Geschmackssache oder Warum wir kochen. Günther Henzel
um chemische Faktoren, die Vorgänge im Zellkern steuern. So wird u. a. durch Methylierung oder Acetylierung der Histone (basische Eiweiße der Chromatinfäden = das Material der Chromosomen), in denen die DNA – Desoxyribonukleinsäure (engl. für Säure: Acid – deshalb DNA) – 'aufgerollt' vorliegt, das 'Ablesen' der Gene temporär reguliert (BLECH 2010); (NÜSSLEIN-VOLHARD 2004)
166 A. a. O., S. 18 f.
167 Indol-Alkaloide enthalten einen Indol- oder Indolin-Grundkörper (2 'Ringe'). Inzwischen kennt man über 12 000 Alkaloide, die überwiegend pflanzlichen Ursprungs sind. Sie dienen ihnen als chemische Abwehr gegen Fraßfeinde. Auch der menschliche Organismus kann aus körpereigenem Tryptamin (ein Amin) und Acetaldehyd (das in der Leber u. a. beim Abbau von Alkohol entsteht) β-Carboline herstellen
168 Beta-Carboline gehören zur großen Gruppe natürlicher Indol-Alkaloide, die sich aromatisch unterscheiden und ein breites Spektrum pharmakologischer Eigenschaften aufweisen, u. a.: beruhigend, angstlösend, antiviral, antiparasitär und antimikrobiell (CAO et al. 2007)
169 „Beachtliche Gehalte an β-Carbolinen finden sich … im Gebratenen und Gegrillten… “; a. a. O., S. 116
5 Älteste Gartechniken und was von ihnen geblieben ist
Würde man Homo erectus erneut auferstehen lassen und ihn einem modernen Menschen gegenüberstellen, ist Letzterer ein neues Wesen, eine andere Art, die über ein wesentlich größeres Nahrungsspektrum verfügt und sich komplexer ernährt. Betrachtet man die ersten Feuergartechniken, die vermutlich vor knapp zwei Millionen Jahren angewendet wurden, mit heutigen, sind diese 'Uralttechniken' jedoch noch (nahezu) erhalten. Ihnen liegen physikalische und chemische Wirkungen zugrunde, die sich begünstigend auf metabolische Vorgänge im menschlichen Organismus auswirken und deshalb unverändert nützlich sind. Die molekularen Stoffwechselprozesse in den Zellen sind nahezu gleich geblieben, nur die Organsysteme (z. B. Darm, Leber, Gehirn) haben sich der thermisch veränderten Nahrung mit entsprechender Enzymausstattung und Größe angepasst. Hinzugekommen sind Verfahrenstechniken, die durch lagerungsbedingte Rohstoffveränderungen (z. B. Gärvorgänge, Fermentation) erkannt worden waren. Auch sie sind ernährungsphysiologisch wertvoll und erweitern heute das Zubereitungsrepertoire in vielen Kulturen. Da solche 'Entdeckungen' jedoch auch an klimatische Bedingungen gebunden sind, gehören diese endemisch entwickelten Verfahren nicht zum Zubereitungsrepertoire aller Kulturen.
Die Garpraxis heute existierender indigener Völker (Danis, Papua, Eipo, Yanomami, !Kung San, Hadza) ermöglichen einen Blick zurück auf zehntausende Jahre alte archaische Feuergartechniken.170 Je nach Lebensraum dieser Ethnien werden Rohstoffe entweder direkt mittels Feuer oder indirekt mit heißen Steinen oder aber in heißem Sand gegart (CLAUS; ROSSIE 1976; wiss. Film). Diese Arbeit erledigen bei den !Kung und Danis überwiegend Frauen, die vormittags das Gelände nach Früchten, Knollen, Wurzeln und Raupen absuchen (ihre Kleinkinder tragen sie dabei in einer Art Ledertasche rücklings oder auf der Hüfte).171 Zurück in ihren Hütten sortieren sie die Feldfrüchte und garen stärkereiche Knollen (z. B. Yamswurzeln, Süßkartoffeln) in heißem Sand oder heißer Glut bzw. Asche,172 bevor sie sie anschließend direkt an der Feuerstelle verzehren. Asche- und Sandanhaftungen werden nur grob abgeschüttelt, also z. T. mit aufgenommen (MUTH; Pollmer 2010).173
Um größere Tiere zu garen, sammeln Papua auf Neuguinea (meist Frauen) Brennholz (auch Rundholz und kleinere Stämme) und entfachen ein großes Holzfeuer, in welchem sie Steine erhitzen. Die von Männern auf der Jagd erbeuteten Tiere werden ausgeweidet (wie auch Hausschweine, die mit Pfeil und Bogen getötet werden), die Borsten bzw. das Fell über dem offenen Feuer abgebrannt und deren anhaftende Reste mit bloßen Fingern abgekratzt. Die im Feuer liegenden Steine dienen als Hitzespeicher und werden mit gabelartigen Holzzangen in eine mit Bananenblättern ausgekleidete Erdmulde gelegt, worauf das entborstete Tier (mit verschiedenen wasserreichen Pflanzen, Palmenblättern und Soden bedeckt) für mehrere Stunden »wie in einem Römertopf« gart. Auch legt man in Blätter eingewickelte Wurzeln hinzu, die aber nicht der »Aromatisierung« des Fleisches dienen, sondern um die in Betrieb befndliche Garstelle sinnvoll zu nutzen (WRANGHAM 2009).174 Vorher entnommene und entleerte Därme füllt man (nach dem Umdrehen – innen nach außen) durch Einspucken einer vorher gut zerkauten Masse aus Kräutern und Pflanzen und gart diese Würste ebenfalls in der Glut.175
5.1 Vom direkten Feuergaren zum Garen in Gefäßen
Das Garen am offenen Feuer, in heißer Glut/Asche, in heißem Sand oder auf erhitzten Steinen (in Gargruben – dazu auch Wikipedia: Erdofen) ist weltweit und unabhängig voneinander erfunden worden. Diese Techniken sind noch heute bei vielen indigenen Völkern in Gebrauch (SCHURZ 2011). Es sind einfache direkte Garmethoden, bei denen die Energie der Wärmequelle direkt auf das Gargut übertragen wird – ausschließlich um den Garpunkt zu erreichen. Sieht man von der vorne genannten »Dschungelwurst-Herstellung« einmal ab, sind diese Garpraktiken für Rohstoffkombinationen, mit denen aromatisch-synergistische Wirkungen erreicht werden sollen, schon deshalb nicht geeignet, weil die dazu notwendigen großvolumigen Gefäße fehlen. Natürliche Behältnisse, wie z. B. Muschelschalen, Straußeneier, Schildkrötenpanzer oder Baumbusrohrbehältnisse, sind für die Befüllung mit vielfältigen Rohstoffanteilen zu klein.
Das einzige volumige »Kochbehältnis«, das z. B. die Krahó-Indianer in Brasilien ersonnen haben, sind Kuhlen, die sie unmittelbar am Ufer eines Gewässers (in handbreitem Abstand) ausheben. Diese Sandmulden werden mit Bananenblättern ausgelegt und mit Wasser aufgefüllt176. In diesen »Naturtopf« werfen sie aus einem am Bachrand entfachten Lagerfeuer entnommene heiße Steine, die das Wasser ausreichend erhitzen, um die darin eingelegten Palmenfrüchte (Bacaba-Palme) zu erweichen. Anschließend werden diese entnommen und ins Lager getragen, gepresst und vergoren. All diese Arbeiten verrichten Frauen. Der leicht alkoholhaltige Saft wird mit Genuss (von Männern) getrunken (SCHULZ 1968; wiss. Film). Diese »Naturtöpfe« müssen an jedem »Küchentag« jedes Mal neu ausgehoben werden, da die Sandgruben nicht überdauern. Es gibt aber auch stabilere Gargruben oder Erdöfen, die auf der ganzen Welt in unterschiedlichen Größen gefunden worden sind, vor allem im Pazifikraum.177
Tiefere Erdöfen (etwa 50–60 cm), die man öfter nutzen wollte, hat man bevorzugt in steinfreien Böden ausgehoben, deren Wandungen formfest blieben. Populationen, die sich u. a. aus klimatischen Gründen in einem Habitat niedergelassen hatten, dessen Böden zufällig aus Lehm oder tonhaltigem Lehm bestanden, konnten nicht ahnen, welche Beobachtungen sie am Lagerfeuer und in ihren Gruben machen sollten, in die sie glühend heiße Steine gelegt hatten. Nicht nur dass der Boden unter der Feuerstelle steinhart wurde und die Wärme lange speicherte – auch die Wandungen ihrer Kochmulden wurden fest.
In seinem natürlichen (feuchten) Zustand waren Lehmböden plastisch, weshalb sich damit Formen aller Art – auch Figuren – modellieren ließen. Gerieten solche »Artefakte« in die Nähe oder direkt ins Feuer, härteten sie aus und blieben erhalten. Diese (wiederum) zufälligen Beobachtungen mit Ton/Lehm und Feuer lösten einen Formungs- und Gestaltungswillen aus, der zur Herstellung einfacher Gefäße führte. Dazu wurden auf einem Tonboden wülstige Stränge kreisförmig zu Wandungen aufgestapelt und mit Wasser geglättet. Diese Behältnisse härteten bereits in unmittelbarer Nähe des Feuers aus. Richtig fest wurden sie aber erst in der Glut. Die ersten gebrannten (nicht glasierten) Tonwaren (Terra cotta) wurden während der letzten Eiszeit erfunden (die etwa vor 21 000 Jahren ihren Höhepunkt hatte).178 Mit der Erfindung der Töpferscheibe (eine der ältesten Basisinnovationen der Menschheit) wurde schließlich eine Handwerkskunst mit Möglichkeiten zur Serienfertigung erfunden – und die älteste Manufaktur der Menschheit geschaffen: das Töpferhandwerk.179
Die ältesten Keramikfiguren sind über 24 000 Jahre alt, Keramikgefäße sind etwa 18 000 Jahre alt und stammen aus China (dazu auch Wikipedia: Töpferei). Es ist gut vorstellbar, dass die Vorläufer der bauchigen Keramikgefäße (Vasenformen) in den Wandungen der wiederholt benutzten Erdöfen entstanden sind, die nach oben etwas verjüngt waren. Die durch Hitzeeinwirkung gerissenen Innenwände wurden wahrscheinlich regelmäßig