Die Frau des schönen Mannes. Mario Schneider
entschuldige, ich glaube dir nicht. Du musst das sagen.«
»Glaubst du, ich würde einen meiner Kunden so umarmen wie dich? Glaubst du, ich würde mich von einem meiner Kunden so küssen lassen wie von dir? Ich mag dich, ich mag dich sogar sehr.«
Ein heißer Schwindel überkam mich. »Das kann nicht sein«, sagte ich, und da hatte ich bereits aufgegeben. Ich glaubte ihr. »Das kann doch nicht sein.«
Sie drückte sich fest in mich und sagte so still und so sicher, wie man nur die Wahrheit sagt: »Es ist aber so.«
Sie verbarg ihren Kopf in meinen Armen.
»Mir ist kalt«, flüsterte sie.
Ich deckte uns zu. Es war warm und wohl, und ich schloss meine Augen. Wir lagen sehr lange so. Bis der Wecker klingelte, denn sie hatte zu Beginn, wie sie es wohl immer bei ihren Freiern tat, ihr Handy auf ein und eine dreiviertel Stunde gestellt.
»Musst du jetzt gehen?«
»Nein, noch nicht, wir haben noch eine Viertelstunde.« Sie richtete sich im Bett auf und saß jetzt neben mir. »Ich möchte mit dir schlafen«, sagte sie. »Ich würde jetzt sehr gern mit dir schlafen.«
Ich wollte nicht. Ich konnte nicht. »Nein, entschuldige, lass uns bitte nur hier sitzen.«
Sie legte sich wieder neben mich und lehnte ihren Kopf auf meine Schulter.
»Lea.«
Ich hatte sie verstanden, sie hatte ›Lea‹ gesagt. »Wie?« fragte ich.
»Lea, ich heiße Lea. Das ist mein richtiger Name. Lea, und ich bin nicht sechsundzwanzig, sondern dreiunddreißig.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. ›Ist das ihr richtiger Name? Sie sagt das immer, zu jedem. So macht sie aus allen Freiern Stammkunden‹, dachte ich. »Du siehst nicht aus wie dreiunddreißig«, sagte ich.
»Ich weiß, deswegen haben die mich auch jünger gemacht. Und wie heißt du?«, fragte sie.
»Na Martin.«
»Ach, das ist dein richtiger Name?«
»Ja sicher.«
»Die meisten nehmen sich andere Namen und haben ein extra Handy. Du machst das wirklich zum ersten Mal.«
Ich sah halb unter der Decke ihre rechte Brust, wie sie leicht meinen Bauch berührte. Es fühlte sich schön an, sie war etwas kalt. Ich legte meinen Arm fester um ihre Hüfte und zog sie näher zu mir heran.
»Warum machst du das?«, fragte ich.
Sie schaute mich an und ich sah zwischen ihren Augenbrauen eine kleine Falte. »Was?«
»Na, das hier.« Ich deutete auf uns. »Warum hast du damit vor vier Monaten angefangen? Warum sagst du den Männern, dass du sie magst?«
»Das tue ich nicht. Ich sage es ihnen nicht. Ich habe es nur dir gesagt.«
»Gut, du hast es nur mir gesagt, aber was war vor vier Monaten? Wieso vor vier Monaten?«
»Es gab verschiedene Gründe, damit anzufangen.«
Ich wartete.
»Ich habe in einer Wasserspenderfirma gearbeitet, weißt du, die Dinger, die beim Arzt stehen, mit einem rosa und einem blauen Knopf, für normales und gekühltes Wasser. Ich war fürs Controlling der Firma zuständig. Zweihundert Angestellte. Sechzig Stunden Arbeit die Woche. Ich habe das gebraucht. Ich war immer ansprechbar. Mein Handy war die ganze Nacht an. Es kam vor, dass mein Chef vier Uhr morgens aus China angerufen hat, und ich bin rangegangen. Ich habe immer alles bis zur Erschöpfung gemacht. Eines Abends kam ich nach Hause. Mein Freund, wir waren schon getrennt, hat mir die Füße massiert, wir verstehen uns immer noch sehr gut. Er massierte mir die Füße, und ich merkte, wie mir der linke einschläft. Es war unangenehm. Ich sagte ihm, er solle doch links mal etwas mehr machen. Ich spürte nichts. ›Weiter oben und kräftiger‹, sagte ich. Er schaute mich komisch an. Ich sagte, dass er kräftiger zudrücken soll, denn ich hab’ gar nichts gespürt. Er drückte voll zu. Wir hatten gerade gegessen, und die Teller standen noch rum. ›Nimm die Gabel da!‹, sagte ich zu ihm. Er wollte erst nicht. Dann nahm er sie und stach leicht in meinen Oberschenkel. Ich spürte nichts. Es war beängstigend. Ich hab’ die Gabel genommen und so lange gedrückt, bis es zu bluten anfing. Er schaute mich an. So hatte ich ihn noch nie gesehen. So ängstlich. Ich fragte, was los ist. Er sagte nur, dass mit meinem Gesicht etwas nicht stimmt. Ich bin sofort ins Bad und schaute in den Spiegel. Meine linke Gesichtshälfte hing nach unten, wie geschmolzen, wie geschmolzenes Wachs. Es war so eine Art Schlaganfall. Es hat vier Wochen gedauert, bis ich meinen Mundwinkel wieder bewegen konnte. Mit der Arbeit war es erstmal vorbei. Ich dachte, es geht nie wieder weg. Jetzt ist es einigermaßen okay. Bis auf das hier.« Sie deutete auf ihr linkes Auge, das sich nicht bewegte und mich stumm anschaute.
Ich hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit so einer Geschichte. Aber es sind wohl immer solche Geschichten. Dann sagte ich so etwas wie »Krass« oder »Das ist schlimm.« Was soll man da sagen.
»Du bist der Erste, dem ich das erzähle«, sagte sie, und ich dachte: ›Das muss sie jetzt sagen. Wie gemein das ist, dass ich so etwas denke, wie gemein und niederträchtig, so etwas zu denken.‹ Vielleicht war ich ja wirklich der Erste.
Sie wusste nichts über mich, und ich kannte diese Geschichte. Ich fragte sie, warum sie es nicht ihren Eltern erzählt hat; und dies war die zweite Frage, die sie an diesem Abend nicht beantwortete. Sie blickte mir nur fest in die Augen.
Ich ruderte sie schweigend über den See, in seichteres Gewässer, zu einer Insel, auf der man durchatmen kann, auf der man sich aufrecht hinsetzt und durchatmet. Sie holte tief Luft, und ich liebte sie dafür. Ich glaube jetzt, dass sie damals wirklich frei atmen konnte.
Sie blieb drei Stunden bei mir und bat mich, mir ihre Nummer geben zu dürfen. Ich wunderte mich nicht und klappte mein Handy auf. Sie diktierte. »Null, eins, sieben, eins, fünf, fünf, drei, sieben, zwei, fünf. Hast du’s?« Ich tippte auf ›Nummer speichern‹. »Ja, ich hab’s.« Das Handy forderte mich auf, den Namen einzutippen. Ich schaute sie an, und was ich jetzt tat, war schlimm. Ich sagte es langsam und laut, während ich es eintippte: »Lena.«
Sie reagierte sofort und lächelte noch: »Nein, nein, Lea.«
Es schmerzte mich. Erst jetzt fiel ihr auf, was ich getan hatte. Sie wurde wütend. »Wolltest du mich gerade testen? War das ein Test, ja? Du wusstest genau, dass ich Lea heiße. Du wolltest wissen, ob ich das erfunden habe, oder?« Ich schaute ihr in die Augen, die leicht schielten, schwarz und tief waren und in die sich eine Trauer mischte.
»Entschuldige«, sagte ich und dachte: ›Ich wollte dir nicht wehtun, aber ich kann das alles nicht glauben.‹ Doch ich sagte es ihr nicht.
Zum Abschied standen wir in der Tür zum Flur und küssten uns. Ein Kuss, in dem man noch den Schmerz schmeckt. Es war, als würden wir uns sicher wiedersehen.
Ich habe sie nie angerufen. Ich hatte Angst vor der Wahrheit, vor der einen wie vor der anderen.
GESPRÄCHE MIT OBEN – OLGA
Es war an einem heißen Sommertag, als Olga, über den Patienten Baranow gebeugt, das Ende der Bauchsonde mit dem Schlauch zum Tropf verbinden wollte. Da sprang die Tür des Krankenzimmers auf, und Andrej, ein junger Pfleger, stürmte herein. Olga drehte sich erschrocken um, noch den Katheter in ihrer Hand.
»Er ist dran! Er ist dran!« Andrej schnappte nach Luft, denn er war die fünf Treppen aus der Verwaltung, immer vier Stufen auf einmal nehmend, heruntergesprungen, und nun konnte er nur noch in kleinen Stückchen sprechen.
»Oben! Am Telefon! Schnell!«
Olga wusste nicht gleich, worum es ging, doch dann begriff sie.
Sie drehte sich noch einmal zu dem Patienten um, dann wieder zu Andrej gewandt sagte sie: »Mach du das hier!« Er war schnell bei ihr und übernahm den Schlauch. Dann rannte