Passierschein, bitte!. Nancy Aris
besorgt aus dem Fenster. Jemand hat eine schwarze Tasche aus dem Businneren geholt, die ihrer zum Verwechseln ähnlich sieht. Plötzlich fällt mir ein, dass ich noch in der Gepäckhalle im Flughafen meine Umhängetasche in den Rucksack getan habe, damit ich sie bloß nirgendwo liegen lasse. Im Rucksack ist also alles – mein Pass, mein Ticket, mein Computer, Festplatte, USB-Stick, zwei Fotoapparate, Aufnahmegerät, einfach alles. Ich habe ein paar Hundert Euro in der Hosentasche, sonst nichts.
Wir fahren stadteinwärts genau auf der Straße entlang, wo ich die ersten zwei Nächte wohnen werde – direkt im Zentrum, in der Nähe des Bahnhofs. Ich steige kurz vorher aus. Hier müsste es laut Karte sein. Mein Rucksack ist noch da. Der Fahrer erinnert mich an den Aufpreis.
Die Hausnummer von meinem Hostel habe ich mir blöderweise nicht aufgeschrieben. Habe mir nur die Lage gemerkt und die 17 in Erinnerung. Da ich zufällig genau davor stehe, versuche ich mein Glück. Zuerst erwische ich den falschen Aufgang. Acht Treppen Aufstieg umsonst. Beim zweiten Aufgang habe ich Glück. Ein Passant meint, dass es hier sein muss. Es ist ein normales Wohnhaus. Nirgendwo Werbung oder zumindest ein Schild, das auf das Hostel hinweist. Nur ein Klingelknopf an der Gegensprechanlage, einer von dreißig. Daneben ein winziger Aufkleber: »Optimum«. So heißt das Hostel. Ich drücke den Knopf und eine Stimme wie vom Tonband sagt: »Drücken Sie die 24, dann B.« Obwohl ich Russisch kann, habe ich den Eindruck, gerade ein Orakel gehört zu haben. Ich schaue fragend auf die Knöpfe und bin froh, dass direkt hinter mir ein paar Spanier kommen, die das gleiche Ziel haben. Sie wissen Bescheid und sind mit einem elektronischen Türöffner ausgestattet. Ich folge ihnen. Wahrscheinlich hätte ich das nie gefunden, denn auch an der braun gestrichenen Tür, die aussieht wie alle Wohnungstüren im Aufgang, fehlt jeglicher Hinweis. Antiwerbung. Ein Hostel, das nicht gefunden werden will. Vielleicht ist aber auch der Begriff Hostel übertrieben, denn es handelt sich, wie ich gleich sehe, um eine umgebaute Wohnung. Ob die das schwarz betreiben? Irgendetwas stimmt hier nicht, denn das Hostel hätte gar keinen Grund, sich zu verstecken. Es liegt mitten im Zentrum und ist in einem wirklich stattlichen Gebäude untergebracht. Ein Stalinbau aus den Dreißigerjahren mit repräsentativem Eingangsbereich, imposanten Säulen, Löwen aus Granit im Treppenaufgang und einer steinernen Figurengruppe auf dem Dach. Es ist ein beeindruckender Bau – neben der Tür prangt die Denkmalschutzplakette und auf der Eingangstreppe postieren sich andauernd Gesellschaften zum Fototermin. Warum also die Geheimhaltung?
Kaum zu finden: Das Hostel »Optimum« versteckt sich in diesem repräsentativen Stalinbau
Im Hostel scheinen gerade Renovierungsarbeiten zu laufen, ich steige auf dem Weg in mein Zimmer über Kabel, Werkzeuge und Geräte. Egal. Nach dem langen Flug will ich nur schnell duschen. Es gibt eine Dusche im Hostel. EINE. Ich warte und lasse mir derweil von einem der Spanier erzählen, wie er von Spanien auf dem Fahrrad nach Wladiwostok gefahren ist. Und in Dresden halten mich alle für eine Abenteuerin … Er trinkt Bier aus einer Tasse. Hinter ihm prangt ein Schild, dass der Genuss von Alkohol im Hostel verboten ist, es droht eine Strafe – 25 Euro. Deshalb also. Überhaupt hängen hier viele mahnende Schilder – alle unterschrieben mit »Die Administration«. Wer beispielsweise seine Haare nach der Körperreinigung nicht aus der Dusche entfernt, lese ich wenige Minuten später, soll 12,50 Euro Strafe zahlen. Ich frage mich, wer das kontrolliert? Haben die eine Kamera, hier im Bad?
Ich gehe in die Stadt, herrlichster Sonnenschein, es ist sommerlich warm. Ich habe Glück, denn genau heute hat ein Filmfestival begonnen, das International Meridian Pacific Film Festival. Auf den Straßen und an der Strandpromenade ist deshalb viel los. Trotzdem ist die Stimmung anders als in Moskau. Alles ist irgendwie entspannter. Neben der Festivalbühne gibt es eine Leseinsel. Die »Offene Bibliothek« ist eine kleine Insel aus grünem Teppich, der um einen Baum herum gelegt wurde und eine künstliche Wiese bildet. Dort liegen Bücher aus, man kann es sich auf Sitzsäcken und Liegestühlen bequem machen und in Ruhe lesen. Im Hintergrund plätschert das Meer. Oder man surft, denn freies Wifi gibt es auch. Aus den Lautsprechern kommt Musik, aber alles relativ dezent, wenig aufdringlich. Im Festivalpavillon kann man eine Ausstellung anschauen. »Dritte Kultur« erzählt von Einwanderung und den Folgen für die Kinder der Einwanderer. Sie zeigt deren Sicht auf ein Leben zwischen zwei Kulturen. Ich denke an die »Dritte Generation Ost«. Ein paar Meter weiter stehen Tischkicker, an denen man einfach so, ohne zu bezahlen, spielen kann. Ein Schild verrät das Anliegen: Zurück in die Kindheit! Mehrere Männer haben sich schon auf Zeitreise begeben. An einer anderen Ecke führt ein zerstreuter Chemie-Professor Experimente vor. Er ist von Kindern umringt. Sie sind begeistert von den brodelnden Kolben, dem aufsteigenden Dampf und den knallenden Korken. Aber nicht nur sie – auch ihre Mütter und Väter sind hier längst wieder zu Kindern geworden. Auf einer Wiese sind ein paar Jugendliche zusammengekommen – offenbar eine Gruppe von Hochleistungsspringern. Es sind Franzosen und Russen, die sich nicht verstehen. Nur die akrobatischen Sprungnummern, die sie zusammen einstudieren, geben ihnen eine gemeinsame Sprache. Die Atmosphäre ist locker, fast ein bisschen wie auf dem Venice-Beach. Nein, das ist nicht das Russland, das ich kenne. Und jetzt weiß ich, was anders ist. Es ist nicht mehr die frontale Kollektivbespaßung mit pompösem Bühnenprogramm für alle, sondern eine bunte Mischung von Angeboten, die jeder nach Belieben annehmen oder einfach ignorieren kann.
Entspannte Stimmung beim Meridian-Filmfestival: Angebote für Jung und Alt
Das ehemalige Kaufhaus Kunst & Albers heißt heute GUM. Von außen hat sich kaum etwas verändert.
Dann gehe ich zum Kaufhaus, zu Kunst & Albers. Schließlich das Ziel meiner Reise. Bin beeindruckt, weil das Gebäude komplett erhalten ist, und mache ein Beweisfoto: Ich vor dem Eingang. Man sieht so gut wie nichts von dem Haus. Egal. Später wird es DIE historische Aufnahme sein.
Ich gehe hinein und bin sofort enttäuscht. Ich will es mir nicht eingestehen, aber es ist so. Wie wenig ist innen vom einstigen Glanz übrig geblieben. Eigentlich nur Dinge, die wahrscheinlich bei den Baumaßnahmen übersehen wurden, wie die alten Heizkörper. Auch einige Fußböden mit den schönen Hamburger Fliesen scheinen noch original zu sein. Doch von den einstigen Räumlichkeiten, den großzügigen Hallen, ist kaum mehr etwas zu erahnen. Hinter den eingezogenen Wänden der nunmehr dort installierten Minishops und den Regalen lugt ab und zu mal eine Säule oder ein kunstvoll verziertes schmiedeeisernes Treppengeländer hervor. Keine einzige Stuckdecke ist zu sehen.
So manche Details erinnern heute an den einstigen Glanz
Körperkult und Fitnesswahn gibt es nicht nur in L.A. Nur stören die hiesigen Baustellenzäune und Wellblechbuden das Bild etwas.
Erste Enttäuschung macht sich breit. Im Hofbereich, von wo aus man die Rückfassade sieht, ist es noch schlimmer. Dort ist alles verfallen und heruntergekommen. Auf den Balkonen wachsen Birken. Russifizierung deutscher Bausubstanz, denke ich so vor mich hin und ermahne mich gleichzeitig, nicht immer alles so negativ zu sehen.
Ich gehe zwischendurch ins Hostel, koche mir etwas und rufe meine Mails ab. Irina hat geschrieben, ein sehr lustiges, antiquiertes Deutsch mit englischen Einsprengseln. Sie ist beseelt davon, dass ich im Hotel Ekvator stay machen soll und hat dort bereits alles arrangiert. Ich solle mich nur vertrauensvoll an die Rezeption wenden. Die Parole lautet »Peter Schwarz«. Bin zu müde, um angemessen zu antworten, und dämmere weg.
Abends, als ich zufällig wieder an der Festivalbühne vorbeikomme, wird dort die offizielle Festivaleröffnungsfeier übertragen. Wo die stattfindet, weiß ich nicht. Über den blauen Teppich (Pazifik!!!) schlendern die Stars. Jetzt wird ein Regisseur aus Deutschland angesagt, irgendein Axel. Das ist doch der Typ, mit dem ich in Berlin losgeflogen bin … Er telefonierte