Die Blaue Revolution. Peter Staub
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3 Dürrenmatt, Friedrich, «Justiz», Zürich, 1985, Seite 41 ↵
4 www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/verdingkinder-in-der-schweiz-wir-kindersklaven-a-1111341.html ↵
5 www.amnesty.ch/de/themen/menschenrechte/dok/2018/70-jahre-allgemeine-erklaerung-der-menschenrechte/buch/frauenrechte-in-der-schweiz-menschenrechte-im-schneckentempo ↵
6 «Der Bund», Bern, 5. November 2019 ↵
7 «Sonntagsblick», Zürich, 3. November 2019 ↵
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Eine Nation – eine Demokratie
Der Saal im ehrwürdigen «Kaufleuten» in Zürich kocht. Seit rund zwei Stunden fegt das internationale Ensemble von Incognito an einem Novemberabend 2019 über die Bühne. Das international gemischte Publikum tanzt ausgelassen zum Soul und Jazz der fast 20-köpfigen Band. Die Stimmung ist energiegeladen und entspannt zugleich. Bandleader Jean Paul «Bluey» Maunick strahlt ins Publikum und ruft zum Ende des Konzerts: «We are one nation, we are one family.» Das Publikum stampft, klatscht, jubelt.
Der in Mauritius geborene englische Musiker weiss, wovon er spricht. Schliesslich spielt er seit fast 40 Jahren rund um die Welt Konzerte. Dabei wollte «Bluey» Maunick aber nicht nur der musizierende Magier auf der Bühne sein, der die Leute zum Tanzen brachte: «Ich wollte, dass die Welt meine Band ist», sagt er. So waren bei Incognito seit Gründung der Band insgesamt über 1500 Musiker*innen und Sänger*innen dabei. «Blueys» Idee war es von Anfang an, «ein musikalisches Kollektiv» aus den unterschiedlichen Menschen aus ganz verschiedenen Ländern zu bilden.[1]
Also ist es für ihn nicht einfach eine Floskel, wenn er «We are one nation» so locker dahinsagt. Für Jean Paul «Bluey» Maunick ist es eine Lebenseinstellung. Für die meisten seiner Fans ist diese Aussage wohl eine Selbstverständlichkeit. Denn sie wissen: Wir Menschen haben alle die gleichen Wurzeln, wir alle haben das gleiche Blut in den Adern, wir alle haben grundsätzlich die gleichen Bedürfnisse und Fähigkeiten. Egal, aus welchem Schweizer Kanton sie stammen, egal, in welchem Land sie aufgewachsen sind, egal, welche Hautfarbe sie haben, egal, ob sie sich als Frau, Mann oder Transmenschen bezeichnen, egal, ob sie an einen Gott glauben oder nicht: Alle zusammen bilden die Menschheit, sind eine Nation.
Darum geht es der Blauen Revolution: Die Spezies Mensch muss in der Entwicklung endlich einen Schritt weiterkommen. Wir müssen die Erkenntnis, dass wir uns von den Inuit in Kanada über die Einheimischen der Zentralschweiz bis zu den Maori auf Neuseeland alle so ähnlich sind, dass unsere Organe problemlos ausgetauscht werden können, endlich ernst nehmen. Und diese Erkenntnis in die reale Politik umsetzen. Genauso wenig, wie es jemanden in den Sinn kommen würde, die Menschen nach ihren verschiedenen Blutgruppen in «Rassen» einzuteilen, macht es Sinn, Menschen nach dem Ort ihrer Geburt oder der Farbe ihrer Haut zu schubladisieren.
Abgesehen davon, dass «Blueys» Wort der «one nation» also grundsätzlich Sinn macht, gibt es zu Beginn des dritten Jahrtausends mehrere Gründe, aus der wissenschaftlichen Erkenntnis, dass alle Menschen gleich sind, die politischen Konsequenzen zu ziehen.
Neben älteren moralischen Appellen wie «Proletarier aller Länder vereinigt euch» aus dem Manifest der Kommunistischen Partei von 1848[2] oder neueren Aufrufen wie jenem von Jean Ziegler – politisches Enfant terrible der Schweiz –, wonach «das tägliche Massaker des Hungers der absolute Skandal unserer Zeit» ist[3], ist es heute vor allem die Frage nach dem Überleben der menschlichen Zivilisation, die auf eine globale Antwort drängt. Dass durch die globale Klimaerwärmung das Überleben der zivilisierten Menschheit auf dem Spiel steht, ist heute weitgehend unbestritten. Natürlich gibt es Menschen, die das bestreiten. Mit diesen dürfen sich gerne jene auseinandersetzen, die auch mit Menschen diskutieren, die behaupten, dass die Erde eine Scheibe ist.
«Unser Planet steht in Flammen», sagte UNO-Generalsekretär António Guterres in seiner Neujahrsbotschaft Anfang Januar 2020. Er sprach damit die Klimaerwärmung an, die sich damals mit gigantischen Waldbränden in Australien manifestierte. Seine Aussage war aber auch eine vieldeutige Metapher. So sprach Guterres ebenfalls davon, dass sich die Welt in Aufruhr befinde, und dass die geopolitischen Spannungen so stark seien wie noch nie im 21. Jahrhundert. Die Menschen seien zornig und verstört. So könne es nicht weitergehen, sagte er. Sein verzweifelter Aufschrei war auch das Eingeständnis der Ohnmacht der Vereinten Nationen und damit der gesamten Staatengemeinschaft.[4]
Die Metapher des UNO-Generalsekretärs orientierte sich dabei nicht zufällig an der Botschaft der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg, die diese knapp ein Jahr zuvor am World Economic Forum (WEF) in Davos an die führende Mangager-Guilde gerichtet hatte: «Das Haus brennt».[5]
Seit dem flammenden Appell Thunbergs an die selbsternannte Wirtschaftselite sind die Monate ins Land gegangen, ohne dass sich eine funktionstüchtige Feuerwehr formierte. Thunbergs Schulstreiks fürs Klima haben zwar Millionen von jungen Menschen motiviert, regelmässig für eine politische Lösung des Klimaproblems auf die Strasse zu gehen, doch ausser der öffentlichen Erkenntnis, ein gravierendes Problem zu haben, hat sich wenig verändert.
Immerhin haben zahlreiche Städte in der Schweiz, in Europa und rund um den Globus unterdessen den Klimanotstand ausgerufen. Und selbst das EU-Parlament schloss sich Ende November 2019 diesem Trend der Symbolpolitik an und verlangte von der EU-Kommission, dass die EU bis 2050 klimaneutral wird.[6]
Doch getan hat sich nichts: Trotz im Vorfeld wohlwollend formulierter Verlautbarungen ging die 25. UNO-Weltklimakonferenz in Madrid im Dezember 2019 ohne Fortschritte zu Ende. Das Plenum erinnerte die rund 200 Staaten bloss an ihre Zusage, im nächsten Jahr ihre Klimaschutzziele für 2030 möglichst zu verschärfen. Aktivist*innen waren zurecht empört, dass das Pariser Abkommen von 2015 weiterhin ein Papiertiger blieb: «Diese Klimaschutzkonferenz war ein Angriff auf das Herz des Pariser Abkommens. Sie verrät all jene Menschen, die weltweit längst unter den Folgen der Klimakrise leiden und nach schnellen Fortschritten rufen», sagte Greenpeace-Deutschland-Geschäftsführer Martin Kaiser. Für den WWF war die Konferenz «ein gruseliger Fehlstart in das für die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens so entscheidende Jahr 2020». Auch für die internationale Greenpeace-Chefin Jennifer Morgan war das Ergebnis «völlig inakzeptabel.»[7]
Dabei aber einfach mit dem Finger auf Staaten wie die USA oder Brasilien zu zeigen, die mit ihren reaktionären Präsidenten zweifellos zu den Bremsern einer nachhaltigen Klimapolitik gehören, wäre zu billig. Selbst die reiche Schweiz, die sich gerne als Klima-Musterschülerin verkauft, ist weit davon entfernt, die eigenen, für einen wirksamen Klimaschutz immer noch ungenügenden Ziele einzuhalten. Sie rutschte 2019 im internationalen Klima-Länderrating gegenüber dem Vorjahr gar um sieben Plätze ab und belegt nur noch Rang 16. Vor der Schweiz liegen nicht nur Länder wie Schweden oder Dänemark, sondern auch Marokko und Indien. Grund dafür ist die schwache Klimapolitik der Eidgenossenschaft. Obwohl der Schweizer Bundesrat im August 2019 das Netto-Null-Ziel bis 2050 ankündigte, fehlt es an einer verbindlichen Umsetzungsstrategie. Auch das