Die Rache des Waschbären. Christian Macharski

Die Rache des Waschbären - Christian Macharski


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und abgekämpft betrat Hastenraths Will das Wohnzimmer. Es lag ein langer Tag auf dem Hof hinter ihm, der mit dem Melken der Kühe um halb sechs begonnen und vor wenigen Minuten mit dem Melken der Kühe auch wieder aufgehört hatte. Nun freute er sich auf seinen Fernsehsessel mit der automatischen Kippfunktion und den breiten Armlehnen, die ihn in wenigen Sekunden in Empfang nehmen und ungefähr bis zu den Tagesthemen liebevoll umschließen würden. Wie er diesen Moment liebte! Bevor er seine Gummistiefel abstreifte, um seine Füße auf dem gepolsterten Hocker abzulegen, stellte er sich noch ein Weinbrandglas und eine zu drei viertel gefüllte Flasche Dujardin auf dem Wohnzimmertisch zurecht. Daneben lagen ordentlich die aktuelle Ausgabe der Prisma und die Fernbedienung, deren Funktionstüchtigkeit er in letzter Zeit des Öfteren mit einem leichten Schlag auf die Tischkante hatte wiederherstellen müssen. Er zog die Stiefel aus und ließ sich gemütlich in seinen Ohrensessel sinken – nur, um eine Sekunde später wieder hochzuschrecken, weil die ohrenbetäubende Türklingel loskreischte und mit ihr Attila im Hof. Will fuhr mit seiner rechten Hand über sein Herz und musste zweimal schnell durchatmen. „Verdammte Klingel“, entfuhr es ihm. Nachdem er sich wieder gesammelt hatte, brüllte er mit lauter Stimme durchs Haus: „Marlene, geh mal nach die Tür. Es hat geklingelt.“ Ihre Antwort kam prompt, aber sehr gedämpft aus dem oberen Stockwerk. „Ich bin noch im Badezimmer. Geh du mal.“

      Will verzog das Gesicht und erhob sich schwerfällig aus seinem Sessel. Noch bevor er den Flur erreicht hatte, jaulte die Klingel ein zweites Mal los. Entnervt riss er die Tür auf. „Wer zum Teufel …?“

      „Ich!“, antwortete Michael, „dein Lieblingsschwiegersohn.“ Der junge Mann grinste breit. Es gab Zeiten, dachte Will, da hätte der sich so einen vorlauten Satz bei mir nicht erlaubt. Aber mittlerweile mochte selbst er den freundlichen Computerfachmann, und sogar den Begriff Lieblingsschwiegersohn konnte er nach anfänglicher Skepsis inzwischen durchgehen lassen, auch wenn das nicht besonders schwer war. Schließlich hatte er nur eine Tochter – Sabine. Die wiederum winkte ihm vom Auto aus zu. Sie hatte das Fenster des schwarzen Audi A6 an der Beifahrerseite heruntergefahren und rief: „Hallo Papa, danke, dass du heute Abend da hingehst.“ Auch die Scheibe am Rücksitz war heruntergelassen und Wills Enkelkinder Kevin-Marcel und Justin-Dustin hingen in halsbrecherischer Weise übereinander aus dem Fenster. Während sie sich gegenseitig nach unten zu drücken versuchten, riefen sie ausgelassen: „Oppa ist eine Flitzpiepe.“

      Will war überfordert. „Was ist denn? Wie … wo soll ich heute Abend hingehen?“, stammelte er.

      In diesem Augenblick tauchte hinter ihm im Flur Marlene auf. Sie hatte sich in ein lindgrünes, trotz Übergröße hautenges Kleid gequält und wurde von einer aufdringlichen Fahne Tosca begleitet, als sie sich an Will vorbeizwängte. Kopfschüttelnd sah sie an ihm herunter und sagte: „Willst du dir nicht was anderes anziehen, wenn du gleich da hingehst? Zieh dir auf jeden Fall vernünftige Schuhe an. Und ein bisschen Febreze auf das Hemd könnte auch nicht schaden.“

      „Moment mal“, Will stampfte mit dem Fuß auf, „was ist hier eigentlich los? Wo fahrt ihr alle hin? Und – vor allen Dingen – wo soll ich hin? Ich hab doch überhaupt keine Zeit. Ich muss mich noch physisch und mental auf meine Grabrede morgen früh vorbereiten.“

      Marlene stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihren Mann böse an: „Mein lieber Wilhelm Hastenrath. Bald reicht es mir mit dir. Ich habe dir schon drei Mal gesagt, was heute ist. Das letzte Mal heute morgen beim Frühstück. Würdest du doch nur einmal zuhören, wenn ich was sage!“

      „Wie jetzt? Ich … äh“, stotterte Will, kam aber nicht weiter, weil Marlene noch einen Gang höher schaltete. „Du gehst jetzt gleich zum Elternabend in die Grundschule. Für wegen das neue Schuljahr.“

      Will war entsetzt. Sofort schossen ihm die Bilder seines Fernsehsessels und der Flasche Dujardin durch den Kopf. „Aber, wieso …? Ich? Ich war doch seit Jahren nicht da. Das machen doch immer Michael und Sabine. Oder du.“

      Marlene verdrehte wütend die Augen und formte ihre rechte Hand zur Faust. Um das Schlimmste zu verhindern, fasste Michael ihr beruhigend an den Arm und schob sie sanft hinter sich. Betont ruhig übernahm er das Gespräch. „Will, die Marlene hat doch heute ihr Quartalsessen im Spanferkelhaus. Wo die katholischen Strickfrauen immer ihre Diäterfolge feiern.“

      Will nickte schwach und fragte mit kaum überhörbarer Verzweiflung in der Stimme: „Und ihr? Was macht ihr?“

      Michael zeigte zum Auto. „Wir müssen mit Kevin-Marcel und Justin-Dustin nach Geilenkirchen zum Kinderpsychologen. Wegen der Untersuchung. Heute ist doch der einzige Termin, den wir bekommen konnten.“

      Langsam kehrte bei Will die Erinnerung zurück. Die Sache mit dem Kinderpsychologen hatte in den letzten Wochen für viele kontroverse Diskussionen im Hause Hastenrath gesorgt. Während Michael, Sabine und Marlene der Meinung waren, dass Kevin-Marcel und Justin-Dustin möglicherweise an einem Aufmerksamkeitsdefizitproblem leiden würden, war Will der Überzeugung, dass sie einfach nur etwas lebhaft und vor allem sehr aufgeweckt seien. In dem Alter müsse auch schon mal was kaputtgehen, fand Will. Auch wenn er natürlich nicht alle Aktionen seiner Enkel guthieß. So zum Beispiel die, als sie vor einiger Zeit Attila eine Kordel mit zehn leeren Coladosen am Schwanz festgeknotet hatten. Am Ende musste der Tierarzt den tobenden Hofhund mit einer Betäubungspistole außer Gefecht setzen, bevor man die Kordel wieder entfernen konnte. Aber so sind Kinder halt, argumentierte Will dann immer. Meist stand er mit seiner Meinung jedoch auf verlorenem Posten. Und so verzichtete er diesmal darauf, die Diskussion erneut anzustoßen. Er hatte irgendwie das Gefühl, dass gerade nicht der richtige Moment war. Und so sagte er: „Na klar. Elternabend. Natürlich habe ich dadran gedacht.“

      Marlene ging einen Schritt auf ihn zu und zischte mit beschwörender Stimme: „Und wehe, es gibt wieder Ärger wegen irgendwas. Setz dich einfach da hin, hör zu und halt vor allen Dingen die Klappe. Nicht wie sonst immer.“

      Will nickte, während Marlene sich umdrehte und zum Wagen ging. Michael blieb noch einen Moment stehen und kramte in seiner Jackentasche. „Mach dir nix draus, Will“, sagte er. „Frauen reagieren schon mal ein bisschen empfindlich. Hier, ich hab was für dich.“ Er zog ein Plastikdöschen mit Visitenkarten hervor und hielt es Will hin. Auf dem Deckel klebte ein Musterexemplar mit der Aufschrift: „Hastenraths Will – Landwirt, Ortsvorsteher und Hobbykriminologe“. Darunter stand eine Handynummer. Seine Handynummer. Denn seit Kurzem war er stolzer Besitzer seines ersten eigenen Handys, das Michael ihm besorgt hatte. Will nahm die Visitenkarten und strahlte voller Stolz. „Danke, mein Lieblingsschwiegersohn.“

      Will betrat mit zehn Minuten Verspätung das Klassenzimmer der 4a. Alle anderen sahen sich um, als er die Tür leise hinter sich ins Schloss fallen ließ. Das Quietschen seiner Gummistiefel auf dem Linoleumboden hatte ihn verraten. Während er sich in der hinteren Reihe einen Platz suchte, wendeten sich alle Köpfe wieder nach vorne und beobachten Schulrektor Peter Haselheim, der leise fluchend damit beschäftigt war, den Overheadprojektor auf dem Lehrerpult in Gang zu setzen. So ganz wollte es ihm offensichtlich nicht gelingen, denn an seinem Hals hatten sich bereits hektische Flecken gebildet. Ohne aufzusehen, sagte er: „Ah, unser Ortsvorsteher, der Herr Hastenrath, gibt sich persönlich die Ehre. Das freut mich.“ Er richtete sich auf und lächelte Will an. An die anderen gewandt, ergänzte er: „Das ist der Mann, der immer mit vollem Engagement auf politischer Ebene für den Erhalt unserer kleinen Grundschule kämpft. Bis jetzt mit großem Erfolg.“ Im Raum setzte ein anerkennendes Murmeln ein, vereinzelt wurde sogar auf die Tischplatten geklopft. Will sah sich um und nickte den Leuten, die sich umgedreht hatten, staatsmännisch zu. Erstaunt stellte er fest, dass er fast niemanden kannte. Lediglich die Tochter seines Schützenkameraden Schlömer Karl-Heinz konnte er zuordnen. Beim Rest ging er davon aus, dass es sich um junge Ehepaare aus dem Neubaugebiet handelte, deren Anzahl ständig wuchs – sehr zum Ärger der alteingesessenen Einwohner, die die alte Infrastruktur bedroht sahen. Dass es sich um Zugezogene handeln musste, erkannte Will schon daran, dass meist beide Elternteile erschienen waren. Das wäre früher undenkbar gewesen. Elternabende waren seit jeher Frauensache gewesen. Aber das begann schon sich zu ändern, als der junge Peter Haselheim im Jahr 2000 die Rektorschaft übernommen hatte. Damals hatte er den strengen, aber hoch angesehenen Direktor Franz-Josef Offermanns abgelöst, der aus Altersgründen in den


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