Dien Bien Phu. Harry Thürk
ziemliches Chaos, wenn man es aus der Perspektive der Politik betrachtete. Das Land war wirtschaftlich am Ende seiner Kräfte und dabei mit einem Krieg belastet. Ministerpräsident Mayer war gestürzt, der als Ersatz bestallte Joseph Laniel wurde selbst von sehr gutwilligen Leuten nur als Lückenbüßer betrachtet. Politische Entscheidungen zu fällen wurde immer komplizierter. Frankreich erlebte die tiefste Krise seit dem Neubeginn 1945.
Als General Navarre dem neuen Ministerpräsidenten von Saigon aus mitteilte, er bereite sich auf eine Reise nach Paris vor, um ihm seinen Plan für das weitere Vorgehen in Indochina darzulegen und zugleich notwendige Verstärkungen anzufordern, kam aus Laniels Sekretariat die Zurechtweisung, man halte es nicht für angebracht, daß der Oberkommandierende seinen neuen Posten schon vier Wochen nach Dienstantritt wieder verlasse. Als Navarre, der sich gerade für die Konferenz mit seinem Indochina-Generalstab in Saigon rüstete, auf der er seinen engsten Mitarbeitern die Planung für die nächsten Schritte im Feldzug unterbreiten wollte, das Fernschreiben aus Paris übergeben wurde, hielt er es hoch und fragte seinen Adjutanten: »Laniel? Wer ist Herr Laniel? Jemals von jemandem dieses Namens gehört?«
Der Adjutant wagte keine Antwort. Da legte Navarre das Papier, das er nur an einer Ecke mit zwei Fingern gefaßt hatte, als sei es schmutzig, betont lässig weg und erklärte: »Meine Reise nach Paris wird vorbereitet. Wo kämen wir hin, wenn irgendein Zivilist, der nun gerade einmal gewählt wurde, einem französischen General vorschreibt, was für seinen Kriegsschauplatz wichtig ist und was nicht. Wir werden diesmal aufpassen, daß nicht wieder solche Volksfrontsitten bei uns einreißen!«
Wenig später erläuterte er dem Indochina-Generalstab seine Entschlüsse. Sie wurden – obwohl nie schriftlich fixiert – fortan als »Navarre-Plan« bezeichnet. Henri Navarre, nicht sehr groß von Wuchs, aber voller Energie, ein Mann, der Widerspruch nicht schätzte, legte auch wenig Wert auf eine Diskussion seiner Entscheidungen – er teilte sie seinen Generalstäblern als Weisungen mit.
»Ich bin zu der Auffassung gelangt, daß wir im Norden und Nordwesten eine möglichst bewegliche Barriere zwischen das Kerngebiet der Vietminh und deren laotische Verbündete legen müssen. Dadurch halten wir ihre Kräfte gespalten. Lai Chau muß zu diesem Zweck verstärkt werden. Das aufgegebene Becken von Dien Bien Phu müssen wir wieder besetzen und befestigen. Zwischen den beiden befestigten Punkten muß durch ständige Patrouillen gleichsam ein Riegel entstehen. Weitere Vorstöße sollten das Gelände bis weit nach Laos hinein für die Vietminh unsicher machen …«
Er pausierte nur kurz, um die beiden Orte auf der Kriegskarte zu bezeichnen. Dann wandte er sich einer anderen Gegend des Landes zu, der engsten Stelle in Zentralvietnam, zwischen dem 17. und 18. Breitengrad.
»Hier, meine Herren, liegt ein neuralgischer Punkt. Wir müssen ihn beseitigen. Die Straße Nr. 1, die hier in Nord-Süd-Richtung verläuft, ist die einzige ernst zu nehmende Verkehrsader in diesem Flaschenhals. Gegenwärtig haben wir sie nicht im Besitz. Wir müssen sie den Vietminh entreißen, erstens, um sie wieder für französische Transporte zu nutzen, und zweitens, um sie für die Verschiebung von Vietminh-Verbänden zu sperren, etwa nordwärts, wenn wir dort mit der Dezimierung der Kerngebiete der Vietminh beginnen …«
Als nächstes widmete er sich der Lage im zentralen Hochland. Er erachtete es für möglich, größere Teile dieses Gebietes durch Einheiten einheimischer Söldner sichern zu lassen. Das Rückgrat sollten mobile französische Kampfgruppen liefern. Auf diese Weise könnten auch aus dem Hochland immer mehr französische Truppen abgezogen und für Kommandoaktionen und Offensiven gegen das nördliche Kerngebiet der Vietminh eingesetzt werden. Überhaupt, so betonte Navarre, sollten alle jene Gebiete des Landes, in denen die Vietminh nicht operativ wären, fortschreitend durch vietnamesische Söldner in französischen Diensten gesichert werden, damit sich die französischen Truppen einschließlich der Fremdenlegion fortan lediglich auf offensives Zuschlagen konzentrieren könnten, strategisch also in die Offensive kämen. Dies sei der Hauptpunkt seiner Überlegungen: den Krieg durch französische Angriffstätigkeit zu entscheiden, statt wie bisher, in der Verteidigung des gerade noch haltbaren Territoriums zu verharren.
»Zurück zum Nordwesten«, sagte Navarre dann. Die Stimme des stets um schneidige Haltung bemühten Kavallerieoffiziers wurde scharf. »Es gibt Anzeichen dafür, daß die Kommunisten uns dort am heftigsten bekämpfen werden. Schließlich ist dieses Gebiet ihr wichtigstes Hinterland. Also – wir legen es bewußt darauf an, daß sie sich mit stärkeren Kräften, möglichst mit dem Kern ihrer Armee, bei Lai Chau oder bei Dien Bien Phu oder überhaupt in dieser Gegend zum Kampf stellen. Tun sie das, können wir unsere materielle Überlegenheit voll ausspielen und sie buchstäblich zum Verhandlungstisch prügeln. Dort haben sie dann zu unterschreiben, was wir ihnen vorlegen. Wir. Übrigens, sollten sie sich entschließen, uns eine Entscheidungsschlacht im Delta des Roten Flusses zu liefern, können wir auch dort durch schnelles Verlegen mobiler Kräfte mit Übermacht reagieren …«
Ein bebrillter Herr in der bescheidenen Uniform eines US-Colonels, der sich im Hintergrund hielt, war mit Navarres Darlegungen sehr einverstanden. Man hatte am Abend zuvor im Hauptquartier der US-MAAG (Militärische Hilfs- und Beratungsgruppe) schon über Einzelheiten gesprochen. Es gab Bedingungen, unter denen Amerika sein Engagement weiter steigern werde, und Navarre war bereit, sie zu erfüllen. So würden jetzt Träger der 7. US-Flotte auf den Golf von Tongking zulaufen, um bereitzustehen, wenn Lufttransportraum benötigt wurde.
Gleichzeitig hatte Navarre zugesagt, sich absolut taub zu stellen, wenn man in Paris etwa die Frage an ihn herantragen sollte, weshalb die Produktionskapazität der französischen Fabriken in Vietnam weiter sank, weshalb immer mehr Unternehmer ihre Betriebe verlegten, oder – was schlimmer war – sie an Strohmänner amerikanischer Konzerne verkauften, die sie zunächst stillegten, bis die Verhältnisse im Lande wieder Profit zuließen.
Die Bank von Indochina, eines der finanzkräftigsten Unternehmen Frankreichs in Asien, baute ab, verlegte ihren Kapitalbestand nach Madagaskar. Automatisch traten bisher unscheinbare andere Banken an ihre Stelle. Es war längst in eingeweihten Kreisen bekannt, daß hinter ihnen US-amerikanisches Kapital stand. Die Zukunft zeichnete sich ab: Frankreich sollte den Krieg mit dem Blut seiner Soldaten und dem Stahlblech, dem Napalm seiner US-Verbündeten zu einem Ende bringen. Daraufhin würde dann das ausgeruhte, geschäftlich bereits gut etablierte US-Amerika die Regie übernehmen.
Navarre kannte diese Zusammenhänge. Aber er redete sich ein, Militär zu sein, nicht Politiker, und er konnte seine Aufgabe nur mit Hilfe der USA erfüllen. Mochten sich die Politiker um die Konsequenzen kümmern, die gingen ihn nichts an. Als er die Stabsberatung beendete, wünschte ihm der Herr Chefberater der US-MAAG an der Tür, wo er auf ihn wartete, einen guten Flug nach Paris.
Cogny, mürrisch, weil er aus seinen Delta-Stellungen Truppen für die Aktion gegen den Vietminh-Nachschub würde abzweigen müssen, aber auch für die spätere Besetzung von Dien Bien Phu, versprach Navarre nochmals, daß er in spätestens zehn Tagen weit oben im Norden zuschlagen werde. Dann legte er die Hand ans Képi, was er so gern tat, nur daß bei dieser Verabschiedung nach der Stabsbesprechung niemand fotografierte, weil das alles höchst geheim war.
Es waren auch keine Fotografen da, als General Navarre in Orly eintraf. Der General stieg auf dem Pariser Flughafen in einen Wagen des Generalstabs, wurde zu seiner Wohnung gefahren und am nächsten Morgen von Laniel empfangen. Der hörte sich den Bericht über die Indochina-Kriegsplanung mit relativ geringem Interesse an. Er verstand nichts von Kriegsführung, aber hatte wohl auch keine Lust, sich mit dem General anzulegen. Deshalb beschränkte er sich auf Kenntnisnahme der Absicht Navarres. Als der General ihm die Forderungen vorlegte, die er für die Weiterführung des Krieges hatte, verwies ihn Laniel an die Chefs der Streitkräfte.
Von da an begann Navarre seinen Bittgang, bei dem es ihm um eine entscheidende Aufstockung seines Potentials in Vietnam ging. Er beantragte an Verstärkungen:
12 Infanteriebataillone,
1 Fallschirmjägerabteilung,
3 000 Offiziere und Unteroffiziere, zur Verstärkung der mittleren und unteren Kommandoebenen,
100 gepanzerte Transportfahrzeuge,
50 flußgängige Kanonenboote und
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