Heidelberger auf der Flucht. Sebastian Klusak
Sie wurde von Georg Kretz, einem Heidelberger Bildhauer und Musiker, der 1948 aus russischer Kriegsgefangenschaft nach Heidelberg heimgekehrt war, erschaffen.10 Das Kunstwerk stammt aus dem Jahr 1952.11 Es erinnert an die über 11 Millionen deutschen Kriegsgefangenen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in mehreren Ländern der Welt in Lagern interniert waren. An diese Menschen erinnert auch die oft übersehene, nachfolgend ebenfalls abgebildete12 Gedenktafel an der Ostwand der Providenzkirche in der Hauptstraße. Von diesen Gefangenen starben über 1,2 Millionen während der Gefangenschaft.13 Ihre Behandlung war sehr unterschiedlich. In vielen Lagern in Russland dominierten Hunger, schwerste körperliche Arbeit, mangelnde medizinische Versorgung und Gewalt, während es in den Lagern in England und USA eine bessere Versorgung mit Nahrungsmitteln herrschte und Ärzte, weniger Gewalt sowie leichtere Arbeit gab. Viele Gefangene versuchten, aus den Lagern zu fliehen. Einer von ihnen war Rolf Magener. Seine Geschichte ist kaum bekannt.
Rolf Magener
Rolf Magener wurde 1910 in Odessa geboren. In dieser damals russischen Stadt gab es eine große deutsche Bevölkerungsgruppe. Sein Vater Adolf Magener war ein deutscher Kaufmann, dem u. a. das berühmte Hotel Metropol gehörte. Seine Mutter war eine Russin. Um die Gesundheit der Mutter zu schonen, lebte die Familie oft an der Cote d‘Azur.14 Rolf Magener besuchte die Hermann-Lietz-Schule Spiekeroog. Zu seinen Klassenkameraden gehörten dort der spätere Raketeningenieur Wernher von Braun und der deutsche Diplomat Harald Graf von Posadowsky-Wehner.15 Danach studierte er Betriebswirtschaftslehre, u. a. auch in Exeter, weshalb er fließend Englisch sprach. Im Jahr 1937 wurde er an der Universität Frankfurt promoviert. Das folgende Foto zeigt ihn in jungen Jahren, das Entstehungsdatum ist leider nicht bekannt.16
Schon zwei Jahre zuvor war er in die Dienste der Interessengemeinschaft Farbenindustrie AG, abgekürzt IG Farben, eingetreten, dem damals größten Chemie- und Pharmakonzern der Welt. Dieser entsandte ihn erst nach China und dann nach Indien. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs galten in Indien, das damals eine englische Kolonie war, alle Bürger Deutschlands und seiner Verbündeten (Italien, Japan, Bulgarien, Ungarn, Rumänien) als „Enemy Aliens“. Dieser Begriff lässt sich mit „Ausländer aus Feindländern“ übersetzen. Er bezeichnet nach angloamerikanischem Recht den Angehörigen eines Staates, mit dem sich das Land, in dem er sich aufhält, in einem Konflikt befindet. Diese „Enemy Aliens“ wurden von den Engländern gefangengenommen. So geschah es auch mit Rolf Magener: Er wurde am 3. September 193917 verhaftet und in das Lager Dehra Dun in Nordindien gebracht.
Das „Central Internment Camp Dehra Dun“ lag auf einer Höhe von 600 bis 700 m am Fuß des Himalayas und nahe der Grenze zu Nepal. Es beherbergte etwa 3000 Gefangene. Je 50 davon lebten in einer strohgedeckten Ziegelbaracke von 30 m Länge, 12 m Breite und 15m Höhe. Im Sommer stiegen die Temperaturen bis 43, im Winter nie über 5 Grad. Im Frühjahr brachte der Monsun manchmal so starke Niederschläge, dass es durch die Strohdächer regnete. Die Gefangenen brannten auf dem Lagergelände Schnaps, züchteten Geflügel und bauten Gemüse an.18 Sie nannten das Lager „The City of Despair“ – die Stadt der Verzweiflung. Rolf Magener berichtet, dass in den wenigen Bäumen Aasvögel saßen und die Gefangenen unter Langeweile und dem Eingesperrtsein litten. Ein Insasse des Lagers hat 1943 eine Zeichnung19 mit Bilderklärungen in lateinischer Sprache angefertigt, die nachfolgend zu sehen ist. Auf ihr sind auf der linken Seite die Gemüsebeete, im Vordergrund zwei Sportplätze, auf der Rückseite die Lagertore und davor das Büro des Lagerkommandanten (kleines Haus auf der rechten Seite des Mittelgangs)20 zu sehen. Außerdem sind von diesem Lager mehrere Fotos erhalten. Eine Gruppenaufnahme der Lagerinsassen aus dem Jahr 1941 zeigt u. a. auch Rolf Magener, auch wenn dieser kaum zu erkennen ist.21 Im Lager bekam Magener die Häftlingsnummer 1775.
Im Lager Dhera Dun befand sich eine ungewöhnlich große Zahl von Abenteurern. Darunter war Heinrich Harrer, ein Bergsteiger, der 1938 zusammen mit drei anderen Alpinisten als Erstes die Eiger-Nordwand bestiegen hatte, und Peter Aufschnaiter, der 1929 und 1931 an einer Expedition zum dritthöchsten Berg der Erde, dem Kangchendzönga in Sikkim, teilgenommen hatte. Die beiden hatten 1939 zusammen mit anderen deutschen Bergsteigern eine Aufstiegsroute auf den 8175 m hohen Nanga Parbat im Westhimalaya erforscht, und waren wie Magener auf dem Rückweg von dieser Expedition von den Engländern festgenommen worden. Auch Heins von Have, ein gebürtiger Hamburger, der als Kaufmann in der damaligen Kolonie Niederländisch-Indien (heute Indonesien) tätig gewesen, von den Niederländern festgenommen und an die Engländer übergeben worden war, war ein Draufgänger. Er sprach sehr gut Englisch und hatte bereits zwei Mal vergeblich versucht, aus der Gefangenschaft auszubrechen. Ein Abenteurer war auch Hans Kopp, der in der ehemaligen deutschen Kolonie Deutsch-Südwestafrika geboren worden, als junger Mann mehrere Jahre mit einem Motorrad durch Europa unterwegs gewesen und bei Kriegsbeginn auf einer Baustelle bei Bagdad tätig gewesen war, wo er von den Engländern in Gewahrsam genommen wurde.22 Nachdem Magener fünf Jahre lang die meist erfolglosen und manchmal tödlich endenden Fluchtversuche aus dem Lager miterlebt hatte, entschloss er sich selbst zur Flucht. Er plante diese zusammen mit Heins von Have, den er als Ersten ansprach, Peter Aufschnaiter, Heinrich Harrer, Hans Kopp, Bruno Treipl (ein Salzburger, der nach Niederländisch-Indien gekommen war, um im Hotel seiner Tante zu arbeiten, und dort von den Niederländern gefangen worden war) und Friedel Sattler (einem Rheinländer, über den nicht viel bekannt ist). In seinem Buch „Die Chance war Null“ beschrieb Magener, wie schwierig ein Ausbruch aus Dhera Dun war, selbst wenn er gelang:
„Eine Internierung in Indien bedeutet für den, der sich mit Fluchtgedanken trägt, doppelte Gefangenschaft: einmal innerhalb des Stacheldrahts und dann nochmals im Lande als solchem, dessen natürliche Grenzhindernisse seinen Befreiungsplänen wie ein zweites großes Bollwerk entgegenstehen. Indien erscheint dann als großes, undurchdringliches Dreieck, dessen Basis der Himalaya bildet, während die Schenkel vom Ozean begrenzt werden. Im Nordwesten verriegeln Wüsten, im Nordosten Dschungel die Ausgänge. Der Weg nach Afghanistan ist durch die Sperrforts des Khybergpasses verlegt, das dortige Grenzgebiet für Weiße wegen der ewig aufrührerischen Afridistämme nicht begehbar.“23
Magener und seine fünf Gefährten setzten ganz auf Bluff. Dabei halfen ihnen mehrere Mitgefangene, die selbst nicht ausbrechen wollten. Ein deutscher Arzt im Lager besorgte Arzneien und ein Handwerker stellte einen langen Dolch aus einer alten Autofeder her. Ein Jesuitenpater, der bei den Tibetern missioniert hatte, klärte sie über die Kultur der Tibeter auf und zeichnete Karten.24 Rolf Magener und Heins von Have gelang es, sich Geld, Soldbücher, Uniformen und britische Offiziersstöckchen zu beschaffen. So konnten sie sich als englische Offiziere verkleiden. Die anderen vier verkleideten sich als indische Arbeiter. Harrer und Kopp schnitten Stacheldraht aus dem Zaun, der das Lager umgab, und wickelten diesen auf eine Rolle. Außerdem stellten sie sich eine Bambusleiter her. Der Plan bestand darin, bei den Wachen den Eindruck zu erwecken, zwei englische Offiziere hätten mit einer kleinen Gruppe indischer Arbeiter den Stacheldrahtzaun des Lagers repariert und würden dieses nach Beendigung der Arbeiten wieder verlassen. Am 29. April 1944 um 2 Uhr nachmittags, als es sehr heiß war und im Lager die Mittagsruhe galt, war es so weit. Bruno Treipl beschrieb den Ausbruch sechs Jahre später so:25
„Die Posten auf den Wachtürmen mögen sich zwar gewundert haben, woher dieser Trupp plötzlich gekommen sein mochte, allein, da eine Leiter und Stacheldraht-Rollen in den Händen der ‚Inder‘ über den Zweck des Aufenthalts der Truppe hinreichend Aufklärung zu geben schienen, schwiegen die Maschinengewehre. Unsere beiden Hamburger (gemeint sind Have und Magener, der Verf.), die das Englische wie ihre Muttersprache beherrschten, schwangen kokett ihre Offiziers-stöckchen, gingen uns voran auf den ersten Torposten zu und verlangten dort barsch die Öffnung des Tores. Dem Befehl wurde ohne weiteres Folge geleistet und klopfenden Herzens passierten wir mit unseren durch übermangansaures Kali echt indisch gebräunten Gesichtern, unter mächtigen Turbanen möglichst gleichgültig in die Welt schauend, das erste Hindernis. Dann ging‘s durch die LagerHauptstraße dem Haupttor entgegen. Unsere Hamburger wurden allenthalben mit dem nötigen Respekt gegrüßt, trotzdem