Die Rache des Waschbären. Christian Macharski

Die Rache des Waschbären - Christian Macharski


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Auch Will war noch unter ihm zur Schule gegangen. Franz-Josef Offermanns galt zeitlebens als glühender Verfechter einer sehr autoritären Erziehung. Will konnte sich daran erinnern, dass er etliche Schulstunden von der Zimmerecke aus im Stehen verfolgen musste – mit einer Eselsmütze aus Pappe auf dem Kopf. Auf diese Weise bekam er aber zumindest mehr vom Stoff mit als die vielen Male, die er draußen vor der Tür verbringen musste. Natürlich mit heruntergedrückter Türklinke, damit er nicht weggehen konnte. Das war aber alles immer noch besser gewesen, als die körperlichen Züchtigungen, die eigentlich Offermanns’ Spezialgebiet waren. Nicht umsonst trug er stets einen schweren Ledergürtel. Schläge gab es aber nicht etwa, wenn die Hausaufgaben nicht gemacht waren, denn das traute sich ohnehin niemand. Schläge gab es in der Regel schon, wenn die Schönschrift nicht schön genug war. Na ja, so gesehen, haben die Schüler von heute es schon besser, dachte Will. Aber geschadet hat es mir ja auch nicht. Aus mir ist ja euch ein erfolgreicher Landwirt und charismatischer Ortsvorsteher geworden.

      Will wurde aus seinen Gedanken an die gute, alte Zeit gerissen, als Peter Haselheim lautstark vor der Technik kapitulierte. „Ach, so ein Mist. Diese alten Overheadprojektoren. Dass wir die überhaupt noch einsetzen im Computerzeitalter. Darüber sollten wir auf jeden Fall noch mal mit dem Förderverein sprechen.“ Zustimmendes Gemurmel im Raum. Eine Frau mit halblangem, brünettem Haar, die allein in der ersten Reihe saß, sprang auf und trat neben Haselheim. „Ich kann gerne versuchen, Ihnen zu helfen“, sagte sie. Will schätzte die Frau auf Mitte, Ende dreißig. Sie war hübsch, wenn auch nicht unbedingt im klassischen Sinne. Vielleicht ein paar Kilo zu viel, aber dennoch gut verteilt auf einem wohlproportionierten Körper. Ihre Kleidung war sportlich-modern und ihre Ausstrahlung enorm. Mit ihrem offenen Lächeln nahm sie auf der Stelle die Leute im Klassenzimmer für sich ein. Mit anderen Worten: Sie gefiel Will nicht. Außerdem hatte er sie noch nie in Saffelen gesehen. Und er sollte recht behalten. Haselheim nutzte die Gelegenheit, die Dame vorzustellen. „Oh, ach ja. Danke. Ja, liebe Eltern“, begann er, während die junge Frau sich an dem Overheadprojektor zu schaffen machte, „das ist Frau Bettina Hebbel, unsere neue Kollegin. Sie wird ab nächster Woche die 4a übernehmen und damit die Nachfolgerin von Herrn Rehbein, der sich ja, wie die meisten wissen dürften, bereits seit einigen Monaten in … ja, wie soll ich sagen, in … sich also erfolgreich in den Burn-out verabschiedet hat.“ Haselheim biss sich auf die Lippe. Ihm wurde gerade bewusst, wie unglücklich er sich ausgedrückt hatte. Zum Glück rettete ihn das grelle Licht, das plötzlich der Overheadprojektor auf die Tafel warf. „Voilá! Er läuft wieder“, sagte Frau Hebbel, während sie sich zufrieden die Hände rieb.

      „Ja, was für ein hervorragender Einstand“, scherzte Haselheim mit spürbarer Erleichterung darüber, dass sein kleiner Fauxpas dadurch in den Hintergrund geriet.

      Will hatte zwar mitbekommen, dass Herr Rehbein offenbar schon länger nicht mehr unterrichtete, weil er gerne mal in Kur war, aber dass er überhaupt nicht mehr wiederkommen würde, überraschte ihn jetzt doch. Dabei war Will so froh gewesen, dass Herr Rehbein der Lehrer seines Enkelkindes Justin-Dustin gewesen war, weil er als Letzter an der Saffelener Grundschule noch zu der goldenen Lehrergeneration gehört hatte. Jener Generation, für die Strenge und Disziplin keine Fremdwörter waren. Man musste es ja nicht übertreiben wie Herr Offermanns, aber zu viel Kuschelpädagogik tat den Kindern nach Wills Meinung auch nicht gut. Das alles führte doch nur zur Verweichlichung der Jugend. Will konnte diesem ganzen Psychogequatsche nicht viel abgewinnen. Es begann sogar, ihn regelrecht zu nerven. Deshalb meldete er sich zu Wort.

      Haselheim legte gerade die erste Folie auf, als er aus dem Augenwinkel das Handzeichen sah. „Ja bitte?“, sagte er und wandte sich gleichzeitig an seine neue Kollegin, die assistierend neben ihm stand. „Das ist, wie gesagt, der Herr Hastenrath, unser Ortsvorsteher. Sein Enkel geht in die 4a.“ Dann nickte er Will lächelnd zu.

      Der Landwirt erhob sich und alle Augen richteten sich erwartungsvoll auf ihn. Das war seine Welt. Hier, wo bedeutungsschwangere Worte gefragt waren, wo Politik und Diplomatie die Herzen der Menschen öffnen konnten, da fühlte er sich zu Hause, da war er in seinem Element. Mit großer Geste steckte er eine Hand in die Tasche seines verwitterten grünen Parkas, so wie er das mal bei Gerhard Schröder gesehen hatte. Sekundenlang ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen. Will beherrschte die hohe Kunst der Stehgreifrede wie kaum ein anderer in Saffelen. Diesmal wollte er nichts dem Zufall überlassen. Er war bereit, seine gefährlichste Waffe einzusetzen. Nämlich den berüchtigten Hastenrathschen Stufenplan, mit dem er noch in jeder Dorfversammlung eindrucksvoll seine Ziele durchgesetzt hatte. Die alteingesessenen Saffelener klebten dabei regelmäßig an seinen Lippen. Wieso sollte es hier anders sein? Seine Ansprache begann Will traditionell mit Stufe 1, dem Lob: „Mein lieber Herr Haselheim, oder – Peter – wie ich ja für dich sagen darf. Zunächst einmal muss ich dir sagen, dass dir dieser unmoderne Pullunder sehr gut steht und dass ich kaum jemanden kenne, der mit eine herausgewachsene Frisur noch so passabel aussieht wie du, aber …“, Stufe 2 – Scheinangriff, „das kann natürlich nicht über die unselige Schulfest-Affäre hinwegtäuschen, in die du verwickelt bist. Ich gehe zwar davon aus, dass der Untersuchungsausschuss, dem ich zusammen mit Schlömer Karl-Heinz leite, zu dem Ergebnis kommt, dass die zehn Euro wohl einfach bloß falsch herausgegeben worden waren an der Kuchentheke. Dennoch …“, Stufe 3 – Untergrabung, „hat dadrunter natürlich deine Führungsqualität und vielleicht auch ein wenig deine Intrigität, oder wie das heißt, gelitten. Aber …“, Stufe 4 – angetäuschter Schulterschluss, „für dich in dieser schweren Zeit zu unterstützen, sind Freunde wie ich ja da. Und deshalb …“, Stufe 5 – Todesstoß, „denke ich, sollten wir alle erst mal in Ruhe dadrüber nachdenken, ob es richtig ist, einen der letzten noch verbliebenen brauchbaren Lehrer durch einen vorlauten, unreifen Backfisch – das richtet sich jetzt nicht persönlich gegen Sie, Frau Hempel – zu ersetzen. Deshalb ….“ Als Will gerade zu Stufe 6, dem fulminanten Schlussplädoyer, ansetzen wollte, schien irgendetwas schiefzulaufen. Statt langsam anschwellenden Applauses erhob sich nämlich plötzlich Unruhe unter den Anwesenden. Wills Rede wurde von lauten Buh-Rufen und grellen Pfiffen unterbrochen und aus einer Ecke flog ihm sogar ein Radiergummi ins Gesicht. Offenbar hatte er die Zugezogenen rhetorisch nicht ganz auf seine Seite ziehen können – warum auch immer. Peter Haselheim ruderte hilflos mit den Armen und versuchte, die Elternschaft zu beruhigen. Doch seine dünne Stimme verlor sich in dem tumultartigen Lärm, aus dem man Satzfetzen wie „reaktionärer Sack“ oder „Halt’s Maul“ heraushörte. Haselheim musste sogar einen Zwei-Meter-Mann davon abhalten, auf Will loszugehen. Doch dann sorgte ein energisches und lautes „Jetzt reicht’s aber!“ schlagartig für Ruhe. Es war allerdings nicht Haselheim, der diesen Satz rief, sondern Frau Hebbel. Alle sahen erschrocken nach vorne. Die junge Frau setzte ein freundliches Lächeln auf und sagte mit wieder deutlich sanfterer Stimme: „Meine Damen und Herren, lassen Sie uns doch alle wieder beruhigen. Ich kann verstehen, dass schon mal Emotionen hochkochen, wenn Veränderungen anstehen. Aber ich bin ja auch deshalb heute Abend hier, um Vorbehalte auszuräumen und Ihnen mein Konzept vorzustellen. Und ich finde, in einer Demokratie ist es wichtig, jeden zu Wort kommen zu lassen.“ Dann wandte sie sich an Will, der immer noch stand und eine trotzige Miene aufgesetzt hatte. „Herr Hastenrath, ich kann Sie nur zu gut verstehen. Sie sind hier groß geworden, Sie sind hier zur Schule gegangen, Sie sind ein echter Einheimischer, dem bestimmte Werte wichtig sind.“ Will nickte.

      „Aber“, fuhr sie fort, „der Lauf der Dinge ändert sich manchmal. Was gestern gut war, kann man heute vielleicht noch besser machen.“

      Will verschränkte die Arme vor der Brust: „Und was, bitte schön, ist verkehrt dadran, mal mit ein stabiles Holzlineal für Ruhe zu sorgen? Einmal hat der Herr Offermanns mir sogar eins auf dem Handrücken drauf kaputtgeschlagen. Aber danach habe ich nie mehr die Hausaufgaben vergessen.“

      „Und was hat Ihre Mutter dazu gesagt?“

      „Die hat sich natürlich dadrüber aufgeregt.“

      „Sehen Sie.“

      „Wieso? Die hat sich dadrüber aufgeregt, dass die wegen mir ein neues Lineal kaufen musste.“

      Frau Hebbel seufzte. „Na ja, sagen wir mal so, es gibt verschiedene Methoden. Ich kann Ihnen aber versichern, dass ich hervorragend ausgebildet bin und auch schon viele Jahre in Norddeutschland unterrichtet habe.“

      Will


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