Passierschein, bitte!. Nancy Aris
der es nicht bemerkt, wenn ihm gelegentlich Darmwinde entweichen. Ich tue so, als ob ich nichts bemerken würde. An seinem Hals baumelt ein Lederband mit einem riesigen goldenen Taizé-Kreuz. Brockmann nimmt kein Blatt vor den Mund. Schon nach wenigen Schritten bleibt er plötzlich stehen und fragt mich, ob ich gestern auch das pompöse Feuerwerk gesehen hätte? Ich nicke. »Nichts als Schein, ein Trugbild, denn in Wirklichkeit leben sie alle über ihre Verhältnisse – der Staat, die Stadt, die Menschen.« So viele seien verschuldet, aber es scheint niemanden zu interessieren. Sie machen einfach weiter wie gehabt.
Wir spazieren ein wenig durch die Stadt, über den Fokin-Boulevard, den hier alle Arbat nennen. Eine entspannte Wochenendstimmung liegt in der Luft. Alle schlendern gemütlich in der Abendsonne.
Brockmann will zu einem Chinesen. Mir ist egal, wo wir hingehen. Das Essen schmeckt nicht wirklich chinesisch. Alles ist süß, das Fleisch klebt in einer schleimigen Soße, dabei hatte ich extra nichts Süß-Saures bestellt. Dazwischen gekochte Gurken. Reis gibt es nicht dazu. Den hätte man offenbar extra bestellen müssen. Ich schaue in die Karte und tatsächlich, Reis ist in der Rubrik »Salate« aufgelistet. Wir erzählen lange und Manfred Brockmann ist begeistert, dass er endlich mal eine Gesprächspartnerin vor sich hat, die ihn versteht, die auch so manche Probleme mit den Russen hat.
Bummeln in der Abendsonne auf dem Arbat, der direkt auf die Strandprommenade führt
Dann sagt er unvermittelt, dass er von vielem enttäuscht sei. Er war mit so großem Enthusiasmus hierhergekommen. Wenn er daran nur denkt, die Euphorie der Anfangszeit. Aber mit den Jahren … Auch die Russen sieht er, je länger er hier lebt, immer kritischer. Das Emotionale, das ihn früher so begeistert habe, stört ihn mehr und mehr. Aber auch generell zieht er eine ernüchternde Bilanz: Die Männer – immer nur Krieg und Weiber im Kopf und in der ewigen Pubertät stecken geblieben. Die Frauen – leider oft so herrschsüchtig. Alles wollen sie an sich reißen. Und dann verhätscheln sie auch noch ihre Söhne und machen damit alles noch schlimmer. Und die jungen Frauen erst … Würden sie so rumlaufen, wenn sie etwas im Kopf hätten? Brockmann schüttelt den Kopf. Wer habe ihn nicht alles enttäuscht … Geschichten könnte er erzählen … Zum Glück habe er immer auch umwerfende Mitmenschlichkeit erlebt. Szenen und Gesten, die in Deutschland undenkbar wären. Das gebe ihm immer wieder Hoffnung und die nötige Kraft. Vor allem, weil es die Menschen so verdammt schwer hier haben. Ja, dieses Nebeneinander ist wohl das Besondere hier …
Wir erzählen angeregt und verstehen uns auf Anhieb. Deshalb gehen wir nach dem Chinesen noch woanders hin, ans Meer. Es ist fast romantisch. Wir sitzen auf einer Terrasse eines Cafés an der Promenade vor der untergehenden Abendsonne, ich trinke Cappuccino und er raucht Zigarre und isst nebenher ein Eis.
Zwischendurch ruft Brockmann bei seiner Frau an. Ja, die Russen seien oft so schwermütig, da muss man zwischendurch mal aufheitern. Er erzählt vom Leben in der Stadt und seinen Touren aufs Land. Brockmann wandert gern. Erst gestern ist er von einer vorgelagerten Halbinsel vom Zelten zurückgekommen. Er erzählt mir, dass am Morgen eine Frau barfuß und um Hilfe schreiend auf ihn zugerannt kam und sich ängstlich an ihn klammerte. Sie war in der Nacht zuvor mit einer Yacht aufs Meer hinausgefahren, mit zwei Männern. Als sie bemerkte, was die beiden mit ihr vorhatten, sei sie über Bord gesprungen, an Land geschwommen und durch den Wald gerannt, die ganze Nacht, bis sie früh den Rauch seines Feuers entdeckt habe. Brockmann hat sie beruhigt und mitgenommen, zurück zur Fähre. Als sie wieder in der Zivilisation am Bootsanleger waren, schien die Barfüßige wie ausgewechselt. Da sie ohne Schuhe nicht schnell gehen konnte, hatten sie die Fähre verpasst. Aber was hat sie gemacht? Habe ihn stehen lassen und sich mit dem Taxi nach Hause fahren lassen – ein mehrstündiger Weg, einige Tausend Rubel. Er habe dann den ganzen Tag auf die Abendfähre gewartet. Brockmann schaut mich fragend an. »Wissen Sie, ich weiß hier nie, was ich glauben soll. Was ich nicht alles erlebt habe … «
9. September 2013
Heute nun beziehe ich meine Wohnung. Auf dem Weg dorthin komme ich an drei Gullys ohne Deckel vorbei. Die Gullys hier sind deutlich größer als bei uns und mitten auf dem Gehweg. In zwei Löchern steckt ein Ast als Warnung. Da hatte ich vorgestern Abend also Glück. Wladimir wartet mit einem Namensschild vor dem Lebensmittelgeschäft hinter dem Wohnblock. Wir hatten vorher gemailt und den Treffpunkt ausgemacht, weil ich kein Telefon habe. Er wirkte deshalb fast ein bisschen genervt. Die Wohnung habe ich übers Internet gebucht. Es gibt eine Plattform für ganz Russland, wo man Zimmer und Wohnungen für Kurzaufenthalte und sogar stundenweise anmieten kann: www.sutochno.ru. Es ist eine private Wohnungsbörse. Dennoch sind die Preise für das, was angeboten wird, relativ hoch. Russland ist eben kein Schnäppchenparadies, schon seit Jahren nicht mehr. Die Handvoll Anbieter mit halbwegs moderaten Preisen hatte ich alle angeschrieben. Aber entweder blieben die Antworten ganz aus oder waren mehr als knapp. Zwischendurch hatte ich sogar den Eindruck, dass es gar nicht darum ging, etwas zu vermieten. Einmal hatte ich den Hinweis entdeckt: »Wir stellen Mietquittungen aus, auch ohne Übernachtung. Preis: 10 Prozent der Miethöhe.«
Fehltritt mit Folgen: Im Dunkeln sollte man genau hinsehen, wo man hintritt
Wladimir wollte ich erst nicht anschreiben, obwohl mir die Wohnung direkt am Meer mit Abstand am besten gefiel. Ich wollte nichts mit ihm zu tun haben, weil mir sein Inserat missfiel. Ich fand seine Auflistung, welche Mieter er akzeptieren könne, höchst unsympathisch. Akzeptabel waren Nichtraucher und Menschen mit slawischem Äußeren. Dann waren verschiedene Wohnungsbelegungskombinationen aufgelistet. Erlaubt war:
» ein Mann,
» eine Frau,
» ein Pärchen,
» ein Pärchen mit Kind,
» zwei Frauen.
Zwei Männer galten offenbar als schwules Pärchen und waren deshalb inakzeptabel. Dann ein Hinweis, dass lautes Feiern untersagt sei. Solch schwulenfeindlichen und xenophoben Typen wollte ich nicht noch mit meinem Geld den Rücken stärken. Also schrieb ich wieder andere Anbieter an. Ich stellte sogar selbst ein Inserat ins Netz, aber nichts passierte. Irgendwann schrieb ich Wladimir doch an und er antwortete mehr als umständlich. Einen konkreten Preis wollte er nicht nennen, er müsse erst mehr über mich erfahren, um mir einen personenbezogenen Preisnachlass zu gewähren. Wie komisch war das denn? Ich fand das fast etwas unheimlich und fragte mich, warum er so genau über mich Bescheid wissen wolle. Dennoch antwortete ich und schrieb ihm über meine Pläne in Wladiwostok. Eine Antwort mit meiner persönlichen Preiskalkulation blieb aus. Im Buchungskalender sah ich, dass Wladimir eine seiner zwei Wohnungen unmittelbar nach meiner Antwort vermietet hatte. Ich war entnervt und buchte mich für die ersten zwei Nächte im Hostel ein. Vor Ort würde ich schon etwas finden.
Doch drei Tage vor meinem Abflug überkamen mich doch Zweifel, auch Brockmann hatte auf meine vielen Mails nicht reagiert. Also entschied ich, es noch einmal zu versuchen. Ich war sauer über diese Russen mit ihren unfreundlichen Antworten, die alle nur irgendwelche Neubaubuden loswerden wollten und dabei so taten, als ob sie Paläste an der Côte d’Azur vermieteten. Entsprechend unfreundlich fiel auch meine zweite Anfrage aus. Ich schrieb Wladimir, dass ich mich zum letzten Mal melden würde, dass ich nun klipp und klar wissen wolle, ob er mir die Wohnung vermieten könne und was er dafür haben wolle. Zwei Stunden später hatte ich eine genaue Preisauflistung und die Reservierung. Das also war es. Ich hätte von Anfang an schroffer sein sollen …
Mein Vermieter Wladimir quittiert alles ganz genau. Für zehn Nächte zahle ich 15 000 Rubel.
Nun stehe ich mit diesem Wladimir vor dem Lebensmittelgeschäft, an unserem Treffpunkt. Eigentlich sieht er ganz nett aus. Wir gehen zusammen in die Wohnung. Er macht tausend Fotos von meinem Ausweis und schreibt mir Ewigkeiten eine Quittung aus. Seine Frau Olga wundert sich,