Dien Bien Phu. Harry Thürk
Gebiete vorzudringen, um uns zu kontern oder um unsere Verbindung mit Laos zu brechen, dann … könnten wir noch viel mehr gewinnen!«
Wieder wandte er sich zur Landkarte. Sein Zeigestock bezeichnete Konzentrationen der Befreiungstruppen. Dabei erläuterte er: »Hier, hier und hier … können wir genügend reguläre Truppen schnell verfügbar machen, und die würden einen Gegner angreifen, dessen logistische Linien so weit ausgedehnt sind, daß seine Materialüberlegenheit nur noch sehr bedingt zum Tragen kommt. Genossen, darin könnte eine wichtige Vorentscheidung für unseren Kampf liegen!«
Eine Pause trat ein. Jeder hatte zuerst einmal darüber nachzudenken, was Giap da vorschlug. Dann wurden Fragen gestellt, nach Bewaffnung und Transportmöglichkeiten, nach Routen für die schnelle Verlegung von Einheiten, und immer wieder wurden die an den Wänden aufgehängten Karten konsultiert.
Ho Chi Minh, das dunkelbraune Bauernhemd weit aufgeknöpft, lauschte den Gesprächen. Er war stolz darauf, daß es diese Offiziere gab, Giap, Van Tien Dung, all die anderen, die von der Volksrevolution hervorgebracht worden waren und die im Kampf lernten, wie das Kriegshandwerk, von dem die Franzosen meinten, nur sie beherrschten es, gehandhabt wurde.
Hier, in den Bergen des Nordens, wuchsen die Männer heran, die nicht nur die gegenwärtigen Aufgaben lösen sollten – sie würden in einer Zukunft, die noch weit entfernt war, das Land endgültig zur gesicherten Unabhängigkeit und Freiheit führen.
»Fliegeralarm!«, rief Anh Chu in die Felsgrotte, in der die Beratung stattfand. Gleichzeitig schlug einer seiner Posten an eine im Freien aufgehängte Kartusche, was einen glockenähnlichen Ton weithin hallen ließ. Überall erstarben die Bewegungen. Schützen krochen unter ihr Tarnzeug, langsam wurden die Läufe der Fla-MGs hochgekurbelt – es gab den Befehl, nur dann zu schießen, wenn der gegnerische Flieger das Hauptquartier direkt angriff.
General Giap legte den Bleistift, mit dem er sich Notizen machte, nicht aus der Hand. Er zeichnete Pfeile in die Karte, die nach Lai Chau wiesen. Fünf reguläre Divisionen sind verfügbar, überlegte er, ein beachtliches Potential: die 304., 308., 312., 316. und die 320. Dazu kam die »Schwere«, das war die 351., mit zwei Artillerieregimentern, einem Pionierregiment, Panzern und anderem Gerät. Es galt, sie klug einzusetzen, diese Truppen, die aus Partisanengruppen hervorgegangen waren. Und man mußte ihren Nachschub sichern. Die Volksarmee verfügte nur über wenige Lastwagen. Doch auch sie würden höchstens nachts fahren können, weil der Gegner Aufklärer in der Luft hatte und die voll beladenen Fahrzeuge ein willkommenes Ziel für Schlachtflieger sein würden. Alles, was eine kämpfende Einheit brauchte, mußte deshalb von freiwilligen Trägern, den Dan Cong, herangeschafft werden. Viele waren Frauen; manche trugen neben der Last noch einen Säugling. In letzter Zeit hatte man mehr Fahrräder einsetzen können. Damit konnte man bis zu sechs Zentner Last befördern, so geschickt hatte man die Konstruktion verstärkt. Aber noch waren Fahrräder knapp, wenngleich in den befreiten Gebieten fieberhaft am Bau dieser einfachen Transportmittel gearbeitet wurde.
Der Vierzigjährige mit der hohen Stirn, der die Streitkräfte der Republik befehligte, drehte den Stift zwischen den Fingern. Er hatte erst am Nachmittag eine Kolonne weiblicher Träger vorbeiziehen sehen, und er war dabei, wie oft, an das Schicksal seiner Frau erinnert worden. Sie hatte wie er die Landsleute zur Erringung der Unabhängigkeit ermutigt. Ein französisches Gericht, das in Hanoi residierte, verurteilte sie zu lebenslänglicher Haft. Sie war im Gefängnis gestorben, während ihr Mann in den Bergen kämpfte. Seitdem suchte der Oberbefehlshaber zuweilen in den Gesichtern weiblicher Soldaten ihre Züge; er blickte Kindern nach, als wären es die eigenen.
Vo Nguyen Giap hatte als junger Mann mit der ihm eigenen Beharrlichkeit an der Hanoier Universität Philosophie und Jura studiert, später hatte er an einer Schule jungen Menschen vietnamesische Geschichte gelehrt. Es war seine Überzeugung, daß tiefes Verständnis für die eigene Geschichte Patrioten erzog. Und die brauchte Vietnam, wenn es leben wollte. Wie weit lag diese Tätigkeit schon zurück!
Als der General dahinterkam, daß der Postenführer des Hauptquartiers ein Tagebuch schrieb, ließ er es sich zeigen. Eigentlich wollte er dem Soldaten Anh Chu eine Belehrung erteilen: Man trug als Kämpfer kein Tagebuch bei sich. Wenn der Feind es erbeutete, könnte er Schlüsse daraus ziehen, unter denen andere Kameraden zu leiden hätten. Doch als Giap las, daß es sich bei den Notizen um historische Reminiszenzen handelte, Zeugnisse eines Studiums der Geschichte Vietnams, das die Franzosen so gern als geschichtslos hinstellten, lobte er Anh Chu und ermunterte ihn weiterzumachen.
Giap widmete sich wieder der Karte. Sollte der Teufel das Flugzeug da oben holen. Es beunruhigte ihn nicht. Selbst wenn er den Passagier gekannt hätte, wäre er nur schwerlich nervös geworden.
General Navarre saß neben dem Piloten der von den Amerikanern gelieferten »Dakota« und starrte mit seinem Fernglas nach unten. Durch das verschmutzte Kanzelfenster verschleiert, erkannte er unermeßliche blaugrüne Waldgebiete. Dazwischen lagen verkarstete Höhenzüge, faltige Erdaufwürfe mit ausgetrocknetem rostrotem Elefantengras. Hin und wieder öffneten sich Täler, in denen Siedlungen zu erkennen waren; an den Hängen schimmerten schlammige Reisterrassen. Und Flußläufe gab es. Sie blinkten im Sonnenlicht auf wie Silberfäden. Kleine Streifen gelber Erde markierten Fahrwege, so schmal wie ein Büffelkarren. Land ohne Maßstäbe, dachte Navarre, der Kavallerist, dem die mechanisierte Kriegführung vorschwebte, die alles hinwegfegende Offensive mit der stählernen Faust der Panzer und Haubitzen.
Wo soll man hier Panzer einsetzen? Es ist nicht das Gelände dafür. Artillerie? Eine Hundearbeit, Geschütze zu transportieren! Er begann sich vorzustellen, wie einem Infanteristen zumute sein mußte, der in diesem Gewirr von uralten Bäumen, Lianen, Gebüsch und fauligem Unterholz ein Deckungsloch grub. Und was tat er, um nicht nur persönlichen Schutz zu haben, sondern auch noch ein Schußfeld? Selbst Motorsägen würden Schwierigkeiten haben …
»Da unten sitzen sie«, machte der Pilot ihn aufmerksam, »irgendwo. Sogar unsere besten Aufklärer bringen nur selten brauchbare Aufnahmen mit nach Hause.«
»Meister der Tarnung. Ich habe davon gehört!«
»Nicht nur das. Sie haben ein System entwickelt, selbst größere Truppenteile so zu verstecken, daß man nicht einmal ein paar Reifenspuren sieht.«
»Was haben sie denn mit Reifen?«, erkundigte sich Navarre ironisch. »Büffelkarren?«
»Fahrräder«, antwortete der Pilot. Er flog, weil der General es so wollte, in etwa sechshundert Meter Höhe, und ihm war nicht sehr wohl dabei. »Neben den Fahrrädern haben sie so ziemlich alles, was die Amerikaner in Korea liegenlassen mußten. Die Chinesen haben es zusammengelesen und den Vietminh gespendet: 105-mm-Haubitzen, 81-mm-Granatwerfer, rückstoßfreie Geschütze, Bazookas, und Unmengen von Munition für jeden Zweck.«
»Flugzeuge?«
»Keine. Aber 37-mm-Flak. Unangenehm.« Der General wurde auf ein schmales bräunliches Band aufmerksam, das westwärts verlief. Der Pilot erklärte ihm, es sei die Straße nach Lai Chau. Befahrbar zwar, aber von Vietminh-Kommandos beherrscht, die jedem Konvoi verlustreiche Hinterhalte zu legen pflegten. Lai Chau war der letzte größere französische Stützpunkt im Nordwesten. Als der Ort zu sehen war, die Erdaufwürfe der Befestigungen, das Zickzackgewirr der Verbindungsgräben, die MG-Nester, ließ Navarre die Maschine ein paar Runden fliegen und sah immer wieder unschlüssig auf die Karte, die er auf den Knien ausgebreitet hatte. Schließlich bemerkte er zu dem Piloten, der den Krieg aus jahrelanger Erfahrung kannte: »Wer mit stärkeren Kräften nach Laos will, muß Lai Chau überwinden, soviel steht fest!«
»Er kann auch achtzig Kilometer weiter südlich operieren. Bei Dien Bien Phu. Gehörte mal uns. Außenposten. Habe gehört jetzt soll dort ein Vietminh-Regiment liegen.«
»Dien Bien Phu?« Der General suchte auf seiner Karte, bis er den Ort gefunden hatte.
Der Pilot klärte ihn auf: »Heißt wörtlich übersetzt ›Große Kreisstadt an der Landesgrenze‹. Weniger eine Stadt. Eben so eine Häufung von Siedlungen in einem ziemlich geräumigen Tal. Die Straße, die Sie jetzt sehen, mon Général, da unten, dieser lächerliche Wanderweg, den man stellenweise nicht sieht weil er zugewachsen ist, das ist die sogenannte Pavie-Piste.