Ketzerhaus. Ivonne Hübner
so, als habe sie sie selbst erlebt? Wohin Andres damals gereist war, hatte Elsa vergessen. Irgendwas Italienisches.
Die Schuhe, die Michels Vater herstellte, waren nicht zu vergleichen mit den italienischen und trotzdem so hochwertig, dass Michel Anwartschaften auf gut Bürgerliche anmelden durfte. Wahrscheinlich, so überlegte Elsa, war Peternelle das gar nicht klar. Doch würde diese Erkenntnis Peternelle dann hart treffen, wenn der reiche Schustersohn die gut betuchte Posamentenmachertochter heiratete, wovon der Klatsch zu berichten wusste, wovor Peternelle aber vehement die Ohren verschloss. Die Posamententochter war sehr schön.
Für Elsa war es nicht schwer, andere Mädchen schön zu finden, denn in einem jeden meinte sie, den Spiegel ihrer eigenen Makel zu finden. Sie hätte es nicht benennen können, aber ihrer Nasenspitze fehlte der freche Stups, sie folgte schnurgerade dem vorgezeichneten Weg. Ihrem Haar mangelte es am Gold des Honigs. Sie war froh, es unter der Haube verstecken zu können, so fiel der Schlag ins Rote nicht auf, wenn man es nicht wusste. Ihren Wangen ging jenes Rosé von verdünntem Wein ab, das im Allgemeinen ein Attribut für Gesundheit war. Elsas Wangen waren blass. Ihre Lippen waren nicht zu vergleichen mit saftigen Erdbeeren, und ihre Augen waren weit entfernt vom Strahlen eines Sonnentages. Ihre Augen waren grau oder graugrün mit braunen Sprenkeln. Oder braun mit blauen und grünen Sprenkeln. Ihre Augenfarbe war auf der dunklen Wasseroberfläche in den Putzeimern schwer zu deuten. Doch ihre Brüste, waren gut: rund, nicht zu voll, nicht zu platt, hingen nicht, standen nicht ordinär ab. Das lederbraune Rund saß genau mittig und reckte seine zartrosa Knospe mutig der Welt entgegen. Das nützte ihr aber nichts. Mit ihren Brüsten konnte sie kaum hausieren gehen. Gott bewahre! Elsa konnte sie nicht für sich sprechen lassen, um auf dem Markt die Preise zu drücken.
„Nun komm endlich!“, knurrte Peternelle und zerrte Elsa am Arm mit sich, sodass die einen ihrer Holzschuhe verlor. Sie stolperte mindestens einmal am Tage über ihre eigenen Füße. Sie wusste nie so recht, wohin mit ihren Gliedmaßen, die stets und ständig im Wege zu sein schienen.
Elsa griff nach ihrem Schuh. Doch sie langte ins Leere, weil der von irgendwem weggestoßen wurde. Wer fluchte wütender? Elsa oder Peternelle? Elsa verfolgte auf allen Vieren ihre schlitternde Pantine. Diese wurde von den Marktgängern unwissentlich vorangeschoben und torkelte über das Pflaster wie ein Hühnerei. Elsa ließ ihren Schuh auch nicht aus den Augen, als die Menschenbeine dicht wie ein Wald vor ihr aufragten. Und dann, endlich lichtete sich der Wald und Elsa hechtete auf den freien Plan, bekam das Schuhwerk zu fassen und richtete sich auf.
Tosender Applaus. Elsas Blick streifte die Masse von Leuten, die im Halbrund um sie standen: jubelnd, und klatschend.
Sie war verwirrt und ihre Blicke landeten passgenau in Johanna Hinterthurs schockstarren Augen.
„Wenn du dich endlich davonbewegen würdest“, sagte eine knorrige Stimme hinter ihr. Elsa wandte sich um und entdeckte den Marktschreier, dem sie vors Podest gerannt war. Der Applaus hatte nicht ihr gegolten. Das Gejohle war seiner neuesten Verkündigung gezollt worden. Mit frischer Zunge düngte er die Köpfe der Leute und zeitigte die Neuigkeiten, die seit zwei Tagen die Menschen der Stadt beschäftigten.
Elsa zog die Pantine an und den Kopf ein. Sie huschte in Richtung der Menschengruppe und stellte sich neben Andres’ Schwester Johanna, dunkelblau gewandet wie die Jungfrau Maria. Der Blick, den sie dem Schreier widmete, war kalt und Elsa entging nicht, dass ihr, Johanna, von einigen Umherstehenden scheele Blicke zugeworfen wurden. Es dürfte nur allzu bekannt sein, dass sie die Schwester des als Ketzer Verschrienen war. Das, was der Neuigkeitenerzähler zum Besten gab, handelte von Gottesstrafe, vom Jüngsten Gericht und davon, dass keine ehrbare Menschenseele in Versuchung geraten dürfe, einem flüchtigen Ketzer Schutz zu bieten. Worte wie „Blasphemie“, „Haeresis“ und „Ächtung“ schwappten herüber. Johanna bedachte Elsa nicht mit ihrer Aufmerksamkeit, als sie grollte: „Er beschmutzt mein Ansehen. Das Ansehen meines Mannes!“ Dass sie nicht den Schreier, sondern ihren Bruder meinte, begriff Elsa. Sie legte der anderen teilnahmsvoll die Hand auf den Unterarm, mehr konnte sie für Johanna nicht tun. Diese schien von der Berührung kaum Notiz zu nehmen, wandte sich um und wurde von der Menschenmenge geschluckt.
Elsa schaute noch einen Moment Johannas dunkelblauem Atlas hinterher, dann begab sie sich auf die Suche nach Peternelle. Die Stimme des Marktschreiers wurde faserig wie zu lange gereifter Kohlrabi, dann verschwammen die Worte wie Eierflocken im Eintopf und bald waren sie von der hungrigen Meute aufgefressen.
Kaum entdeckt, schimpfte Peternelle mit ihr wie mit einem ungezogenen Kind. Die maulte, weil die Preise von Minute zu Minute stiegen. Kohl, Rüben, Zwiebeln und Honig musste auf Vorrat beschafft werden. Die vorweihnachtliche Fastenzeit hatte vor Kurzem begonnen. Bis Weihnachten durfte kein Fleisch mehr gegessen werden und auch keine Butter. Elsa erinnerte sich, dass Orwid Hinterthur einmal behauptet hatte, das Weihnachtsfasten sei erfunden worden, weil im Winter die Lebensmittel so knapp wurden, dass die Königshöfe, der Kaiserhof und der Heilige Stuhl befürchteten, zu wenig zu essen zu kriegen. Aus diesem Grunde müsse von den Armen genommen werden. Elsa war zwar schon erwachsen und heiratsfähig, aber sie wusste bis heut nicht, ob Orwid Hinterthur recht hatte oder nicht.
Peternelle blieb abrupt stehen, als habe sie die heilige Gans erspäht. Elsa, ihre Schulter reibend, die sie an Peternelles Rücken gestoßen hatte, folgte dem Blick der anderen und schaute hinüber zum Marktschreier, den Peternelle vorhin gern ignoriert hatte. „Woran ist der alte Hinterthur eigentlich gestorben?“
„Weiß ich nicht“, antwortete Elsa
„Wieso weißt du das nicht? Ihr habt doch in derselben Parochie gelebt, oder nicht?“
Elsa wunderte sich nicht über Peternelles Neugier. „Ich glaube, es war eine Krankheit. Wieso fragst du?“
„Vielleicht sind sie von der Erbsünde befallen?“ Peternelle ruckte mit dem Kinn aufmüpfig Richtung Marktschreier. „Vielleicht hat der Andres das Gleiche angestellt wie sein Vater?“
„Er ist an einer Krankheit gestorben“, rebellierte Elsa, obwohl sie den Wahrheitsgehalt ihrer Worte nicht kannte.
„Aber du weißt es nicht sicher! Komm hier herüber. Die sehen gut aus“, riss Peternelle sie am Arm und aus ihren Gedanken. Die Grünkohlköpfe, die in der Kiepe auf Elsas Rücken wanderten, waren nicht die schönsten, aber immer noch besser als das, was man noch kriegte, wenn die Meute sich vom Marktschreier losgemacht und über das Gemüse hergefallen sein würde. „Woran erkennt man so einen Ketzer, wenn man einen vor der Nase hat?“, fragte Elsa, deren Gedanken um nichts anderes kreisten.
Der Bauer hinter dem Warentisch wandte sich zu ihr: „An der riesigen Nase, der Warze darauf und den struppigen Haaren.“ Er tippte jedes benannte Körperteil an. Der Mann nickte zu seinen Worten und beteuerte im Brustton der Überzeugung weiter, die meisten Ketzer hätten eine verkrüppelte Hand. „Oder ein kaputtes Bein und hinken. Manche haben auch verdrehte Finger, genau wie der Gehörnte.“ Dieses Mal fuchtelte der Bauer wissend mit den Händen herum. Die Riemen der Kiepe schnitten in Elsas Schultern, das Gewicht der Kohlköpfe zog sie nach hinten, als sie den Bauern entlohnten und gingen.
Peternelle feilschte nicht schlecht um drei Dutzend rote Rüben, ebenso viele Lauchstängel, Zwiebeln und zwei Beutel Erbsen. Davon nahm Peternelle eine Handvoll und stopfte sie in Elsas Umhangtasche. Ein verschwörerischer Blick wurde zwischen den Mädchen getauscht. „Und ein Weck für Anneruth, wenn ich etwas länger bleiben darf.“ Elsa nickte und Peternelle steckte ihr auch den zu.
Die Kiepe war so entsetzlich schwer, dass Elsa sich ihrer bei Peternelle entledigte. Sie würde sie später nach deren Stelldichein wieder in Empfang nehmen. Viel leichter und geschwinder jetzt verschwand Elsa in östliche Richtung. Verließ den Ring entlang der Brüderstraße gen Süden, um hier, am Kloster vorbei an der Südseite des Neumarktes hinüber zum Frauentor zu gelangen. Das Steintor neben dem dicken Turm war ein trutziger Bogen, ein offenes Maul, das schrie: Hier herein und von hier fort kommt niemand unbemerkt. Über dem Torbogen prangte das Stadtwappen, umgeben von den Steinbildern. Die zeigten Maria und Barbara und eine Inschrift, die Elsa nicht entziffern konnte, weil sie das Alphabet nur bis zum P kannte und auch dies nur noch unsicher. Seit der Lehrzeit bei ihrer Mutter hatte Elsa nie wieder den Antrieb und schon gar nicht die Zeit