Resli, der Güterbub. Franz Eugen Schlachter
ja nicht, wie lange ich noch zu leben habe. Der Tod kann ung`sinnet5 kommen, besonders wenn man das 70. Jahr schon überschritten hat. Wie der liebe Gott heute über Nacht das weiße Leichentuch über die Felder gebreitet hat, so ist es auch schon manchmal vorgekommen, dass das Leintuch, womit einer sich am Abend zudeckte, ihm über Nacht in ein Leichentuch verwandelt worden ist.“
1 Vater
2 Vorratskammer
3 einstmals
4 diesen Faden, d. h. diese gewaltige Wahrheit
5 unvermittelt, ohne, dass man daran denkt
3. Zu früh
Reslis Augen füllten sich mit Tränen, als der Pflegevater so vom Sterben sprach. „Du wirst längi Zyti1 nach der Mutter haben, dass du plärrest?“ fragte ihn der Alte teilnahmsvoll. – „Nein, aber es duret mich gar grusam, dass Ihr schon sterben wollt und ich wieder auf die Gemeinde soll“, antwortete der Knabe, der offenbar in der kurzen Zeit schon recht anhänglich an den alten Vater geworden war.
„Du bist es Babi“, sagte dieser lachend, „so weit ist es noch lange nicht. Daneben ist es gut, wenn du früh genug das Wort der Schrift beherzigen lernst: „Lasset ab von dem Menschen, der Odem in der Nase hat, denn was ist er zu achten? Er ist wie des Grases Blume, die bald verblüht.“ Es ist darum viel besser, lieber Resli, wenn du dich nicht an Menschen, sondern an den Heiland hängst, der gestern und heute derselbe ist und in Ewigkeit; wenn Vater und Mutter dich verlassen, so nimmt Er dich auf.“
Es war wirklich gut, dass der Alte es verstand, sein Pflegekind darauf vorzubereiten, dass irdisches Glück etwas Unzuverlässiges ist; denn die Gliedersucht, die ihn seit Jahren jeden Winter regelmäßig aufgesucht, nahm diesmal mit dem nahenden Frühling nicht ab, sondern einen immer beschwerlicheren Charakter an. Nesseln und Hanf, Bockbart und Brombeerstauden und noch ein halbes Dutzend andere Kräuter, welche die längst verstorbene Mutter sorgfältig gedörrt und aufgehoben hatte, wurden zwar von der Tochter geflissentlich aus dem Versteck hervorgeholt und ein Topf voll Thee um den anderen daraus gebraut. Allein der gute Alte, der bisher geglaubt hatte, ums Herz herum sei er noch ganz gesund, litt an zunehmender Atemnot, die Füße fingen an zu schwellen und es stellte sich heraus, dass die Gliedersucht sich aufs Herz geworfen hatte und die Wassersucht im Anzug sei. Ein Nachbar, der gerade im zwei Stunden entfernten Pfarrdorfe etwas zu verrichten hatte, wurde zum dortigen Arzt geschickt. Er brachte einen großen Gutter2 mit einem bittern Trank und eine Drucke3 voll Pülverli mit, aber auch den Bericht, der alte Doktor habe beim Wasserg`schauen ein bedenkliches Gesicht gemacht und gesagt, es müsse gut gehen, wenn der Kranke die Kirschenblust4 noch erlebe.
Und der Doktor hatte leider Recht. Als die Passionszeit kam, hatte das Leiden einen solchen Grad erreicht, dass der Alte nicht mehr aufzustehen im Stande war. Bald wurde er so schwer, dass Resli und die Tochter ihn nicht mehr heben konnten. Ein starker Mann musste jedes Mal gerufen werden, um ihn auf und nieder zu tun, und der versicherte jedes Mal, der Kranke sei wenig leichter als ein doppelzentneriger Sack. Doch der liebe Gott machte es gnädig mit ihm; wenn ihm auch das Wasser immer näher zum Herzen drang, dass er mit David beten musste: „Gott hilf, denn das Wasser geht mir bis an die Seele!“ so löschte dasselbe doch den Glaubensfunken nicht aus, nein, Gottes Geist blies denselben immer mehr zur hellen Flamme an. Denn Der, welcher keines seiner Kinder versuchen lässet über Vermögen, sondern allezeit einen erträglichen Ausgang schafft, sorgte dafür, dass die beschwerliche Krankheit verhältnismäßig rasch zu Ende ging. Für seinen Pflegesohn und seine taubstumme Tochter freilich viel zu früh, von ihm selbst aber längst ersehnt, erschien die Stunde der Ablösung von diesem sterblichen Leib, noch ehe der Ostermorgen durch die Fenster schien.
Warum, so spricht nun die menschliche Vernunft, wurde Resli das Glück, in der segensreichen Nähe eines solchen Mannes zu sein, nur zwei Monate lang zu teil? Diese kurze Zeit hatte gerade hingereicht, um ihn die Flüche vergessen zu lassen, die er bei seinen Stiefbrüdern eingeübt. Wie gut hatte ihm nach der Hungerkur beim Stiefvater das Brot des Pflegevaters geschmeckt, der ihn ja nicht nur mit Bibelsprüchen abspies, sondern dem das leibliche Wohl des armen Knaben nicht minder als dessen Seelenheil am Herzen lag. In der kurzen Zeit hatte er solche Fortschritte im Lernen gemacht, dass der Lehrer sagte, zwar nicht zu ihm, aber zum Pflegevater: Aus dem wird einmal etwas anderes als nur ein Taglöhner, wenn du ihn so fleißig zur Schule schickst.
Doch nun war mit einem Schlag die ganze Herrlichkeit vorbei. Es gab Leute in der Nähe, denen der Tod seines Pflegevaters nicht so zu Herzen ging wie ihm, an denen sich vielmehr das Wort erfüllte: Wo ein Aas ist, da sammeln sich die Adler. Der Lehrer redete diese Leute beim Leichengebet als die werte Trauerversammlung an, aber dass ihr Geschrei, das sie bei der Leiche erhoben, aus traurigem Herzen kam, bezweifelte man in der Nachbarschaft. Zuerst suchten diese Verwandten des Verstorbenen, um der taubstummen Tochter nicht alle Mühe aufzubürden, Keller und Speicher ab und veranstalteten mit den vorhandenen Vorräten eine respektable „Gräbd“5; es war ja begreiflich, dass man von dem zweistündigen Weg bis zum Friedhof hungrig werden musste. Besonders gute Dienste leistete da das Kirschwasser, das man in einer unangebrochenen großen Strohflasche entdeckte, denn der Alte hatte das „Gläseln“6 nicht geübt.
Wie bei Simsons Tode mehr Philister umkamen, als er in seinem ganzen Leben vertilgt hatte, so wurden hier bei der Beerdigung des alten Mannes mehr Gläschen vertilgt, als er selbst in seinem ganzen Leben je getrunken hatte. Unter der zu unbesonnenen Taten begeisternden Wirkung des Getränks fingen dann Etliche an, von der Teilung zu reden; es wäre ihnen kommod7, wenn sie gleich etwas mitnehmen könnten. „Ja“, erklärte der nächste Verwandte, „den Buben da, den er gedinget hat, den könnt ihr haben, wenn ihr wollt, der muss allweg irgendwo gefüttert werden bis zur nächsten Verdinggemeinde im Brachmonat; aber vom Teilen redet nicht, es gibt nichts aus dem Käs. Die Tochter ist die einzige Erbin; sie hat zwar das Alter längst, um mündig zu sein, aber weil sie keinen Mund hat, so steckt die Vormundschaftsbehörde allweg ihre Nase in die Sache hinein. Einstweilen nehme ich als Onkel das Eisi zu mir, allein kann man es ja hier nicht hausen lassen, den Bub kann nehmen wer will.“ – „Wenn dem so ist“, sagten die Andern und machten ein langes Gesicht, „so nimm du den Bub auch gleich dazu, es wird am Platz sein, dass, wer den Nutzen hat, auch den Schaden übernimmt.“
Und so nahm denn der besorgte Onkel mit der gewinnversprechenden taubstummen Nichte auch den armen Resli mit. Die erstere hatte es nicht schlecht, man setzte große Hoffnungen auf sie, wenn sie bleiben würde, denn wer die Erbin hat, dem winkt auch das Erbe zu. Resli dagegen, der von Anfangs April bis erste Woche Juni um der Gottswillen, wie man ihm oft genug vorhielt, hier aufgenommen wurde, bekam es zur Genüge zu fühlen, ein wie unwillkommener Gast er war, er, an dem kein Erbteil, sondern nur ein elendes Kostgeld hing. Außer Schlafens- und Essenszeit durfte er nicht im Hause sein. Er wurde aber in der Zwischenzeit nicht etwa in die Schule geschickt. Das wäre ihm eine schöne Ordnung, begehrte der neue Meister auf, als Resli um Erlaubnis zum Schulbesuche bat, wenn jeder Bettelbub in die Schule gehen sollte und noch dazu im Frühling, wo so viel Arbeit sei. Werchen8 sollte ein solcher lernen, was trage ihm das Lesen und Schreiben ab. Zu rechnen werde er einmal doch nicht viel