Ketzerhaus. Ivonne Hübner
Andres Hinterthur und besagter Carolina Müllerin zu wissen glaubte. Wie sich die Menschen die Mäuler über andere zerrissen, widerte Elsa an.
Eigentlich konnte Peternelle einem Leid tun, überlegte Elsa. Bildete sie sich tatsächlich ein, das Rätsel um die drei Geächteten lösen zu können? Sie beobachtete die erste Magd, die all ihr Halbwissen gestenreich zum Besten gab. Elsa entschied, der Reinhilde beim Hüten des Dachboden-Geheimnisses beizustehen. Ganz gleich, wie gemein und herrisch sie auch war. Weder Reinhilde noch sonst jemand hatten es verdient, von einer Klatschtante wie Peternelle zerfetzt zu werden!
„Andres ist an der Universität“, sagte Elsa in der Hoffnung, Peternelle würde es dabei bewenden lassen. Sie hatte alle Hände mit der quellenden Hirse zu tun, die am Morgen aufgetischt werden würde.
Peternelles Blicke brannten in ihrem Nacken. „So denkt man, ja.“ Dünnlippige Besserwisserstimme.
„Wo soll er sonst sein? Er ist Student. Allemal studieren und pilgern tun die.“ Sie hatte bereits den Gutenachtgruß entboten, umrundet schon den Treppenpfosten zur Bodenstiege, da kam es schneidender als vorhin von Peternelle: „Wohl kaum! Sonst wäre er nicht in der Acht.“
Elsa hielt dem Blick der anderen stand.
Peternelle zeigte ein schiefes Lächeln, bevor sie schulmeisterte: „Klugheit und Schlauheit sind nicht dasselbe. Und nur weil einer klug genug ist, an der Uniservität angenommen zu werden, heißt es nicht, dass er auch schlau genug ist, unbescholten durchs Leben zu gehen. Also, was auch immer die feinen Herren Studenten getan haben. Es ist der Obrigkeit zwei Dukaten wert, sie zu fassen und büßen zu lassen.“
Elsa hätte Andres Hinterthur und seine Mutter mannigfach verteidigen können, tat es aber nicht, weil es Verdacht geschürt hätte. So nickte sie und wiederholte den Gutenachtgruß.
16
Hölle, Fegefeuer und Himmel scheinen mir sich
in der Weise voneinander zu unterscheiden,
wie Verzweiflung, annähernde Verzweiflung
und Heilsgewissheit.
Elsa fand nicht in den Schlaf und wollte nicht mit der anderen reden, als diese sich auf das Strohlager drängelte. Die zwei Gulden kreisten vor Elsas innerem Auge umher. Zwei Golddukaten! So viel Geld! Einer davon entsprach sechsundneunzig Groschen. Wenn man davon absah, dass man für sechsundneunzig Groschen heute nicht mehr so viel bekam wie gestern, war es dennoch eine ordentliche Summe. Wenn Elsa Andres meldete, konnte sie ihre Familie mit zwei Golddukaten gut ein halbes Jahr lang ordentlich ernähren! Wenn aber herauskam, dass sie Andres verpfiff, würde Reinhilde sie achtkantig aus der Wirtschaft werfen und Elsas Familie würde am Bettelstab hängen, sobald die beiden Goldstücke aufgebraucht wären. War das eine Option für Elsa?
Reinhilde hatte sich die Abhängigkeit von Elsas Sippe gesichert, indem sie den Armengroschen für das Jakobsstift, in dem Katharina Mälzer und die drei übrigen Töchter lebten, zahlte. Sie hatte Elsa in den Dienst genommen, sich Gottes Segen und einen Platz im Paradies durch ihre übergroße Mildtätigkeit gesichert, welche Elsas Familie vor den Toren der Stadt als Recht- und Mittellose im Stiftshof leben ließ. Würden zwei Gulden vielleicht genügen, um irgendwo ein Zimmer zu kaufen? Alles wäre besser als das Jakobsstift, in dem selbst die kleine Irmel hart anpacken musste.
Was konnte Andres Hinterthur angestellt haben, dass er zwei Gulden wert war? Und davon, dass er es war, der zehn Schritt entfernt in der Kammer lag und Qualen litt, war Elsa inzwischen felsenfest überzeugt. Wieso versteckte ihn seine Mutter, wo doch sein Name mehrmals täglich ausgerufen wurde? Andres Hinterthur ein Verbrecher, Gefahr für Kirche und Krone? Reinhilde gefährdete alles, was sie aufgebaut hatte, indem sie sich zur Komplizin eines Geächteten machte. Elsa durchfuhr es eiskalt. Und sie selbst auch! Sie selbst war die Komplizin der Komplizin! Sie bekreuzigte sich und faltete die Hände zum innigen Gebet. Jeder wusste: Wer in der Acht war, galt als rechtlos, dem stand weder Brot noch Bett zu. Wer einen Geächteten einfing oder gar tötete, galt nicht als Verbrecher. Ihm drohte keine Strafe. Wer jedoch einem Geächteten half, für den galt dasselbe: das Todesurteil.
Erinnerungen an ihre Kindertage kreuzten ihre Gedanken: Andres, der stille, blasse Junge, unter dem Baum sitzend, über ihm die Bibel schwebend wie ein Heiligenschein; Andres versunken ins Tischgebet in der elterlichen Brauerei und wie er ihr aus der Patsche geholfen hatte, als ihr Krug umgekippt war. Andres, dem sie und Jost so unsagbar viele Streiche gespielt hatten. Und jetzt hatte man zwei Gulden auf ihn gesetzt und nannte ihn einen Ketzer! Elsa verstand das alles nicht.
Es gab nur eine Lösung für das Rätsel: Andres war vom Leibhaftigen heimgesucht! So musste es sein. Man sagte, der Teufel komme in jeglicher Gestalt, nistete sich in den Arglosen ein, benutzte ihre Schwäche für seine Ziele. Was, wenn Andres Hinterthur genau das passiert war und er vom Beelzebub beseelt in der Kammer lag und das Böse in ihm nur darauf wartete, dass die Hülle verschied, damit er sich das nächste Opfer suchen konnte? Frauen waren bevorzugte Opfer des Teufels. Und Frauen waren schon für weniger auf dem Scheiterhaufen gelandet, durchfuhr es Elsa, sodass sie sich vor Schreck dreimal bekreuzigte.
Als sie endlich eingeschlafen war, träumte sie von einer blutüberströmten Fratze, die sie heimsuchte und zum Stillschweigen verdammte. Einen verdrehten, kaputten Finger führte der Fremde an die verschorften Lippen. In ihrem Traum hatte Elsa Wassereimer geschleppt und als sie ihr eigenes Spiegelbild in der Wasseroberfläche betrachtete, sah sie, dass ihr Mund mit fettem Zwirn zugenäht war. Ihr Traum-Ich schüttete die Wassereimer aus, in einen Fluss, einem teils zugefrorenen Fluss, unter dessen Eisschicht der Fremde gesogen wurde.
Es variierte, wenn sie von Josts Tod träumte, doch wachte sie stets schweißgebadet auf.
Elsa war verunsichert und fahrig. Ihr gelang nicht viel an diesem Vormittag und deshalb beschloss sie, ihrer Mutter einen längst überfälligen Besuch abzustatten. Ihre Mutter wusste bestimmt, was man zum Schutz vor dem Beelzebub im Hause tun konnte, ohne, dass sie ihr verraten musste, was genau sich in der Nikolaigasse abspielte.
Wie es die Fügung wollte, war Markttag. Elsa machte sich gemeinsam mit Peternelle auf den Weg zum Ringmarkt. Dieser fand sich nur wenige Schritte die Neißgasse westwärts bergan. Es war ein sich ringartig um die Stadtwaage schmiegender Platz. Schon nach wenigen Schritten die kleine Anhöhe empor war Elsa vom strengen Wind so durchgefroren, dass sie ihre Zehen in den harten Holzschuhen kaum mehr spürte. Die leere Kiepe auf ihrem Rücken wog jetzt schon so schwer, dass sie ganz außer Atem war.
Elsa mochte nicht die vielen Menschen auf dem Markt. Sie verabscheute die Leiber, die sich an ihren Körper drückten. Sie hatte ab einem bestimmten Alter festgestellt, dass es die älteren Männer waren, die sich im Getümmel absichtlich eng an die Mädchen drückten, die Hände dann entschuldigend vor die Brust hoben, nicht ohne die der Mädchen zu streifen. Das hasste sie. Sie konnte den Gestank nicht leiden, der jedem einzelnen Körper entströmte. In einem reinen Körper stecke eine unreine Seele ging die Weisheit. Deshalb wuschen sich die Leute selten. Zumindest die Männer wuschen sich so gut wie nie. Und spätestens wenn die Frauen aus ihren Tagen waren, wuschen auch sie sich nicht. Schlimmer noch als der Geruch war der Lärm. Dieses schnaufende Ungetüm einer hundertköpfigen Schlange schnappte und kreischte, brüllte, ächzte, lachte, pfiff und schimpfte. Aber mehr noch als der Gestank und der Lärm nervte Peternelles Eile.
Wie immer saß Peternelle die Zeit im Nacken, denn je schneller sie die Einkäufe erledigt haben würden, desto mehr Zeit blieb ihr, sich bei ihrem Liebsten einzufinden, ohne einen Ausbruch bei Reinhilde heraufzubeschwören, die keine Ahnung hatte, mit wem die erste Magd poussierte.
Peternelles Liebster war der Schuhmachersohn Michel. Sein Vater war so reich, dass er eines der Handwerkerhäuschen in der Zeile bewohnen konnte. Die Zeile war die mittige Ansammlung von Häusern, die vom Ringmarkt umarmt wurde. An der östlichen Stirn befand sich besagte Waage, zu der die Händler mit ihren Gütern strömten wie die Gläubigen