Geschmackssache oder Warum wir kochen. Günther Henzel

Geschmackssache oder Warum wir kochen - Günther Henzel


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etwas produziert wurde, sondern durch den Einsatz einer Naturkraft. Der Mensch ließ Feuer für sich arbeiten. Diese Technik konnte offenbar genauso erlernt werden wie das Imitieren bestimmter Handlungen (s. Hintergr.-Info., S. 81). Hierbei handelte es sich aber nicht um die beobachtete Tätigkeit eines Artgenossen, die man nachmacht (die Wirkung von Feuer ist keine Tätigkeit eines Artgenossen), sondern setzt die Wirkung von Feuer/Glut planvoll ein. Das Erlernen von Gar- und Rösttechniken lag daher auf einer kognitiv höheren Ebene, als die »Eins-zu-Eins-Imitation« beobachteter Handlungen – es instrumentalisiert die » Wirkung thermischer Energie«. Das war der Beginn einer technischen Revolution, die viele Jahrhunderttausende später u. a. die Herstellung der Mikrolithe (kleine, durch Feuer glasierte Steinklingen) (MAREAN 2016), von Tongefäßen, Kupfer, Bronze und die Verhüttung von Eisenerzen möglich machte. Dass diese Technologien ihren Ursprung, ihren »Lernort«, am Lagerfeuer hatten, ist uns genauso wenig bewusst wie die Tatsache, dass genau dort die Kochkunst ihren Anfang nahm.

       Hintergrundinformationen

      Man unterscheidet bei Werkzeugen natürliche und künstliche, wobei Letztere eigens hergestellt werden. So benutzen, wie betont, »Schimpansen (in der Wildnis) Steine zum Nüsseknacken, Blätter als Schwamm oder Tuch, Stöcke zum Dreschen oder als Prügel, andere Gegenstände als Waffen oder Wurfgeschosse, sie verwenden Stöckchen zum Selbstkitzeln, zum 'Angeln' von Termiten, zum Graben nach Ameisen und für vieles mehr«(ROTH 2011; S. 301). Den Werkzeuggebrauch und die Werkzeugherstellung erforschen Verhaltensbiologen u. a. auch an Tieren (z. B. Vögeln) und an verschiedenen Affenarten. Erlernt werden neue Verhaltensweisen allein durch Beobachten von Aktionen der Artgenossen. Uneins sind die Forscher, ob es sich dabei um die für Menschen typische echte Imitation handelt oder das Interesse am Tun des anderen als reine Reizverstärkung, Reaktionsbahnung bereits angelegter Strukturen handelt oder aber als bloßes Nacheifern oder »Nachäffen« (Emulation) interpretiert werden muss. Entscheidend für die Aneignung dieser gesehenen Handlungen ist der eigene Erfolg (die Belohnung).Dieses Lernen (durch Tun) wird als operative Konditionierung bezeichnet und ist typisch für eng zusammenlebende Gruppen, wie z. B. der Menschenaffen (ROTH 2011; S. 298 ff.).

      Für diesen Feuereinsatz zur Rohstoffbearbeitung bedurfte es nicht nur technischer Fertigkeiten. Er setzte die kognitive Fähigkeit voraus, zwei in zeitlichem Zusammenhang stehende Vorgänge als eine Ursache-Wirkung-Beziehung zu erkennen: die der Feuerwirkung (in Dauer und Intensität) und die damit einhergehenden variablen sensorischen Effekte. Insofern belegt der gezielte Einsatz von Feuer als »energetisches Werkzeug« eine Denkleistung, die die sensorische Veränderbarkeit der Nahrung als »Möglichkeit« bereits 'kennt'. Im Gegarten (dem Ergebnis einer »Teamleistung« aus Sensorik und Verstand) wird das vom Organismus 'Gewollte' schmeckbar. Als wesentlicher Antrieb und Impulsgeber dieser Gartechnik muss der (sich zunehmend differenzierende) Geschmackssinn angenommen werden – ein Produkt auch epigenetischer Faktoren (SKINNER 2015). Aromen und Molekülkomponenten haben physiologische und hormonelle Systementwicklungen begünstigt, die unsere heutigen Geschmacksempfindungen begründen.

      4.4.1 Feuer und Lernfähigkeit

      Die Wirkung des Feuers auf Rohstoffe erkennen die Sinne entweder als Vor- oder Nachteil. Diese sensorischen Werte stehen mit den äußeren Bedingungen (Flammen, Glut) in einem optischen, zeitlichen und räumlichen Zusammenhang und erfüllen damit die Voraussetzungen einer Kontextkonditionierung. Der Organismus erlernt den Zusammenhang »bestimmter Reize bzw. Ereignisse in einer ganz bestimmten Umgebung oder ganz bestimmten Verhältnissen, einem Kontext« (ROTH 2011, S. 3). Dieser Zusammenhang wird zum Gedächtnisinhalt, der untrennbar mit der Erwartung – hier: schmackhaftes Essen – gekoppelt (assoziiert) ist.

       Hintergrundinformation

      Lebewesen reagieren auf ihre Umwelt nicht nur reflexartig und instinktgesteuert, sondern sie sind auch lernfähig, haben ein Gedächtnis und sind ab einer bestimmten Gehirngröße auch zu kognitiven Leistungen fähig. Zu den biologisch elementarsten erfahrungsbedingten Verhaltensanpassungen zählen die Habituation (eine Reaktionsabnahme auf einen Reiz, wenn sich dieser in der Wiederholung als harmlos erweist) und die Sensitivierung, bei der sich die anfänglich schwache Reizantwort verstärkt, sobald sich nicht erwartete negative oder positive (!) Konsequenzen einstellen. Beide Reaktionen sind ausschließlich Bewertungen durch das Nervensystem, die weitgehend autonom ablaufen. Lebewesen, die über ein Säugerhirn verfügen – also auch der Mensch – speichern und erinnern Ereignisse in der Regel kontextgebunden. Die Gedächtnisinhalte stehen mit besonderen zeitlichen und räumlichen Bedingungen in Zusammenhang (sind damit assoziiert). Physiologische Reaktionen sind an erwartete Zustände gekoppelt und können bereits auf kleinste Anzeichen »im Voraus« ausgelöst werden. Diese Körperreaktion (Stimulus-Response) bezeichnet die behavioristische Lernpsychologie dann als konditioniert, wenn zwei Reize in einem Kontext 'zeitnah' auftreten (z. B. zuerst ein Glockenton, dann Futtererhalt – wie der Physiologe Iwan Pawlow an Hunden zeigen konnte, die schließlich bereits bei dem Glockenton Speichelfluss bekamen). Auf das Essen bezogen lässt uns ein optischer oder olfaktorischer Reiz (z. B. gebräunt, Röstaroma) Schmackhaftes erwarten – wir bekommen Appetit.

      Geschmackliche Eindrücke haben erst dann eine Bedeutung für den Organismus, wenn er ihre Vor- oder Nachteile erkennen kann, d. h., über Erkennungsstrukturen verfügt, in denen diese Merkmale bereits 'angelegt' sind (eigentlich: »wiedererkannt« werden). So lassen beispielsweise bittere oder stark saure Empfindungen nichts Gutes ahnen. Nicht nur Homo erectus verfügte über ein sensorisches »Gedächtnis« (und daran gekoppelte Emotionen), mit dem er den »Wert« eines Bissen rasch beurteilen konnte.151 Alle höheren Lebewesen haben ein solches vegetatives Kontrollsystem. So verfügt der Mensch über verschiedene Geschmacksrezeptoren (davon allein über 25 Bitterrezeptorarten) – nicht nur auf der Zunge, sondern auch im gesamten Organismus unterschiedlich verteilt. Welche Doppelfunktionen insbesondere die Bitterrezeptoren auch beim Abwehren von Giften und Bakterien haben, ist Gegenstand aktueller Forschung und zeigt die biologische Verflechtung von Geschmack und Gesundheit (LEE; COHEN 2016).152

      4.4.2 Viele Tiere mögen hitzedenaturierte Nahrung

      Nahrungsaufnahme ist die elementarste Handlung (und entwicklungsgeschichtlich älter als der Sexualtrieb), die der Organismus kraft Evolution weitgehend autonom steuert und überwacht. Im Rahmen von Tierexperimenten, bei denen Schimpansen, Bonobos, Gorillas und Orang-Utans zwischen rohen und gegarten Speisen wählen konnten, entschieden sich alle (!) für die leichter verdaulichen (gegarten) Karotten, Kartoffeln, Fleischstücke und Äpfel (nachdem sie vorab diese Speisen kurz probieren durften, um Neophobie zu vermeiden (MUTH; POLLMER 2010; S. 53). Selbst Schimpansen, die vorher nie gekochtes Fleisch gegessen hatten, in der freien Wildbahn aber gerne Buschbabys, Artgenossen (und auch Menschenbabys) mit Genuss fressen, wählten sofort die gegarte Version. Die Forscher begründeten dieses Futterwahlergebnis mit der weicheren Textur, was sich auch mit der Präferenz von gemahlener und zerdrückter Nahrung deckt (MUTH; POLLMER 2010).

      Die Weichheit, ein haptisches Merkmal des Kauwiderstands, ist für die Nahrungswahl bedeutsam, da zeit- und energieaufwändiges Kauen geringer sind (u. a. verbringen Berggorillas 60 bis 70 % ihrer aktiven Tageszeit mit der Nahrungsaufnahme (HESS 1989; S. 75). In der weichen Textur einer Nahrung liegen aber noch weitere 'sensorische Informationen' für den Organismus, die u. a. die Resorptionsgeschwindigkeit betreffen (LOGUE 1995). Der tatsächliche Nahrungsnutzen (stets ein Summenwert) kann offenbar bereits durch ein einzelnes her-vortretendes Merkmal »erkannt« werden, an das oft weitere metabolische Vorteile gekoppelt sind (z. B. raschere Bioverfügbarkeit, geringere Keimbelastung, giftarm). Je vorteilhafter der Gesamtnutzen ist, desto attraktiver ist das Geschmackserlebnis. Über diese endogen ablaufenden Kontrollen der Nahrungsqualität verfügen nicht nur unsere genetisch engsten Verwandten, sondern alle Lebewesen, die ihre Nahrung selektiv wählen.

      In Regionen, wo Steppen- und Buschbrände regelmäßig vorkommen,153 nutzen viele Tiere die Brandgebiete zur


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