Geschmackssache oder Warum wir kochen. Günther Henzel
(…). In Australien wurden zahlreiche Tierarten, wie Reptilien, Vögel und Ratten beobachtet, die nach Buschbränden die Flächen gezielt nach Futter absuchen (…). Manche Vögel patrouillieren entlang der Feuerlinie auf der Suche nach versengten Insekten (…)« (MUTH; POLLMER 2010; S. 53). Die durch Feuerwirkung veränderte Nahrung ist für diese Tiere ein 'Leckerbissen', weil ihr Futtererkennungsschema – eine in zig Millionen Jahren entstandene genetisch regulierte Nahrungsorientierung – den metabolischen Vorteil dieser denaturierten Strukturen 'kennt'.
Brände gibt es auf der Erde seit Äonen und es wäre geradezu eine Nahrungsverschwendung, wenn unzähliges Kleingetier und Insekten (alles hochwertige Eiweißlieferanten) als Nahrung wegfielen, 'nur' weil sie geröstet sind. Tatsächlich verhält es sich genau andersherum, und dafür muss es Gründe geben. Die sensorische 'Information' thermisch veränderter Nahrung löst bei den meisten Lebewesen eine Art Fress-Stimulus aus (der grundsätzlich an hormonelle Reaktionen gekoppelt ist),155 und genau hierin liegt die attraktive Sonderstellung gerösteter Nahrung im sonst üblichen Spektrum begründet.
Durch die Einrichtung und Erhaltung einer dauerhaften Feuerstelle konnten jene attraktiven gegarten »Zustände«, die die Frühmenschen nach Buschbränden auf und unmittelbar unter dem Erdboden immer wieder finden konnten, nun selbst hergestellt werden. Das Warten auf ein Buschfeuer gehörte damit der Vergangenheit an.
4.5 Das Sammeln – Rohstoffe »kommen zum Feuer«
Ob die Frühmenschen Feuer gelegt haben, um u. a. Kleintiere aus ihren Verstecken zur jagen, wissen wir nicht, auszuschließen ist das aber nicht (BEHRINGER 2010).156 Im großen Afrikanischen Grabenbruch (Great Rift Valley) – der Wiege der Menschheit – gab es zu Zeiten der Hominiden vermutlich genügend heiße Erdstellen, die auf Vulkantätigkeiten zurückgingen und mit Phänomenen (geothermische Anomalien) vergleichbar sind, wie sie z. B. auf Islote de Hilario im Nationalpark Timanfaya der Kanarischen Insel Lanzarote vorkommen. Dort reicht die vom Erdinneren austretende Hitze aus, hineingeworfenes Gestrüpp sofort zu entflammen.157 Von einer solchen »Feuerquelle« ließen sich glimmende Zweige abtransportieren und an anderen Stellen Brände entfachen. Da aber große Brände schnell Teile des Habitats zerstört hätten, mussten die gelegten Feuer eingegrenzt bleiben.158 Dadurch waren sie zu unergiebig, um ausreichend geflüchtetes Getier und geröstete Leckerbissen zu finden. Die Lösung lag in der Umkehrung: Nicht mehr das Feuer kam zu den Tieren und Pflanzen, sondern diese wurden (als Sammelgut) zum Feuer gebracht.
Sammeln wurde zu einer Erkundungsleistung, bei der das Gesammelte (z. B. Kleintiere, Raupen, Knollen, Wurzeln, Körner, Nüsse) als »zum Garen geeignet« bekannt sein musste. Diese im rohen Zustand z. T. kaum genießbaren Rohstoffe waren dennoch »Nahrungsschätze«, da deren gegarte Qualität hohen Genuss verhieß. Vermutlich hatte dieser sensorische Hintergrund die »Sammlerkultur« regelrecht befördert. Warum sollte man sonst Rohstoffe aller Art erst mühevoll zu einer Feuerstelle tragen, wenn damit keine Vorteile verbunden waren?
4.5.1 Die Energiewirkung des Feuers mindert Verdauungsarbeit
Nach Berechnungen von WRANGHAM (2009) beträgt bei gegarter Nahrung die Energieeinsparung etwa 23,4 % (es wird weniger ATP verbraucht).159 Auch sind die Dauer der Aufnahme und die Resorptionszeit der Inhaltsstoffe kürzer. Unser Appetit auf gegartes, geröstetes Fleisch wird über endogene Prozesse gesteuert, die mit den Inhaltskomponenten und der Verdaulichkeit in Verbindung stehen (LÖFFLER; PETRIDES 1988). Obwohl die Ur- und Frühmenschen überwiegend Fleisch roh aßen (selbst Schimpansen fressen, wie erwähnt, gelegentlich Artgenossen und Buschbabys), entwickelte sich zunehmend ihr Appetit auch auf Gegartes.160
Hintergrundinformationen
Wenn wir Fleisch essen, nehmen wir mit jedem Happen große Mengen Biomoleküle auf, deren molekulare Zusammensetzung und chemische Bindungsstrukturen Zerlegungsarbeit im Magen-Darm-System erfordern, bevor diese resorbiert werden können. Äße man rohes Fleisch (was Schimpansen in freier Wildbahn gelegentlich tun), müsste der Organismus alle notwendigen molekularen Abbauprozesse mit seinen 'physiologischen Bordmitteln' alleine leisten. Nach mühsamem Zerkauen folgt die Eiweißquellung mittels Magensalzsäure und Pepsin und eine enzymatische Spaltung der Großmoleküle (durch Peptidasen). Schließlich müssen die langen Peptidbindungen im Dünndarm in kurzkettige Peptide oder einzelne Aminosäuren (durch Endo- und Exopeptidasen) zerlegt werden. Erst so ist das vormalige Muskelgewebe resorbier- und nutzbar. Diese hydrolytischen Spaltungen – vom Kompaktmolekül bis zu den kleinsten Eiweißbausteinen (den Aminosäuren) – verbrauchen Zeit und Energie, die der Körper in Form von ATP (Adenosintriphosphat) aufbringen muss.
Die Wirkung von Flammen/Glut auf hitzelabile organische Substanzen lässt sich (am Beispiel von Fleisch) von außen gut verfolgen: Zuerst verdampfen Wasseranteile der Randflächen (mit Zisch- und Platzgeräuschen) und die Innentemperatur steigt. Dadurch nimmt das Zellvolumen zunächst zu (thermische Expansion), Zellwandbestandteile lockern sich, werden durchlässig und quellen. Die inzwischen 'wasserfreien' (über 100° C heißen) Außenflächen bräunen durch die sog. Maillard-Reaktion (bei der Eiweiß-Fleisch-Zucker-Verbindungen entstehen (dazu Hintergr.-Info. S. 89 f. unten und Abschn. 11.4, S. 183 f.). Flüchtige fleischtypische Röstaromen (bei Pflanzen entweichen ätherische Öle) lassen die Dauer und Intensität des Garvorgangs auch olfaktorisch erkennen. Schließlich hat sich außen eine braune Kruste gebildet, die auf den inneren Garzustand hinweist (hinweisen kann). Weil bei Garvorgängen die Moleküle ihre natürliche Struktur verlieren, bezeichnet man das als Denaturierung (denaturieren = den natürlichen Zustand wegnehmen).
Der Appetit ist eine vorgeschaltete physiologische Reaktion auf erwartete Inhaltsstoffe, die Genuss versprechen und in der Regel auch gut verdaut werden können. Deshalb sucht jedes Lebewesen in seinem Umfeld die Nahrung, die ihm am besten bekommt und ihm den größten Nutzen bringt (das oben erwähnte Optimal foraging, die »optimale Futtersuche«).161 Alle Lebewesen sind mit vielfältigen Sensoren ausgestattet, um die für ihren Organismus geeignete Nahrung zu finden. Bei Säugern, also auch beim Menschen, beginnt das »Training von Gaumen und Stoffwechsel« bereits im Mutterleib: »Während das Fruchtwasser Geschmacksstoffe aus der Nahrung aufnimmt (Anm. d. Verf. – die so auf die Zunge des Fötus gelangen), liefert das mütterliche Blut die Nährstoffe aus der Nahrung und 'informiert' mittels hormoneller Signale über die Wirkungen. Später transportiert die Muttermilch einen Teil der sensorischen Botschaften der vorher verzehrten Speisen. Nach dem Stillen übt der Geschmack der ersten Nahrung eine prägende Wirkung aus« (POLLMER 2003; S. 14). Auf diese Weise kann der Stoffwechsel prüfen, »welche Substanzen in der Nahrung enthalten sind, um angesichts der Verfügbarkeit und Veranlagung den Stoffwechsel optimal einzustellen« (ebenda).
4.5.2 Gefühlsbegleitende Effekte bei der Nahrungsaufnahme
Beim Menschen steuern, prüfen und bewerten zunächst die Kopfsinne jeden Bissen (cephale Steuerung), den wir aufnehmen (wollen). Danach wird die aufgenommene Nahrung von unserem evolutionsbiologisch ältesten Nervensystem kontrolliert, das unsere Darmwände mit einem dichten Nervengeflecht ummantelt und salopp als Darmhirn bezeichnet wird.162 Dieses Nervensystem wird von Rezeptoren der Darmwand informiert, die an der Innenseite (dem Lumen) liegen. Sie funktionieren wie Riech- und Geschmackssinneszellen und »schmecken« nicht nur Nährstoffe, sondern reagieren auch auf Komponenten, die unseren Gefühlszustand beim Essen beeinflussen: die Opioidrezeptoren. Solche Rezeptoren befinden sich nicht nur in unserem zentralen Nervensystem und den Blutgefäßen, sondern eben auch in der Darmwand. Hier können sogenannte Exorphine andocken, die in jedem Nahrungsgemisch unterschiedlich konzentriert vorkommen.163
Hintergrundinformationen
Das Besondere dieser Rezeptoren ist ihre Wandelbarkeit (Adaptationsfähigkeit). Ihre Empfindlichkeit für spezifische Nahrungsmoleküle ändert sich ständig (POLLMER et al. 2008/2009),164 (BERG et al. 2003). Das geschieht auch durch An- oder Abschalten von Genen (Aspekte der Epigenetik),165 die diese Rezeptoren regulieren und entsprechend auf gute oder ungünstige Komponenten