Dien Bien Phu. Harry Thürk
und dann als »zu hoch« bezeichnet wurden, ließ Cogny in Hanoi zwei Bataillone Fallschirmjäger in »Dakota«-Maschinen verfrachten und unter dem Kommando der Obersten Bigeard und Ducourneau in Richtung Lang Son fliegen, einer kleinen Stadt unweit der Grenze zur Volksrepublik China. Alle Agentenberichte besagten, daß über Lang Son Nachschub an Militärgütern zu den Vietminh floß. Zuletzt hatte eine kleine »Mouchard« – die von den Morane-Werken nachgebaute Fieseler »Storch« – Luftaufnahmen von einer zerklüfteten, dicht bewaldeten Berggegend mitgebracht, in der sich nach Meinung der Auswerter der Umschlagplatz für den Nachschub befand. Gemäß dem Befehl Navarres, der aus Publicity-Gründen eine spektakuläre Kommandoaktion gegen das Kernland der Vietminh brauchte, während er sich in Paris aufhielt, hatte Cogny das Unternehmen anlaufen lassen. Es würde, selbst wenn es sonst nichts bewirkte, wenigstens Navarre als Argumentationshilfe dienen.
Die Maschinen setzten die Männer auf sehr engem Raum ab, um konzentrierte Vorstöße zu erleichtern. Als die Soldaten ihre Fallschirme eingerollt hatten und sich umsahen, entdeckten sie im dunstigen Morgenlicht des 18. Juli 1953, eines Tages, der heiß zu werden versprach, zunächst keinen einzigen Vietnamesen. Kein Schuß fiel. Erst als die Züge auf das von den Aufklärern bezeichnete Gebiet vorrückten, in dem es Felshöhlen und Schluchten gab, wurden vereinzelt Bauern auf den Reisfeldern gesichtet und ohne Anruf erschossen. Cogny hatte für die Aktion »Carte Blanche« angesagt, das hieß, es wurde keine Rücksicht auf Zivilpersonen genommen.
In den Höhlen fanden sich eine Anzahl reparaturbedürftiger US-amerikanischer Maschinengewehre, etwas Munition, ein paar Kisten mit Panzergranaten und einiges an Handfeuerwaffen. Die Höhlen wurden gesprengt. Weiteres Suchen ergab nichts. Auch zeigte sich selbst spät am Nachmittag noch kein Gegner.
Trotz strenger Geheimhaltung war die Vorbereitung dem Oberkommando der Volksarmee nicht unbekannt geblieben, und es war der Befehl ergangen, den französischen Stoß ins Leere laufen zu lassen. Man praktizierte den altbewährten Grundsatz, sich nicht auf jedes Gefecht einzulassen, das der Gegner anbot, sondern eigene Schläge dort zu konzentrieren, wo sie den größten Erfolg versprachen.
Cogny, durch die Umstände, die sich nach dem Absprung ergaben, mißtrauisch geworden, sah die Aufgabe als erfüllt an und befahl den Rückzug. Er ließ ein weiteres Bataillon Fallschirmjäger an der von Lang Son südwärts führenden Straße bei Loc Binh absetzen, das den Rückmarsch decken sollte. Es wäre nicht notwendig gewesen, denn die Kolonne wurde nicht angegriffen. In drückender Hitze brachte sie den langen Weg nach Hanoi hinter sich, ohne noch einen Schuß abgeben zu müssen. Cogny sprach in seinem Bericht an die Presse von einem »unheimlichen und unberechenbaren Gegner«. Aber er ließ verlauten, sein Kommando habe unübersehbare Mengen Kriegsmaterial zerstört, unter anderem mehr als 8 000 Maschinengewehre.
»Wissen Sie, was es bedeutet, achttausend Maschinengewehre eines solchen Gegners zu vernichten, meine Herren?« fragte General Navarre rhetorisch in Paris die Abgeordneten, vor denen er Vortrag zu halten hatte. Er bekam ein paar anerkennende Blicke als Antwort, keinen Beifall.
Navarre, der wegen seiner Anforderungen am 24. Juli vor den Nationalen Verteidigungsausschuß geladen war, machte aus der Aktion Lang Son eine großartige Erfolgsgeschichte. Die erhoffte Wirkung blieb allerdings aus: Niemand wandte zwar etwas gegen seinen Plan ein, aber der Verteidigungsminister bewilligte ihm – nachdem der Ausschuß beraten hatte – nur neun Bataillone Infanterie als Verstärkung. Keine Artillerie, kein Flugzeugträger. Ministerpräsident Laniel machte Navarre auf die katastrophale Wirtschafts- und Finanzlage Frankreichs aufmerksam und teilte ihm kurz angebunden mit, er neige zu der in Paris vorherrschenden Meinung, daß es Zeit sei, diesen Krieg zu beenden. Unabhängig davon, so ließ Laniel Navarre wissen, sei er selbstverständlich nicht nur für die Sicherheit der französischen Truppen in Indochina verantwortlich, sondern auch dafür, daß Laos vom weiteren Vordringen der Vietminh bewahrt würde.
Am Tage des Abflugs von Paris wurde Navarre von einem Generalskollegen, der lange Jahre in Indochina verbracht hatte, gewarnt: »Deine Idee mit Dien Bien Phu gefällt mir nicht, Henri. Abgesehen davon, daß du andere Landesteile entblößen mußt. Bei deinem Personalbestand könntest du dort in eine grausige Klemme geraten. Erinnere dich an unsere alte Erfahrung: Ein Stützpunkt, mag er noch so schön sein, ist nichts wert, wenn Logistik ausschließlich von der Transportkapazität einer unzureichenden Luftflotte abhängt und von Wetterbedingungen, die katastrophal sind …«
»Und Laos?«, lautete Navarres Gegenfrage.
Sein Freund wiegte den Kopf. »Es stimmt, sie haben dir da eine Aufgabe gestellt, wie man sie nur stellen kann, wenn man Indochina entweder nie gesehen hat oder es nicht mehr sehen will!«
In Saigon angekommen, ließ Navarre den Schlag gegen die enge Stelle des Küstengebietes zwischen Huê und Quang Tri anlaufen, wo die von vielen so genannte »Freudlose Straße«, die Hauptader in Nord-Süd-Richtung, gesichert werden sollte. Das Unternehmen mit dem Decknamen »Camargue« warf unverhältnismäßig starke Kräfte an einen nur wenige Kilometer langen Küstenstreifen: etwa 30 Bataillone, 2 Panzerregimenter, 2 Artillerieregimenter, 2 Amphibieneinheiten, gepanzerte Landungsboote, über 30 Transportflugzeuge und 20 Jagdbomber.
Ihnen gegenüber lag in den schwer zugänglichen Sumpfgebieten hinter dem Strand bis hin zur Truong-Son-Bergkette eine einzige Vietminh-Einheit: das kampferprobte Regiment 95.
Der tagelange Kampf, in dem Haubitzen die Erde umwühlten, Panzer jede Hütte niederwalzten, Einwohner kurzerhand erschossen wurden, hatte ein ebenso mageres Ergebnis wie das Kommando Lang Son. Es gelang nicht, das 95. Regiment der Volksarmee entscheidend anzuschlagen. Der Stoß ging ins Leere.
Navarre hieb wütend mit seiner Reitgerte gegen die Stiefel. Er führte diese Gerte auf Flügen oft bei sich; das war unter Offizieren der Kavallerie üblich, wenngleich die Kavallerie sich inzwischen zur mechanisierten Truppe gewandelt hatte. Nichts lief so, wie er es gern gehabt hätte. Er hatte in Saigon Meldungen bekommen, die von einer Verstärkung der Vietminh-Truppen um den Dschungelstützpunkt Na San sprachen. Routiniers unter den Auswertern meinten allerdings, es handle sich dabei lediglich um eine Auswechslung der Truppenteile, die man zur Auffrischung zurückziehen wollte. Wie dem auch sein mochte, Navarre war entschlossen, Na San zu räumen. Es wäre unklug, dort weiter Soldaten zu binden. Sie sollten besser anderswo eingesetzt werden, wo der Gegner zu schlagen war. Man würde ihm seine entscheidende Niederlage bei Dien Bien Phu beibringen. Dieser Gedanke beherrschte immer stärker Navarres Vorstellungen.
Er dekorierte Cogny, die beiden Oberste und einen Oberstleutnant für ihre Leistung bei Lang Son mit dem Croix de Guerre Indochina, dankte den zur Parade angetretenen Soldaten und zog sich dann sogleich mit Cogny zurück.
»Na San«, begann er. Sie saßen im Club der Piloten in Gia Lam. Über ihnen rotierten träge die Flügel des großen Deckenventilators. Sie verschafften keine Kühlung mehr; der Hochsommer verwandelte das Delta des Roten Flusses in einen mörderischen Brutofen. Unablässig rann den beiden Generalen der Schweiß über die Gesichter. Sie tranken lauwarmen Tee, aber er löschte den Durst auch nicht, bestenfalls regulierte er ein wenig den Wasserhaushalt im Körper, vorausgesetzt, man schluckte die vom Sanitäter verabreichten Salzpillen dazu.
Cogny widerstrebte es, einen Stützpunkt wie Na San kampflos aufzugeben. Für ihn zählten Schlachten und Siege. Aber er mußte sich letztlich den Erwägungen Navarres anschließen: Na San band Truppen, war aber strategisch im Grunde wertlos. Da es zu schwach war, Kommandos auszuschicken, bewegte sich der Verkehr der Vietminh nach Laos, in die Provinz Sam Neua einfach am Stützpunkt vorbei. Außerdem bestand bei einem unverhofften gegnerischen Angriff die unangenehme Verpflichtung, auch noch weitere Truppen dorthin zur Verstärkung zu entsenden, um eine Katastrophe zu verhindern.
»Leiten Sie alles ein«, befahl Navarre jetzt. Er hatte sich über seine Rücksprachen in Paris bisher nur vage geäußert, bis auf die hingeworfene Bemerkung, die Politiker dort seien allesamt Verräter. »In der ersten August-Dekade muß alles abgeschlossen werden. Wir müssen Zeit behalten, uns auf die Aktion Dien Bien Phu vorzubereiten. Paris läßt uns keine Wahl. Eben hat der laotische König dort einen Besuch abgestattet. Er erholt sich nämlich an der Côte d’Azur. Volle Integration von Laos in die Französische Union. Also …«
Cogny ließ