Heidelberger auf der Flucht. Sebastian Klusak

Heidelberger auf der Flucht - Sebastian Klusak


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wollten. Strehlow, der als Soldat bisher selbst geholfen hatte, flüchtende Landsleute zu jagen, hatte mit dem DDR-Regime gebrochen. Doch ebenso wie 90 Prozent der Flüchtlinge scheiterte auch er. Nachdem er miterleben musste, wie vor der dänischen Küste zwei Flüchtlinge von seinem Boot aufgebracht und wie Vieh behandelt wurden, hatte Strehlow aus Protest sein Amt als FDJ-Sekretär des Schiffes niedergelegt. Als er auch dagegen protestierte, dass auf Befehl des Politoffiziers wieder die Werke Josef Stalins gelesen werden mussten, wurde das Verfahren zum Ausschluss aus der SED eingeleitet. Damit war auch seine letzte Hoffnung auf ein Physikstudium zerstört.

      Für Strehlow war mit diesen Erlebnissen die heile Welt eines bis dahin sorglos in der DDR aufgewachsenen jungen Mannes zerstört worden. Sein Vater war SED-Mitglied und Schiffsbauingenieur gewesen, Teil der Nomenklatura also, der Familie fehlte nichts. Selbst ein Auto hatten sie schon, als er ein Kind war. Über Politik sprach man zu Hause nicht. Das Leben im real existierenden Sozialismus war unter diesen Umständen für Bodo, der gut schwamm und in der Bezirksliga Handball spielte, ein Traum, der erst in der Realität des Sozialismus, wie er ihn bei der Volksmarine erlebte, zerplatzte.

      Küstenwachschiff P 30

      Bild: Eugenio Castillo Pert (Wikipedia, CC BY 3.0)

      Die acht Seemeien bis zur Grenze waren schnell bewältigt. Als sich Bodo Strehlow mit dem Schiff bereits in westdeutschen Gewässern befand, riß ihn eine Explosion aus seiner Freude über die geglückte Flucht: Der Kapitän hatte mit einer Handgranate den Aufgang an Deck freigesprengt und stürzte mit seinen Soldaten an Deck. Strehlow wurde unter Feuer genommen, eine zweite Handgranate explodierte nur zwei Meter von ihm entfernt: Sie zerstörte sein linkes Auge, seine beiden Trommelfelle, zertrümmerte Arme und Beine. Blutüberströmt und übersät mit Granatsplittern brach Strehlow zusammen. Die Wirkung einer Handgranatenxplosion aus dieser geringen Entfernung gilt als garantiert tödlich – doch als die „Graal-Müritz“ im DDR-Hafen ankam, wurde festgestellt, dass er noch lebte.

      Obwohl schwerverletzt und fast taub, marterten ihn die Stasi-Vernehmer wochenlang, machten ihn mit Spritzen vor jeder Vernehmung gefügig. Eltern und Freunde wurden verhört, ein Schulfreund wurde verurteilt, weil er angeblich oppsitionelle Äußerungen Strehlows nicht sofort der Stasi gemeldet hatte. Selbst in Westdeutschland wurden die Verwandten beschattet, weil die Stasi eine Verschwörung und Spionage konstruieren wollte. So begann für den jungen Unteroffizier ein Leidensweg, der in Worte kaum zu fassen ist. Erst 3791 Tage später, sechs Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer, konnte Strehlow seine Kerkerzelle Nr. 35 im vierten Stock des berüchtigten Zuchthauses Bautzen II9 schließlich kurz vor Weihnachten 1989 als einer der letzten politischen Häftlinge der DDR verlassen.

      Nach der Logik der DDR durfte Strehlow doppelt froh sein, dass er noch am Leben war: „Nur wegen seiner Jugendlichkeit“ hatte das Militärobergericht in Neubrandenburg in einem Geheimprozess 1980 von der Verhängung der Todesstrafe abgesehen. Nicht wegen seines Fluchtversuches, sondern wegen angeblicher „Spionage, Terrors, elffachen Mordversuches und Fahnenflucht im schweren Fall“ wurde er zu lebenslangem Freiheitsentzug verurteilt. Den „elffachen Mordversuch“ sah das Gericht als erwiesen an, weil er seine elf Kameraden der Nachtwache mit der Dienstwaffe bedroht hatte – obwohl er keine einzigen Schuss abgegeben hatte.

      Der Strehlow von der Stasi zugeteilte Verteidiger hatte mit seinem Mandanten nur einmal kurz gesprochen, dann ebenso wie der Militärstaatsanwalt auf „Lebenslang“ plädiert – die Eltern Strehlows mussten dafür eine Rechnung über mehr als 2000 Mark, das zweieinhalbfache eines durchschnittlichen Monatsgehaltes, zahlen. Mehr als zehn Jahre verbrachte Strehlow im Zuchthaus Bautzen II, fast die ganze Zeit hat er in absoluter Isolationshaft auf weniger als sechs Quadratmetern in der „verbotenen Zone“ verbringen müssen, die nur von Offizieren betreten werden durfte. In den fast 500 Wochen hinter Gittern durte er nur 17 andere Gefangene sehen, sah keinen Sonnenstrahl. Strehlow ist davon überzheugt, dass die Stasi sogar versucht hat, zwei Haftkameraden und ihn zu vergiften: „Uns wurde vergifteter Grapefruitsaft gegeben. Mithäftlinge starben, ich schwebte zwei Wochen in Lebensgefahr“. Zwischen 1980 und 1988 starben die Häftlinge Arno Schumann, Arno Heine und Horst Garau in Bautzen II. Strehlow hält es für möglich, dass sie von der Stasi ermordet wurden.

      So unvorstellbar die Isolationshaft in Bautzen war – Strehlow konnte sich Gehör im Westen verschaffen. Ein winziges Kassiber, verfasst auf Zigarettenpapier, konnte von einem Mithäftling bei seinem Freikauf in den Westen geschmuggelt werden. Es war an Franz Josef Strauß, die letzte Hoffnung vieler politischer Häftlinge in der DDR, gerichtet.

      Strehlow beschwor den bayerischen Ministerpräsidenten: „Ich versichere Ihnen, dass ich kein Terrorist bin und niemals versucht hätte, gewaltsam zu flüchten, wenn ich nicht im Lauf meiner Dienstzeit bei der Marine Augenzeuge geworden wäre, wie Flüchtlinge auf hoher See unter Drohung mit Schußwaffen an der Flucht gehindert und verhaftet wurden.“ Doch auch Strauß, der mit seinen – nicht unumstrittenen – Kontakten zur DDR-Führung manches Schicksal von politischen Häftlingen zum besseren wenden konnte, vermochte es nicht, Strehlow aus dem Zuchthaus Bautzen II freizukaufen. Jede Anfrage durch die Bundesregierung hatte der SED-Generalsekretär Erich Honecker brüsk abschlagen lassen – es war die unmenschliche Rache des Regimes, das dem Westen offenbar um jeden Preis verheimlichen wollte, dass es einem 22jährigen fast geglückt wäre, ein NVA-Schiff mit mehr als 20 Mann Besatzung allein in die Freiheit zu steuern. Erst Wochen nach der Absetzung Honeckers konnte Strehlow freigekauft werden. Doch endlich frei und im Westen, fängt für den Schwerbeschädigten die Auseinandersetzung mit den westdeutschen Behörden an: Das Heidelberger Landratsamt verweigert ihm anfangs die Anerkennung als politischer Häftling und damit auf eine Eingliederungshilfe, auf Anrechnung der Haftzeit für die Rente und auf Versorgungsleistungen wegen seines erblindeten Auges. Begründung der Bürokraten: Strehlow habe seine „Republikflucht“ mit Waffengewalt versucht. Zwar sei er aus politischen Gründen inhaftiert worden, doch sei er daran selber schuld, weil er „den Maßstab der anzuwenden Mittel zur Erreichung des beabsichtigten Zieles eindeutig überschritten“ habe. Friedrich Karl Fromme hatte vorher in der FAZ geschrieben: „Auch diejenigen, die sich für eine Freilassung Strehlows bemüht haben, verkennen nicht, dass seine Tat strafwürdig war. Allerdings kann unter rechtsstaatlichen Begriffen, unter Berücksichtigung der Notwehrsituation (Versuch, die vorenthaltene Freizügigkeit zu verwirklichen, wenn auch mit unzulänglichen Mitteln) die lebenslange Freiheitsstrafe nicht als angemessen angesehen werden. Bei Strehlow ergibt sich die Zuordnung zum Begriff des politischen Gefangenen aus der Eigenart des Gerichtsverfahrens, aus dem Übermaß der Bestrafung und aus der Besonderheit des Strafvollzugs.“

      Schließlich erkennt auch das Landratsamt die besonderen Umstände des Falles Strehlows an und bewilligt ihm die Anerkennung als politischer Häftling und damit auch eine karge Haftentschädigung: Etwa 30.000 D-Mark für zehn schreckliche Jahre DDR-Zuchthaus. In Heidelberg konnte sich Bodo Strehlow seinen Traum vom Physikstudium erfüllen. Er hat geheiratet und ist heute Inhaber eines Computergeschäftes in der Neckarstadt.

      7 Aretz, J., Stock, W. (1997). Die vergessenen Opfer der DDR. Bergisch-Gladbach: Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, S. 78-83

      8 Die „Graal-Müritz“ war ein Schiff der „Kondor“-Klasse der DDR-Volksmarine mit einer Länge von ca. 52 Metern und etwa 24 Mann Besatzung. Im Bild die ehemalige „Ückermünde“ derselben Klasse, die von 1992 bis 2006 als Patroullienboot „P 30“ im Dienst der Küstenwache Maltas stand, im Hafen von La Valetta. Bild: Eugenio Castillo Pert, gemeinfrei (Wikipedia, CC BY 3.0)

      9 „Bautzen II“ war von 1956-89 eine Sonderhaftanstalt der DDR mit 200 Plätzen für Spione, Westdeutsche, gefasste Flüchtlinge, straffällig gewordene SED-Funktionäre und andere politische Gefangene. Das Ministerium für Staatssicherheit entschied, wer dorthin verlegt wurde und überwachte Personal und Insassen. Es kam dort immer wieder zu Misshandlungen. Das auf der folgenden Seite gezeigte Bild von Stephen C. Dickson (Wikipedia, CC BY-SA 4.0) zeigt das zentrale Treppenhaus der Haftanstalt.

      Marktplatz, Rathaus:

      


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