Geschmackssache oder Warum wir kochen. Günther Henzel
steuern, die für Sensibilität auf Inhaltsstoffe codieren (PFUHL; POLLMER 2013).166 Auf diese Weise kann der Organismus die Ausschüttung von spezifischen Verdauungsenzymen regulieren und die Bildung neuer Rezeptoren verstärken – um auf wertvolle Nahrung effizienter zu reagieren (durch Aktivierung spezifischer Zellwachstumsfaktoren – sogenannte Growth Factors).
Wie erklärt sich nun die zunehmende Präferenz unserer homininen Vorfahren für gegartes, geröstetes Fleisch? Es war weicher und besser kaubar als rohes Muskelgewebe und hatte ein signifikantes Röstaroma. Diese Merkmale sind als sinnliche Einheit in den neuronalen Bereichen für Nahrungsmerkmale und -bewertung (besonders im Limbischen System) »verankert«. Deshalb löste jeder Fleischbissen bei Homo erectus einen Endorphinschub aus, den auch wir bei geröstetem, aromatisch saftigem Fleisch erfahren. Diese angenehme essbegleitende Empfindung hält zudem länger an als beim Verzehr von ungeröstetem Fleisch (s. Hintergr.-Info. unten).
Hintergrundinformationen
In den gerösteten Fleischanteilen haben sich durch das Verschmelzen von Eiweiß und Fleischzucker bei der oben erwähnten Maillard-Reaktion nicht nur Melanoidine gebildet, sondern auch Stoffe, die die Chemiker Alkaloide nennen. Hierbei handelt es sich um einfache Indol-Alkaloide,167 die als β-Carboline168 bezeichnet werden und sich u. a. in der braunen Kruste befinden und opioid wirken (sie docken nach dem Verzehr an die Opiatrezeptoren der Blut- und Hirngefäße). Auch sorgen sie dafür, dass diese Hochstimmung nach dem Essen länger anhält, denn sie blockieren Enzyme (u.a. Monoaminooxidasen, MAOs), die unsere Hormone und Endorphine abbauen, die den wohligen Zustand bewirken (KLEIN 2009). Deshalb hält der Wohlfühlzustand länger an, sobald sich im Blut Stoffe befinden, die die Aktivitäten der MAOs ausbremsen. Genau das leisten β-Carboline, denn sie wirken nicht nur opioid, sondern sind auch potente MAO-Hemmer [POLLMER (Hg.) 2010].169 Schließlich wirken auch Komponenten des Muskeleiweißes selbst stimmungshebend, weil sie sogenannte Exorphine (Hämorphine) enthalten.
4.6 Feuerwirkung auf pflanzliche Bestandteile
Auch pflanzliches Gewebe wird durch Hitzewirkung molekular verändert, wodurch sich nicht nur die Aufnahme ihrer Nährstoffe deutlich verbessert, sondern auch große Anteile ihrer Abwehrgifte (Antinutritiva) zerstört werden. Zwischen den früheren Wildformen, die zur Zeit der Hominini wuchsen (von denen nur einige wenige in Kultur genommen worden sind) und den heutigen Kulturpflanzen bestehen in Bezug auf Gift-, Faserstoff- und Nährwertgehalte erhebliche Unterschiede. Viele Gemüsesorten können wir – dank genetischer Veränderungen (Züchtung) – inzwischen problemlos auch roh verzehren. Wer zu Zeiten von Homo erectus noch große Mengen roher Pflanzen, Knollen und Früchte auf dem Speiseplan hatte, musste über ein entsprechendes Darmsystem (und über Entgiftungsenzyme) verfügen und war in der Regel viele Stunden des Tages mit Suchen, Fressen und Verdauen beschäftigt. Für den modernen Menschen wäre der Rohkostplan unserer frühen Artgenossen nahezu ungenießbar (wie Selbstversuche von WRANGHAM 2009 gezeigt haben). Nicht nur weil uns u. a. Zellulasen und entsprechende Entgiftungssysteme fehlen, sondern weil unser Organismus inzwischen auf gekochte Nahrung angewiesen ist (unser Dünndarm ist auf Gekochtes bestens vorbereitet – deshalb ist er auch wesentlich länger als der Dickdarm. Letzterer kann mit Hilfe der Darmbiota u. a. einige Ballaststoffe zu kurzkettigen Fettsäuren (u. a. Butyrat) zerlegen und energetisch und immunologisch nutzen.
Weltweit – auch in indigenen Kulturen – werden Pflanzen nicht roh, sondern vielfältig zubereitet und gegart verzehrt. Dafür gibt es ernährungsphysiologische Gründe. Stärkereiche Knollen und Wurzeln sind für das menschliche Verdauungssystem erst dann verwertbar, wenn die Stärke verkleistert (durch Wasseraufnahme gequollen) ist. Rohe Stärke ist nahezu unverdaulich, sieht man von wenigen modernen Getreidesorten ab (z. B. Haferflocken). Da viele Pflanzentoxine hitzelabil (z. B. Linamarin, Phasin) oder wasserlöslich sind (Solanin, Chaconin) und in das Kochwasser übertreten (das meist verworfen wird), konnten Garverfahren das pflanzliche Nahrungsspektrum erweitern. Viele unserer heute genutzten Pflanzen wären eigentlich wegen ihrer Giftanteile ungenießbar.
Werden Pflanzen- bzw. Gemüseteile direktem Feuer ausgesetzt (z. B. auf einen Grill gelegt), entstehen ebenfalls Maillard-Produkte, da auch Pflanzen Eiweiße und Zuckeranteile enthalten. Allerdings sind diese im Vergleich zu Röststoffen tierischer Rohstoffe weniger aromatisch. Der Grund liegt u. a. im Mangel an bestimmten Eiweißbestandteilen (wie der Aminosäure Cystein), die in Verbindung mit Zucker (Glukose) das fleischtypische Röstaroma erzeugen.
127 Auch Gase, die im Moor durch Bakterien beim Vergären organischer Substanzen unter Luft- und Lichtabschluss entstehen, wie z. B. Methan, Schwefelwasserstoff oder Phosphorwasserstoff, können sich nach einem Gewitter entzünden. Wenn Phosphorwasserstoff an die Luft kommt, entzündet er sich von selbst und verbrennt mit einer blauen Flamme; »[auch] gab es […]permanente natürliche Feuerquellen, ähnlich der methangespeisten Feuerquelle nahe Antalya in der Südwesttürkei« (WRANGHAM 2009; S. 201; auch heiße Erdlöcher können Gräser und Zweige entflammen, wie z. B. auf der Vulkaninsel Lanzarote (durch Hitzestrahlung der alten Lava des Timanfaya-Vulkans)
128„Entlang der gerissenen Erdkruste erhoben sich zahlreiche Vulkane. Eine Serie von Erdbeben und gewaltigen Vulkanausbrüchen öffnete den Graben immer weiter. Magma schoss an die Oberfläche und bildete den Grund des Ostafrikanischen Grabenbruchs. Geysire und thermale Quellen sprudelten entlang des Grabenbruchs empor. Sie befördern noch heute kochend heißes Wasser aus dem Erdinneren nach oben“ (HEIDENFELDER 2017)
129 Die alltäglichen Meldungen über die verheerenden Verwüstungen durch Steppen-, Busch- oder Waldbrände führen uns vor Augen, welche Bedrohung und Gefahren offenes Feuer für die Lebewesen hatten und haben
130 Ein Lager ist dort, wo man liegt und sich bettet; altnord. legr 'Grabstätte', got. Ligrs 'Lager, Bett'; Ableitung zu liegen (KLUGE 1975; S. 419)
131 A. a. O., S. 194-195
132 »Wir werden wohl nie erfahren, wie das Kochen begann, da dieser Durchbruch so lange zurückliegt und wahrscheinlich innerhalb eines kleinen geografischen Gebietes sehr schnell erfolgte« (WRANGHAM 2009; S. 196)
133 Als Vormenschen gelten die Australopithecinen (Südaffen), die etwa vor 4,2 bis 1,1 Millionen Jahren lebten. Sie stehen innerhalb der Gattung Homo am Beginn; aus ihnen entwickeln sich die Vertreter der Hominini. Als Urmenschen werden die ab etwa 2,6 Millionen Jahren auftretenden Homotypen: H. rudolfensis / H. habilis und H. erectus/ H. ergaster bezeichnet (HOFFMANN 2914); (s. Abb. 1, S. 26)
134 Dazu auch Wikipedia: Hominine Fossilien von Dmanissi
135 Der Organismus verliert bei 27°C Außentemperatur (Neutraltemperatur) gerade so viel Wärme, wie der Stoffwechsel im Grundumsatz erzeugt. Dieser tropische Stoffwechsel reguliert noch heute den Energiehaushalt des modernen Menschen (REICHHOLF 2008; S. 101 und 142)
136 Homo erectus hat vor etwa 1,5 Millionen Jahren am Ufer des Baringo-Sees in der Nähe des Vulkans Karosi in Kenia Feuer gemacht, wie Werkzeuge aus Lavagestein und gebranntem Ton vermuten lassen; Feuerstellen wurden auch an der äthiopischen Grenze an der Ostseite des Turkana-Sees (Camp Koobi Fora) gefunden, also beides Orte in der Nähe aktiver Vulkane (LEAKEY; LEWIN 1980)
137 Der Wärmeverlust des Körpers mit tropischem Stoffwechsel ist bei Temperaturen unter 10°C erheblich. Der Zeitpunkt des vollständigen Haarkleidverlustes der Hominiden wird anhand evolutionsgenetischer Studien (über Hautpigmente, die vor Sonne schützen und zu dunkler Haut führten) auf mindestens 1,2 Millionen Jahre geschätzt. Schimpansen tragen unter ihrem schwarzen Fell hellrosige Haut – wie vermutlich die Vormenschen auch (insbesondere die Australopithecinen) (JABLONSKI 2010)
138 So schlafen z. B. die Ureinwohner Neuguineas nackt am Lagerfeuer, wobei sie recht nahe an der Feuerstelle liegen und deshalb von Funkenflug und Glutwirkungen erhebliche Brandverletzungen davontragen (HARRER 1988;