Die Blaue Revolution. Peter Staub
den meisten Menschen nicht nur an sich guttun, wir würden auch etwas weniger produzieren und hätten weniger Umwelt- und Gesundheitskosten, sagt Seidl.[37]
Mit ihrem Wunsch nach einer signifikanten Arbeitszeitverkürzung trifft sich Seidl nicht nur mit dem Niko Paech, sondern knüpft auch an einer Forderung an, welche die Arbeiter*innenbewegung seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert begleitet. Um die umweltverträgliche Transformation der Wirtschaft durchsetzen zu können, macht also eine breite Koalition der ökologischen und sozialen Bewegungen Sinn.
Der amerikanische Historiker und Autor Thomas Frank sagte im Hinblick auf die US-Präsidentschaftswahlen 2020, dass es «eine grosse Koalition aller Arbeiter*innen, unabhängig von Hautfarbe und Ethnie» brauchte, um die Wiederwahl Trumps zu verhindern. «Das ist der Weg, den Franklin Roosevelt ging, als er die Reformen des New Deal durchsetzte.» Um diese Koalition für einen Green New Deal zu gewinnen, ist es nötig, bei den realen Lebensbedingungen der Menschen anzusetzen. Und zwar jener Menschen, die nicht im Überfluss leben. Deshalb lohnt es sich, mit Frank einen Blick in die USA zu werfen, wo die chronischen Probleme, die das Leben von Millionen von Amerikaner*innen prekär machen, trotz der bis Anfang 2020 boomenden Wirtschaft noch immer existieren. «Sie können sich keine Medikamente leisten, sie müssen sich für einen Krankenhausaufenthalt verschulden oder verzichten angesichts dieser Aussicht ganz auf die Behandlung. Sie verzweifeln an den hohen Kosten für eine Ausbildung», sagte Frank, noch bevor das Corona-Virus die amerikanische Wirtschaft lahmlegte und Hunderttausende Menschen das Leben kostete. «Wenn man durch die früheren Industrieregionen des Mittleren Westens fährt, sieht man: Das Leben ist nicht dorthin zurückgekehrt. Die Einwohner spüren jeden Tag: Ihre Gesundheitsversorgung ist schlecht. Ihre Stadt geht vor die Hunde. Und sie wissen, dass ihre Kinder nicht zu den Gewinnern gehören werden, die an die guten Colleges gehen werden.»[38]
Mit graduellen Unterschieden waren auch in den reichen Ländern Europas ähnlich prekäre Verhältnisse bereits vor der Coronakrise sichtbar, egal ob in Deutschland, Frankreich oder Grossbritannien. Es waren die Auswirkungen der neoliberalen Politik, die auf Ronald Reagan und Margaret Thatcher zurückgingen und seit gut 40 Jahren das soziale Klima bestimmten. Das wirkte sich auch in der Schweiz aus: «Das verfügbare Einkommen nach Abzug von gestiegenen Mieten, Krankenkassenprämien und anderen Abgaben ging in den meisten Regionen für die Mehrheit zurück. Das Hamsterrad in der Arbeitswelt dreht und dreht, doch die halbe Bevölkerung hat nichts davon», analysierte der ehemalige Schweizer Preisüberwacher Rudolf Strahm.[39]
Den erbärmlichen Zustand der Welt zeigt der UNO-Bericht zur Ernährungssicherheit vom Juli 2019: Jeder zehnte Mensch auf der Erde leidet an Hunger. Rund 820 Millionen Menschen haben nicht genug zu essen. Damit ist die Zahl der Hungernden das dritte Jahr in Folge angestiegen. Dabei ist für Frauen die Wahrscheinlichkeit, von Hunger betroffen zu sein, auf allen Kontinenten höher als jene für Männer.
Der UN-Report stellt fest, dass in Ostafrika fast ein Drittel der Bevölkerung unterernährt ist. Zu den Ursachen gehören Klimaextreme und Konflikte sowie die schleppende wirtschaftliche Entwicklung. Mit über 500 Millionen leben die meisten unterernährten Menschen aber in Asien, vor allem in südasiatischen Ländern. Über 250 Millionen Hungernde leben in Afrika und über 40 Millionen in Lateinamerika und in der Karibik. Insgesamt haben zwei Milliarden Menschen «keinen verlässlichen Zugang zu Nahrung». Knapp 150 Millionen Kinder unter fünf Jahren sind wegen chronischer Mangelernährung unterentwickelt.[40]
Dass solche beschämenden und Zahlen nicht nötig wären, weiss der ehemalige UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, der Schweizer Sozialist Jean Ziegler. Denn der Welternährungsbericht, der die oben genannten Opferzahlen aufführt, sagt gleichzeitig, «dass die Weltlandwirtschaft in der heutigen Phase der Entwicklung ihrer Produktionskräfte problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte.» Also etwa 50 Prozent mehr als die Weltbevölkerung heute ausmacht. «Zum ersten Mal in der Geschichte gibt es keinen objektiven Mangel mehr. Das Problem ist nicht mehr die fehlende Produktion, sondern der fehlende Zugang zu Nahrung», hält Ziegler fest. Dass dennoch alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren an Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen stirbt, sei bei einer vernünftigen Organisation und einer gerechten Weltordnung vermeidbar. Deshalb kommt der ehemalige Schweizer Nationalrat aus Genf zum Schluss: «Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet.» Hoffnung auf eine Änderung dieser skandalösen Zustände sieht Ziegler «im Aufstand des Gewissens, im demokratischen Widerstand, im radikalen Reformwillen der Zivilgesellschaft.»[41]
Die Zustände im industrialisierten Norden sind zwar nicht so erbärmlich wie in den Entwicklungs- und Schwellenländern. Aber selbst in der reichen Schweiz lebt jeder zwölfte Mensch in Armut, verglichen mit dem allgemeinen Lebensstandard im Land. Das heisst: kein Geld für Schuhe, kein Geld für Ferien, kein Geld für einen Eintritt ins Freibad. Die Armut in der Schweiz nahm in den Jahren 2014 bis 2017 um rund 20 Prozent zu. Für den Anstieg der Armut findet der Soziologe und Armutsforscher Franz Schultheis klare Worte. «Das ist ein skandalöser Tatbestand.» Vor allem alleinerziehende Mütter, die Kinderbetreuung und Arbeit vereinbaren müssen, sind von Armut betroffen. Weil in der Schweiz die externen Betreuungsangebote für Kinder oft zu teuer und zu knapp vorhanden sind, können viele dieser Frauen nur die Teilzeit arbeiten. Unter Armut leiden in der Schweiz aber auch über 70 000 Kinder: «Häufig gibt es bei armutsbetroffenen Kindern in der Schweiz eine viel höhere Krankheitsquote. Die Kindheit, die von Armut betroffen wird, ist ganz besonderen verschiedenen Risiken ausgesetzt», sagt Schultheis.[42]
Trotzdem: In der Schweiz muss im 21. Jahrhundert kein Kind Hunger leiden, niemand muss unter Brücken schlafen. Und die Gesundheitsversorgung ist auch für Arme weitgehend gewährleistet. Das sieht in den grundsätzlich ebenfalls reichen Vereinigten Staaten der USA ganz anders aus: «Obdachlosigkeit, Hunger, Scham: In den USA sind 43 Millionen Bürger davon betroffen – doppelt so viele wie vor 50 Jahren. Es kann ganz schnell gehen: Krankheit, Jobverlust, schon ist man auf der Strasse», hiess es im November 2019 in einem Dokumentarfilm. In der strukturschwachen Bergbau-Region der Appalachen war es für die Einwohner*innen fast normal geworden, mit Lebensmittelkarten einkaufen zu gehen. Und wer seine Wohnung verliert, dem bleibt oft nichts anderes übrig, als im Auto zu leben. «In Los Angeles gibt es mittlerweile so viele Obdachlose, dass Hilfsverbände damit begonnen haben, kleine Holzhütten bauen, um ihnen ein Dach über dem Kopf zu bieten. Auch die Zahl obdachloser Kinder ist dramatisch gestiegen, 1,5 Millionen sind es mittlerweile – dreimal mehr als zur Wirtschaftskrise in den 30er-Jahren, der sogenannten Grossen Depression», lautete der Befund bereits Monate vor der Coronakrise.[43]
Und dafür ist nicht nur Trump verantwortlich. Bereits im August 2014, als noch Barack Obama das Land regierte, warnte der amerikanische Milliardär Nick Hanauer: «Die Kluft zwischen Habenden und Nicht-Habenden reisst immer schneller auf.» Die Steuererleichterung der Reichen und Superreichen, seit Reagan das Dogma der Republikaner und von Demokraten wie Bill Clinton oder Obama nicht infrage gestellt, hat nur einer schmalen Elite Vorteile gebracht. Der Mittelstand fiel immer stärker zurück und verfügte über immer weniger reales Einkommen. Zur gleichen Zeit, in der Menschen wie Hanauer «jenseits der wildesten Träume aller Plutokraten der Geschichte reich» wurden, blieben 99 Prozent der Einwohner*innen des Landes immer weiter zurück. «Es gibt kein Beispiel in der Geschichte der Menschheit, bei dem ein solch immenser Reichtum angehäuft wurde, und das schliesslich nicht die Mistgabeln auftauchen liess», schrieb Hanauer, lange bevor sich Donald Trump daran machte, die amerikanische Gesellschaft noch stärker zu spalten und die Reichen mit erneuten massiven Steuererleichterungen noch reicher zu machen. Milliardär Nick Hanauer war aber nicht nur in der Analyse stark. Er wusste auch, wie das Wirtschaftssystem wieder ein wenig gerechter würde: mit der Erhöhung des Mindestlohns.[44]
Damit befand sich der amerikanische Multimilliardär mit den Schweizer Gewerkschaften in Einklang, die sich schon lange und teilweise erfolgreich für die Anhebung der Mindestlöhne engagieren. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) unterstützt darüber hinaus aber auch die jugendlichen Klima-Aktivist*innen der Fridays for Future-Bewegung.[45] Denn für die Gewerkschaften ist es ein existenzielles Anliegen, sich weltweit für griffige ökologische Massnahmen einzusetzen. Nicht nur weil auch