Tausendfache Vergeltung. Frank Ebert

Tausendfache Vergeltung - Frank Ebert


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unterschied sie sich mit ihren Mitte dreißig von den meisten anderen koreanischen Frauen nur durch den weißen Kittel. Irgendwie gefiel ihm ihre Erscheinung, nicht nur, weil sie ihn von der Wurzel seiner Qualen erlöst hatte.

      Dabei ahnte er nicht im Geringsten, in wessen Fänge er geraten war. Die Zahnärztin Choi ging mit voller Hingabe einem perfekt getarnten Doppelleben nach. Den Großteil ihres Einkommens stellte sie einer Untergrundorganisation zur Verfügung, die sich mysteriös „Drachen des Morgens“ nannte. Für sich behielt sie nur, was sie unbedingt zum Leben benötigte. Stets war sie gewissenhaft darauf bedacht, unauffällig möglichst viele Einzelheiten und Informationen über ihre Kollegen, das Personal und über Patienten zu sammeln. Dabei kam es der alleinstehenden Medizinerin gelegen, dass sie manchmal noch am Abend schwierige zahntechnische Arbeiten zu erledigen hatte, zu denen sie Ruhe brauchte und bei denen sie von niemandem gestört wurde.

      Wie an jedem Behandlungstag überprüfte Choi auch am Abend jenes Tages die Daten ihrer Patienten. Sie notierte alles, was sie von Al erfahren hatte, und kennzeichnete die Unterlagen als Neuzugang. Das Dossier verschwand in einem unverfänglichen Versteck. Einem Genossen ihrer „Drachen des Morgens“ könnte sie die Papiere am nächsten Tag während einer Zahnbehandlung heimlich zuspielen.

       10 Seoul, Itaewon

      Den Rest des Tages verbrachte Al in seiner Wohnung. Bis zum Spätnachmittag war die Schwellung seiner Wange dank mehrerer Eisbeutel erheblich zurückgegangen. Wo heute Morgen noch eine dicke Beule sein Gesicht verzerrt hatte, war nur noch eine mittelmäßige Erhebung zu sehen. Er konnte fast wieder normal sprechen. Nur den Wundschmerz empfand er noch als unangenehm, obwohl die Wunde aufgehört hatte zu bluten. Morgen wollte er seine Arbeit wieder aufnehmen.

      Es läutete an der Wohnungstür. Al öffnete.

      „Oh, Al, du siehst schon viel besser aus!“, freute sich Jung Sook. Sie zog ihren Mantel aus und setzte sich auf das Sofa, auf dem Al es sich bequem gemacht hatte. „Hast du ein wenig geschlafen? Wie fühlst du dich?“

      „Danke, es geht schon viel besser.“

      Jung Sook drückte ihm einen Strauß frischer Rosen in die Hand.

      „Hier. Für meinen lieben Patienten.“

      Während er vorsichtig das Papier entfernte, holte sie eine Vase.

      „Jung Sook, du verwöhnst mich, danke. Bei dir ist man vor Überraschungen nie sicher, was?“

      Al nahm sie in den Arm und drückte sie einen Augenblick fest an sich.

      „Hast du noch Schmerzen?“, fragte sie besorgt, während er zwei Sektflöten aus dem Schrank holte.

      „Jetzt nicht mehr. Aber als die Narkose nachließ, eine Stunde nach dem Eingriff – nun, die Wunde hat ziemlich gepocht“, schloss er an und begab sich in die Küche.

      „Gut, dass du auf mich gehört hast und wir gleich zum Zahnarzt gefahren sind, nicht wahr, Al?“

      Er entkorkte eine Flasche Champagner.

      „Es war eine – Zahnärztin, das weißt du doch“, verbesserte Al.

      Er kehrte mit der Flasche zurück und hielt sie wie eine Trophäe hoch.

      „Hier, den hat mein eiliger Vorgänger übrig gelassen. Cooper konnte gar nicht schnell genug aus Seoul wegkommen. Endlich eine passende Gelegenheit, um die Flasche zu köpfen, findest du nicht auch?“

      Der Champagner klatschte auf den Boden der Sektflöten und schäumte hoch. Al reichte Jung Sook eines der beiden Gläser.

      „Übrigens – nächste Woche muss ich wieder hin, zur Kontrolle und Nachbehandlung“, wich er aus. „Auf dein Wohl.“

      Er erhob sein Glas.

      „Ja, auf dein Wohl“, erwiderte Jung Sook und nippte an ihrem Glas. „Das klingt, als würdest du gerne hingehen.“

      „Na ja – du bist doch nicht etwa eifersüchtig?“, tippte Al behutsam an.

      „Wenn es einen Grund gibt – ja. Sieht sie wenigstens gut aus, deine Zahnärztin?“

      „Meine Zahnärztin? Wie kommst du denn darauf? Ja, sieht ganz nett aus“, untertrieb er, nicht ohne hinzuzusetzen „… und scheint couragiert zu sein. Der Zahn war im Nullkommanichts draußen. Die Frau versteht ihr Handwerk.“

      Jung Sooks Gesichtsausdruck war einem forschenden, skeptischen Blick gewichen.

      „Ach, komm her, du!“

      Al zog sie an sich. Sie duldete es halb genüsslich, halb widerstrebend und setzte sich mit niedergeschlagenen Augen auf seinen Schoß. Er küsste ihren Schmollmund.

      „Jung Sook, du hast mir geholfen, meine Trauer in Kraft umzuwandeln. Wie könnte ich dir das vergessen?“

      Sie blickte ihn lange und tief an. Er streichelte und liebkoste sie, bis sie ihn küsste.

      „Nur – dränge mich nicht, bitte. Lass mir etwas Zeit, mich in meinem neuen Leben zurechtzufinden.“

      Sie kuschelte sich behaglich an ihn.

      „Weißt du, dass du der erste Mann bist, der mir wirklich etwas bedeutet? Vor lauter Ausstellungen und Gemälden hatte ich nie Zeit für Männer. Ein Teil des Lebens ist praktisch an mir vorbeigegangen.“

      „Ein Leben im Dienste der Wissenschaft verlangt seine Opfer, Frau Professor“, spöttelte Al und drückte sich den Eisbeutel auf seine Wange.

      „Ach Al, ich habe das Gefühl, dass du aufpassen musst – und hellwach, hörst du, hellwach musst du sein.“

      „Jung Sook, was ist los? So kenne ich dich gar nicht.“

      „Ich weiß es nicht. Nur so ein Gefühl – vielleicht …“

      „Gut. Bis jetzt hast du mich aufgebaut, wenn ich unten war.

      Und ich war oft unten. Gestern Abend im Pressezentrum hast du mich wieder unten erlebt. Seit ich dich kenne, hat mein Leben wieder einen Sinn bekommen.“

      „Es ist schön, wenn du das sagst.“

      Jung Sook nahm ihm den Eisbeutel weg und legte ihn auf den Tisch zurück. Liebevoll streichelte sie sanft Al’s lädierte Backe. Sie zog ihre Schultern hoch.

      „Ich habe manchmal Angst – um dich – und dass unsere Bekanntschaft einen Riss bekommt“, seufzte sie und ließ ihre Schultern wieder fallen.

      „Warum denn, Kleines?“

      Wieder zuckte sie die Schultern, einige Male, heftig. Al zog ihr Gesicht an seine glühende Wange.

       11 Seoul, Redaktionsbüro der LAN

      „Höchste Zeit für die Redaktionskonferenz“, bemerkte Al. „Kommt ihr bitte?“

      Es hatte Tage gedauert, bis Bills ehemaliges Arbeitszimmer so eingerichtet war, wie Al es sich vorstellte. Sieben überdimensionale blaue Plastikmüllsäcke mit der unbrauchbaren Hinterlassenschaft seines Vorgängers hatte er ausgemistet. Nun stand im Wesentlichen alles dort, wo es hingehörte. Sandy hatte haufenweise loses Bildmaterial in das Archiv einsortiert. Der Arbeitsraum des Redaktionsleiters war nach seinen Wünschen funktionsgerecht gestaltet worden. In dem relativ kleinen Raum war sogar Platz für eine kleine Sitzecke. Tom und Sandy traten ein und setzten sich.

      „Hier sind die Yonhap-Meldungen. Ich habe sie nach Dringlichkeit sortiert.“

      Sandy überreichte Al drei Mappen mit Faxmeldungen. Er legte die Mappe zur Seite.

      „Danke, Sandy. Wir sollten uns Gedanken über das Redaktionsprogramm machen. Was ich vorgefunden habe, gefällt mir nicht. Das meiste davon ist auch nicht entwicklungsfähig. Und mir ist bisher nichts Vernünftiges eingefallen“, seufzte Al.

      Tom


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