Resli, der Güterbub. Franz Eugen Schlachter
so gut rechnen könnte, wie sie. Resli sagte denn auch nichts mehr von der Schule, seitdem ihm dieser Bescheid zu Teil geworden war.
Er ging bei Regen und bei Sonnenschein und hütete die paar Schafe seines Meisters, indem er sie das Gras bei den Zäunen abätzen10 ließ, denn eine Weide besaß der Meister nicht, obschon er in seinen Augen ein so großer Bauer war, der himmelhoch über einem Tagelöhner und Bettelbuben stand; das machte, er sah sich bereits durch das Vergrößerungsglas des in Aussicht stehenden Erbes an. So brachte Resli den ganzen Tag mit ähnlichen, verschnupften11 Kindern zu. Phantasiereiche Städter malen sich oft das Leben eines Hirtenbuben so idyllisch aus, als rege der Umgang mit den Schafen und mit der Natur schon von selbst zur Gottesfurcht an. Wenn sie aber wüssten, was für eine Schule des Lasters für manche arme Kinder dieses gemeinsame Hüten von einigen Schafen oder Ziegen ist, sie fänden Reslis Los nicht eben beneidenswert.
Nein, hier beim Schafehüten brachen die alten Sündenwunden des armen Knaben, die unter der Pflege des alten, frommen Mannes vernarbet waren, von neuem wieder auf, und hier war niemand, der den Balsam des Wortes Gottes in dieselben goss. Fluchen und Schwören hörte er im Haus, aber kein Gebet, und wenn er draußen an den Gassen hütete, so traf er hier eben die Gassenbuben an, denen sah er ihre Unarten ab, oder er wurde von ihnen selbst zur Zielscheibe ihrer Bubenstücke gemacht. Da seine Kleider zu zerreißen begannen, niemand sie ihm flickte und er auch keine neuen erhielt, so machten sich die andern Kinder Spaß daraus und rissen ihm die Fetzen vom Leibe, um, wie sie sagten, ihre eigenen Löcher zu verstopfen damit. Die ehrbaren Leute, die des Weges kamen, gingen an ihm vorüber wie der Priester und der Levit an dem, der unter die Räuber gefallen war, nein, sie schalten ihn noch einen Hudel, was in feinerem Deutsch einen Lumpen bedeuten will.
Resli wartete vergeblich auf den barmherzigen Samariter, er kam nicht, und so blieb dem armen Jungen nichts anderes übrig, als fortan hinter eine Hecke zu schlüpfen, wenn jemand vorüberging, und sich zu vertrösten auf die nächste Verdinggemeinde, wo der liebe Gott ihm wieder einen Engel zuschicken konnte, wie der verstorbene Pflegevater einer gewesen war.
1 Heimweh
2 Flasche, Arznei
3 Schachtel
4 Kirschenblüte
5 Leichenschmaus
6 (gemeinsam) trinken
7 bequem, behaglich
8 Arbeiten, Werken, Schaffen
9 wohl ein Knecht des Bauern
10 abfressen
11 missmutigen, verärgerten
4. Wie Resli vom Regen unter das Dachtrauf kommt
Resli wurde auf keinen afrikanischen Sklavenmarkt geschleppt. Dort werden ja die schwarzen Heidenkinder an den Meistbietenden verkauft, die Verdinggemeinde aber gab den Knaben an den Mindestfordernden hin. Er kam in ein Haus im Reckholderberg, nahe bei Kurzenwyl. Zwei Brüder bauerten dort insgemein. Verheiratet waren sie nicht, ihre Mutter lebte auch nicht mehr, eine Schwestertochter war das einzige Weibervolk im Haus, sie besorgte den beiden Hagestolzen1 die Haushaltung. Eine Mutter hatte Resli selbstverständlich an dieser Tochter nicht, dazu war sie noch zu jung, sie hätte selbst noch eine nötig gehabt, und dass zwei ältere Junggesellen keine Väter sind, weiß Jedermann. Es erfüllte sich an dem armen Knaben demnach das Wort: „Wenn ihr gleich zehntausend Zuchtmeister hättet, so habt ihr doch keinen Vater.“
Das war ein großer Schade für ihn, denn wie sehr hätte der achtjährige Knabe der väterlichen Erziehung und der mütterlichen Pflege bedurft. Was für eine Herzlosigkeit liegt doch in einer derartigen Verkostgeldung armer Kinder, bei welcher nur zwei Gesichtspunkte maßgebend sind, der Kostenpunkt und die Rücksicht darauf, dass ein solches Kind werchen lernen muss. Ganz richtig ist es ja an und für sich, wenn man die Verdingkinder vor dem Müßiggang bewahren will, weil dieser in der Tat aller Laster Anfang ist, aber ist denn damit einem Kinde schon eine gute Erziehung zugesichert, dass man ihm für schwere Arbeit sorgt? Als ob die Anstrengung aller Tugenden Anfang wäre! Resli wenigstens hat`s erfahren, dass dem nicht so ist. Arbeit hatte er genug unter der Junggesellenmeisterschaft, für die ein Kind nur so viel Wert hatte, als man an ihm Tagelöhne ersparen konnte; um seine Erziehung zur Tugend und Gottesfurcht kümmerte man sich aber in diesem Hause keinen Pfifferling. Nun denken Manche, diesen Mangel empfinde so ein Bub ja nicht; auf einen groben Klotz gehöre ein grober Keil. Aber Resli hatte keinen groben Klotz, sondern ein weiches Herz in seiner Brust. Hatte er das von seiner Mutter geerbt, oder war`s Gottes Gnade, die ihn frühe zog; wohl wurde es ihm die sechs Jahre hindurch, die er in diesem Hause zubrachte, nie in dem Heidentum, in das er hier mitten in der Christenheit, nur zwei Stunden von der nächsten Kirche entfernt, hineingegangen war.
Wir sagen „Heidentum“. Gab es denn Götzen in diesem Haus? Ja, der große Götze Mammon hatte hier alles in seiner Gewalt. Über seinem Altar hatten die beiden Brüder einen Bund gemacht, keiner von ihnen wolle sich verheiraten; lieber einen Sack voll Geld als eine Schar Kinder im Haus, sagten sie. Sie hielten ihr Versprechen treulich, das ist wahr; es kam auch etwas dabei heraus: Sie machten ihren Hof schuldenfrei, zahlten ihren Geschwistern, was ihnen heraus gehörte und machten noch ordentlich für. Aber sie merkten nicht, dass ihr Geldmachen auf Kosten der Seele ging. Die sechs Jahre hindurch, so lange Resli in ihrem Hause war, hat keiner von ihnen ein Gotteshaus besucht, als wo sie vor das Chorgericht mussten.
Aber warum mussten sie denn vor das Chorgericht? Das kam so: Die Haushälterin der beiden Junggesellen hatte das Unglück, wie man zu sagen pflegt, zweimal Mutter zu werden während jener Zeit. Damals fiel aber, nach gutem altem Brauch, die Untersuchung solch delikater Fälle noch dem kirchlichen Sittengericht zu, das aus dem Pfarrer und den Kirchenältesten bestand. So wurden denn vom Chorgericht die beiden Brüder vorgeladen, sie sollten angeben, wer der Vater dieser Kinder sei. Genau anzugeben vermochten sie das aus guten Gründen nicht, aber sie hatten wohl aus ebenso guten Gründen nichts dagegen zu sagen, als das Chorgericht ihnen die Sorge für die Kinder überband, obgleich man dieselben auf den Namen der Mutter ins Taufregister schrieb.
So hatte denn der Bund, den die beiden Brüder am Altare Mammons miteinander geschlossen, einen Riss gekriegt, sintemal2 es noch mehr Götzen gibt in der Welt, von denen der eine dem andern gar zu gerne einen Streich spielt, wenn er kann, denn sie kämpfen allesamt um die Herrschaft über das Menschenherz. Welcher Götze in diesem Fall über den Mammon Meister geworden ist, brauchen wir nicht erst zu sagen, unsere Leser wissen`s schon.
Die beiden Brüder sahen ein, dass Mammons Herrschaft bedenklich ins Wanken geraten sei, so sannen sie denn auf neue Mittel zu deren Befestigung. Es war Winter geworden, wo der Bauer, wenn er nichts zu holzen hat, manche Stunde auf dem Ofen sitzt. Dies war auch die Zeit, wo sogar Resli in die Schule ging; im Sommer gab es nichts daraus. Allein, nun kam den Brüdern in den Sinn, es gäbe doch auch noch eine nützlichere Winterbeschäftigung, als auf dem Ofen zu sitzen oder in die Schule zu gehen,