Heidelberger auf der Flucht. Sebastian Klusak
Väterchen!‘ heißt, zur Mäßigung seines Schrittes mahnen musste. Ein englischer Offizier, der Kommandant eines Nebenblocks, radelte auf uns zu, wir hielten unser Inderdasein bereits für beendet, aber die beiden Hamburger grüßten und nahmen wie selbstverständlich den Dank des Engländers entgegen, den das Radl rasch an uns vorübertrug. Das Haupttor brachten wir ebenfalls glücklich hinter uns und auch die dritte, letzte und uns am gefährlichsten erscheinende Klippe, den ausschließlich von indischer Polizei bewachten Schlagbaum am Lagereingang, überwanden wir. Kaum waren wir außer Sicht, fingen wir zu laufen an. Aber es dauerte nicht lange, da merkten wir, dass hinter uns her ein Inder gerannt kam, der wild gestikulierte und unverständliche Rufe ausstieß. Wir verdoppelten unser Tempo, denn wir dachten nichts anderes, als dass wir bereits verfolgt würden. Der Mann hinter uns aber lief noch um etliches schneller und kam uns endlich so nahe, dass wir beschlossen, stehen zu bleiben und ihn zu erwarten. Erst als der keuchende, mit einem Hängebart versehene Inder schon fast vor uns stand, erkannten wir ihn. Es war Sattler, der mit seinem vom Lagerfriseur Reich kunstvoll zum Inderantlitz umgebildeten Schädel und mit einem Teertopf und einem Pinsel in der Hand als zu uns gehöriger Nachzügler glatt alle drei Tore durchschritten hatte.“
Messerschmidt, E. (1943), Karte von Dhera Dun
Bildkopie von Walter Buelle (2013)
Gruppenbild der Gefangenen in Dhera Dun
mit Rolf Magener (ganz links)
Kurz nachdem sie das Lager hinter sich gelassen hatten, stießen sie auf indische Bauern. Alle sechs Flüchtlinge liefen erschrocken auseinander. Magener, Harrer und Have liefen nach links, die anderen nach rechts. Von da an flohen sie getrennt. Die Zeitschrift „Der Spiegel“ berichtete 1955, Magener und Have hätten sich eine Höhle in den Vorbergen des Himalayas gesucht. „Dort hielten sie sich mehrere Tage im Angesicht des ‚Throns der Götter‘ versteckt, bis sie annehmen durften, dass die Such-Aktion des Lagerkommandanten eingestellt war.“26 Danach kehrten sie, so „Der Spiegel“, in die Ebene zurück. Das Gelingen ihrer weiteren Flucht machten sie, anders als Harrer und Aufschnaiter, nicht von ihrer körperlichen Stärke abhängig, sondern von ihrer Fähigkeit, als Engländer aufzutreten. Aufgrund ihrer jahrelangen Tätigkeit im englischen Kolonialreich sprachen beide perfekt Englisch. Um kein Aufsehen zu erregen, unterhielten sie sich auch untereinander nur auf Englisch. Aus englischen Zeitungen hatten sie sich Details über ihr angebliches früheres Leben zurechtgelegt. Außerdem lernten sie Details über die englische Armee auswendig. Auf ihren khakifarbenen Uniformen hatten sie keine Rangabzeichen; sie benutzen ihre gestohlenen Soldbücher auch nur gegenüber Zivilisten, nie aber bei Kontrollen durch das englisch Militär, da sie im Fall einer Verhaftung für das Benutzen von militärischen Symbolen und Papieren eine zusätzliche Strafe bekommen hätten.27 Ihr Ziel war es, die Grenze nach Burma zu überqueren und sich dort in die Hände des japanischen Militärs zu begeben, das damals an der Seite Deutschlands kämpfte.
Ihre Fähigkeit, als Inder aufzutreten, testeten Magener und Have laut „Der Spiegel“ erneut, als sie in der Nähe des Lagers einen Bus anhielten, der sie zur nächsten Bahnstation in Saharanpur bringen sollte. Keiner der anderen Fahrgäste schöpfte Verdacht, aber es befand sich auch kein Engländer darunter. Dies wurde in Saharanpur anders. Hier setzen sich ausgerechnet zwei Militärpolizisten neben die beiden Ausbrecher. Doch diese hatten Glück: Sie gingen wieder, ohne sie anzusprechen. Aber als Magener und Have ein sicheres, nur von Indern besetztes Zugabteil gefunden zu haben glaubten, entdeckten sie einen britischen Oberleutnant und einen Piloten auf den Eckplätzen. Vierzig Stunden, die ganze 1.450 Kilometer lange Strecke bis Kalkutta, teilten sie mit den beiden das Abteil, ohne angesprochen zu werden.28 Rolf Magener beschreibt in seinem Buch „Die Chance war Null“ mehrfach, wie er und Have den Kontrollen der Wachposten entkamen, weil diese genau dann abgelenkt waren, als die beiden den Posten passierten. Die Engländer konnten sich in einem so dicht besiedelten und hoch entwickelten Land wie Indien nur deshalb halten, weil sie ständig Personenkontrollen durchführten. Hinzu kamen die schon damals starken Spannungen zwischen der hinduistischen und der muslimischen Bevölkerungsgruppe. Trotzdem passierten Magener und Have die Kontrollen am Bahnsteig in Kalkutta und konnten sich für mehrere Tage in einem Hospiz des CVJM einquartieren. Das war die einzige Unterkunft, die keine Ausweise verlangte. In der Millionenmetropole Kalkutta lernten die beiden, ihre Rolle perfekt zu spielen. Sie besuchten sogar regelmäßig das „Firpo´s“, eines der besten und vor allem von Engländern frequentierte Restaurants der Stadt. Das nachstehende Bild29 zeigt das „Firpo´s“ wenige Monate nach dem Aufenthalt der beiden.
Von Kalkutta fuhren die beiden per Bahn in die Hafenstadt Goalanda an der Padma im heutigen Bangladesch und von dort per Schiff die Padma hinunter bis in die heute ebenfalls zu Bangladesch gehörenden Hafenstadt Chandpur, ohne kontrolliert zu werden. In Chandpur war die Anlegestelle von Militärpolizisten abgeriegelt. Während die Zivilisten von Bord gehen durften, mussten die Militärangehörigen auf dem Schiff bleiben, um kontrolliert zu werden. Kaltblütig verließen die beiden dennoch das Schiff. Sie durchquerten die Anlegestelle, obwohl von allen Seiten Rufe ertönten, dass sie dazubleiben hätten. Als sie versuchten, an einem Militärpolizisten vorbeizugehen, der neben einer Sperre stand, sagte dieser: „Haben Sie nicht gehört, dass Sie das Schiff nicht verlassen dürfen? Bitte zurück!“ Have fragte, ob Zivilisten auch warten müssten, und zeigte dem Polizisten ihre Fahrkarten, die auf Zivilisten ausgestellt waren. Der Militärpolizist ließ sie daraufhin vorbei. Rolf Magener schreibt über diese Episode:
„Das war wieder so ein Streich nach Haves Geschmack. Er konnte dem Reiz der Lage nicht widerstehen … Furchtlos, und ohne Nerven, mit einem unfehlbaren Instinkt für das gerade noch Mögliche, stand er immer über der Situation. Niemals habe ich ihn aufgeregt gesehen … Hinterher sahen seine Abenteuer immer so aus, als habe er sie vorher genau durchkalkuliert.“30
Auf dem Weg in das heute ebenfalls zu Bangladesch gehörende Chittagong, das rund 250 Kilometer von der Grenze des britisch besetzten Indiens mit Burma lag, benutzen Have und Magener noch einmal die Eisenbahn. In der Nähe dieser Stadt befand sich eine Siedlung, wo sie sich dem Dorfältesten als englische Beamten vorstellten und ihn baten, ihnen ein Boot mit Ruderer zur Verfügung zu stellen. Dieses Boot brachte sie während einer drei Tage dauernden Fahrt entlang der Küste weiter südlich zum Ort Cox´s Bazar. In der Mitte dieses Bootes schützten sie Matten aus Palmblättern vor der sengenden Sonne und den Blicken Neugieriger. Trotzdem war es darunter unerträglich heiß. Tagsüber fuhren sie entlang der Küste, nachts schliefen sie an Land.31
Von Cox´s Bazar aus mussten Magener und Have zu Fuß weiter in Richtung der Grenze. Damals versuchten alliierte Truppen gerade, die Japaner aus Nordburma zurückzudrängen. Deshalb war auf den Straßen in Richtung Grenze viel Militär unterwegs. Trotzdem mussten Magener und Have genau diese Straßen benutzen, da der Dschungel zu gefährlich gewesen wäre. Deshalb marschierten sie nachts und schliefen tagsüber. Einmal versuchten sie, einen englischen Wachposten zu umgehen, indem sie eine Anhöhe bestiegen. Dabei lösten sich Felsbrocken von der Anhöhe, die den Posten auf sie aufmerksam machte. Als er sie erblickte, schwangen die beiden freundlich ihre Helme, und der Posten schöpfte keinen Verdacht. Mehrfach durchquerten sie während der Nacht englische Militärlager, ohne aufzufallen. Bei anderen Gelegenheiten wurden sie mit „Stopp!“ zum Stehenbleiben aufgefordert und hörten, wie die Wachposten schon ihre Gewehre entsicherten, marschierten aber trotzdem weiter. Auf diese Weise schafften sie es, die Grenze zu erreichen und sogar den Grenzfluss Naf zu überqueren.32 Nach dem Grenzübertritt verloren sie im Dschungel die Orientierung. Rolf Magener dazu:
„Auf unserer blinden Hetzjagd gerieten wir in eine schmale Schlucht, in deren wannenförmiger Enge das Wasser sich aufgestaut hatte. Bauchtief in den Tümpeln watend, andere durchschwimmend, waren wir gerade einem Wasserbecken entstiegen und um einen Felsvorsprung gebogen, als ich vor mir, auf Duell-Abstand, eine Gruppe von drei Gestalten gewahrte, Have ein verzweifeltes ,Wir sind verloren!‘ zurief und sah, wie sich langsam die Gewehre