutieren.
Thomas Miller, ein unscheinbares, hageres Bürschchen mit einem pickeligen Milchgesicht, wirrem, rötlichem Haar und einer Nickelbrille machte mit seinen knapp dreißig Jahren auf Al den Eindruck eines pingeligen Buchhalters. Er arbeitete seit einigen Jahren für die LAN im Washingtoner Büro und war vor etwa einem halben Jahr nach Seoul gekommen.
„Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Sir“, säuselte Tom und streckte Al ungelenk seine Hand entgegen.
„Nun hör’ dir das an, Bill! Sagt der doch glatt ,Sir‘ zu mir“, entrüstete sich Al, wobei er Toms Hand kräftig quetschte. „Hast du deine Leute zu Leibeigenen erzogen? – Tom, ich bin Albert Ventura. Und ich habe verdammt nichts dagegen, wenn man mich Al nennt. Im Hauptquartier heiße ich nur Al, klar?“
„Okay – Al“, antwortete Tom kleinlaut und rieb sich die gedrückte Hand.
„Und ich bin Sandy – Sandy Clay“, drängelte das kleine, mollige und fröhlich dreinblickende Wesen, das noch keine Chance gehabt hatte, sich an Tom vorbei Gehör zu verschaffen. Sandy arbeitete nun schon seit über einem Jahr im Seouler Büro.
„Ach, Sie sind das?“, stellte Al überrascht fest.
„Ja. Vom Telefon kennen wir uns bereits. Auf gute Zusammenarbeit, Al“, quietschte sie vergnügt.
„Weißt du, Al, Sandy ist unsere gute Seele. Ohne sie läuft hier nichts, schon gar nicht die Kaffeemaschine“, fühlte sich Bill verpflichtet zu scherzen.
„Sandy kümmert sich um den ganzen technischen Kram. Sie setzt nachts deine Berichte in die Redaktion ab und sie wirft auch den Chef aus dem Bett, wenn es sein muss – da kennt sie keine Verwandten“, ergänzte Tom.
„David Benjamin Goldmann nachts wecken? Das hätten wir nicht einmal bei einem Erdbeben gewagt“, raunte ihr Al mit forschendem Blick zu, wobei er den Namen seines Chefs mit Würde und betonter Ehrerbietung aussprach.
Das Mädchen schien gutmütig und fleißig zu sein.
Kichernd verzog sich Sandy in ihr Büro. Auch Tom