Passierschein, bitte!. Nancy Aris
habe den ganzen Flug über nicht geschlafen, aber ich will noch einmal am Strand entlanggehen, dorthin, wo ich ab übermorgen meine Wohnung gemietet habe. Am Anfang ist es ganz nett. Einige Jugendliche mit freiem Oberkörper machen Kraftübungen am Klettergerüst eines alten Spielplatzes. Ich denke an den Muscle-Beach in Los Angeles und mache heimlich ein Foto von den Jungs.
Dann ist die Promenade zu Ende, ich steige nur noch über Flaschen und Müll. Irgendwann zischt eine Ratte vorbei. Ich lande auf abseitigen Wegen, muss immer wieder irgendwelche Baustellen umrunden, es wird dunkel. Dann sehe ich den Block, in dem ich wohnen werde. Direkt am Meer, so hatte ich mir das vorgestellt und so sahen auch die Fotos aus. Aber was ist das denn? Was sehe ich da? Unmittelbar vor dem sechsstöckigen Haus befindet sich eine Baustelle. Ein Hochhaus wird dort hochgezogen, keine hundert Meter vor dem Haus, direkt auf dem Strand. Ich hoffe inständig, dass mein Zimmer nicht genau hinter dem Rohbau des Zwanziggeschossers liegt.
Böse Überraschung: Entpuppt sich mein unverbauter Meerblick etwa als Schwindel?
Mein Rückweg oberhalb des Seehafens entlang ist weit und dunkel. Ich gehe schnell, weil außer mir niemand zu Fuß unterwegs ist. Plötzlich erschrecke ich, denn ich sehe, dass direkt neben meinem rechten Fuß der Gullydeckel fehlt. Dort klafft ein großes schwarzes Loch. Hier waren Metalldiebe unterwegs. Dann komme ich am Bahnhof vorbei. Das Ende der Transsibirischen Eisenbahn. Ich schaue mir das aufwändig restaurierte Gebäude an und beschließe, in den nächsten Tagen im Hellen wiederzukommen. Gegenüber thront auf einer Anhöhe der angestrahlte Lenin.
Im Hostel erzählt mir Arne, der im Bett unter mir schläft, dass ich das großartige Festival-Eröffnungs-Feuerwerk verpasst hätte. Ja, ich saß in der Küche und schaute Fernsehen – Putins Ansprache zum G-20-Gipfel und der Lage in Syrien. Angela Merkel erwähnt er positiv. Die Deutschen wollen nicht eingreifen. Endlich – so Putin – hätten Deutschland und Russland die gleiche Meinung. Ich frage mich, was Angela Merkel dazu sagen würde. Kurze Zeit später geht das Feuerwerk wieder los. Es ist bombastisch, was da in die Luft geschossen wird. Ich bin froh, doch nichts verpasst zu haben. Von unserem Zimmer haben wir eine Supersicht auf das Spektakel. Arne sitzt auf dem Fensterbrett, ich liege oben im Doppelstockbett. Vor uns über dem Meer die bunten Raketenkaskaden. Das Feuerwerk wiederholt sich alle dreißig Minuten, insgesamt drei Mal. Warum das so ist, weiß keiner.
8. September 2013
Ich schlafe lange, denn ich habe etwas nachzuholen. Um sechs Uhr hatte eine Zimmernachbarin begonnen, ihren gesamten Kofferinhalt in Plastetüten zu verpacken. Asiaten mögen Tüten. Aber eigentlich hatte sie das auch schon vor dem Schlafengehen gemacht.
Um zehn Uhr, als ich das nächste Mal aufwache, steht der Koffer noch immer da – an einer Eisenkette gesichert. Warum also diese Aktion im Morgengrauen? Diese Hostels nerven. In Schottland ist wenigstens die Stimmung gut. Man geht ins Hostel, weil man Gleichgesinnte trifft. Eine traveller community – Abenteurer und Neugierige, Leute, die etwas mit anderen erleben wollen, die irgendwie offen und alternativ sind. In Russland scheint das anders zu sein. Da steigen auch Frauen, die ihre studierenden Töchter besuchen, Zeitarbeiter und Autohändler im Hostel ab. Alles ist förmlich, fast steif. Hier wird gesiezt, wenn man sich überhaupt unterhält. Auch die Konversation mit den Betreibern ist knapp. Am zweiten Tag beschränkt sich unser Wortwechsel auf die Nachfrage, ob ich bereits beide Nächte bezahlt hätte. Ich könnte antworten: »Nein, denn auch mein Wechselgeld von gestern steht noch aus«, aber ich lasse es und behalte den säumigen Rest einfach ein. Als ich meine Reservierungsanfrage hergeschickt hatte, bekam ich folgende Antwort: »Hallo, 700 Rubel, Reservierung vorgenommen.« Fünf Wörter. Was hatte ich also erwartet? Auch Arne ist etwas irritiert und bald schon entnervt.
Ich liege auf meinem Bett, blättere im Festivalprogramm, das mir Arne gegeben hat, und entdecke, dass abends der Film läuft, weshalb ich eigentlich hier bin: Abenteuer Sibirien. Manfred Brockmann, einer der Protagonisten, wird auch da sein. Ihn hatte ich vor meiner Reise mehrmals angeschrieben, aber bis auf eine kurze Antwort hatte ich nichts mehr von ihm gehört. Eigentlich wollte ich, dass er mich bei irgendeiner Oma seiner Kirchgemeinde einquartiert. Er ist Pfarrer der hiesigen Paulusgemeinde.
Irina hat schon wieder geschrieben. Sie ist besorgt, weil ich mich nicht melde. Ist etwas passiert? Sie hat derweil schon wieder im Ekvator angerufen, hat sich dort nach meinem Verbleib erkundigt und nach zähem Ringen erreicht, dass ich ein Zimmer mit Meerblick bekomme. Aber von mir keine Spur – was habe das nur zu bedeuten? Ich antworte schnell, bevor das ganze Hotel noch Kopf steht. Schreibe ihr, dass ich eine Unterkunft habe und schlage ihr vor, mit aufs Festival zu kommen. Auch Manfred Brockmann maile ich noch einmal.
Am Nachmittag läuft auf dem Festival ein weißrussischer Film, der im Programm unter der Rubrik »Russland« gelistet ist. Ich kaufe mir eine Karte dafür und sehe im Programmaushang, dass in den nächsten Tagen auch Pierre Richard kommen wird. Dann spaziere ich durch die Stadt Richtung Adlernest, einer Aussichtsplattform, angeblich der höchste Berg in Wladiwostok. Da ich noch nirgendwo einen Stadtplan entdecken konnte, orientiere ich mich grob an den Hügeln. Die grünen Hügel – sopki – sind oder besser gesagt waren eines der Wahrzeichen der Stadt. Leider sieht man sie kaum noch, weil alles mehr und mehr zugebaut wird. Das Adlernest ist besonders schön gelegen, weil man von dort sowohl auf das Goldene Horn als auch auf die Amur-Meeresenge schauen kann. Hinweisschilder zu diesem touristischen Highlight gibt es jedoch nicht. Ich frage mich durch, schlängle mich durch Gärten und über abgelegene Treppen immer bergauf. Irgendwann bin ich auf einem grünen, mit Wiese bewachsenen Berg mit herrlicher Aussicht.
Oben zwei Bier trinkende Männer, die mich empfangen: Ruslan und Tolik, wie ich kurz darauf erfahre. »Prodajte nam vodu!« Sie wollen mir mein Wasser abkaufen – für Ruslans Tochter, die dabei ist und nichts zu trinken hat. Für sich haben sie zweieinhalb Liter Bier mitgenommen. Alisja bekommt mein Wasser. Sie wundern sich, wie ich es auf diesen Berg geschafft habe, denn die Aussichtsplattform für die Touristen sei doch dort unten. So weit unten, dass ich sie nicht einmal sehe. Das hier sei ein Platz für die Einheimischen, niemand verirre sich hierher, meint Ruslan. Nur ich offenbar. Sie erzählen begeistert vom Oktoberfest in München, wo – Ruslan weiß Bescheid – man aus riesigen Glas-Stiefeln Bier trinkt. Ich korrigiere und erkläre ihnen, dass es Maßkrüge sind. Aber Ruslan lässt sich nicht beirren, er ist sich hundertprozentig sicher, auch wenn er noch nie in München oder auch nur in Deutschland war. Trotzdem. Was kann er von mir erwarten, von einer Frau? Dazu von einer, die sein Bier abgelehnt hat, von einer, die in diesen Dingen ohnehin nicht mitreden kann, weil sie sich als Weintrinkerin geoutet hat. Sie schwärmen weiter: Und die Würste erst … Die machen die Bierbrauer selbst, einfach große Klasse. Ich sage nichts mehr. Sie wollen meinen Facebook-Kontakt haben und sind untröstlich, dass ich dort keinen Account habe. Das habe doch jeder … Ruslan gibt mir seine E-Mail-Adresse, eine Ziffernfolge, die gleichzeitig seine Telefonnummer ist. Sie fragen nach meinen Plänen, empfehlen mir, die neue Universität anzuschauen. Aber dafür brauche man einen Passierschein, einen Propusk. Als ich erzähle, dass ich eine Wanderung auf einer der Inseln machen will, warnt mich Ruslan vor den vielen giftigen Schlangen.
Blick auf das Goldene Horn und die zwei neu gebauten Brücken
Ruslan, Tolik und Alisja: Von ihnen habe ich einiges über deutsches Brauchtum gelernt
Dann gehe ich wieder zurück ins Kino, meine Premiere mit dem Regisseur. Die Russen sind begeisterte Kinogänger, sie feiern ihre Helden und auch hier gibt es Rosenbukets, die einiges gekostet haben müssen. Autogramme, Fotos – eine kitschigsentimentale Kinowelt, die es bei uns gar nicht mehr gibt. Danach muss ich schon fast zum Sibirienfilm hetzen, er läuft nicht auf der Freilichtbühne, sondern im Pavillon, direkt am Meer. Es sind gar nicht so wenige Besucher da, immerhin läuft der Film auf Deutsch. Nach dem Film gehe ich zu Manfred Brockmann, der sichtlich erstaunt ist, mich zu sehen. Meine Mails hat