Ketzerhaus. Ivonne Hübner
gefährlich. Draußen hält der Rat nicht seine schützende Hand über euch.
Im breiten Tordurchgang stauten sich die Leute. Elsa hörte den Tumult schon von Weitem. An normalen Tagen kam man, wenn man seinen Namen und Bürgen nannte, leidlich geschoben und gequetscht in die Stadt hinein und auch wieder raus. Wenn Markt gehalten wurde, musste man eine eingehende Begutachtung über sich ergehen lassen. Erst recht, wenn man drei Vogelfreie suchte. Elsa reihte sich in die Schlange der Wartenden ein.
Das Tonnengewölbe verzerrte die Flüche derer, die es eilig hatten. Auch gab es zu dieser fortgeschrittenen Morgenstunde immer noch Händler und Käufer, die in die Stadt wollten. Eine Hühnerfrau mit schwerem Oberlausitzer Mundwerk beschwerte sich, dass ihre Hühner zu alt würden und sie keiner mehr kaufen wollte, wenn das hier noch lange dauerte. Ein Korbmacher fiel ins Gemecker ein, die Weidenruten seiner Körbe würden neu austreiben, wenn man ihn noch länger zwang, hier in der feuchten Kälte zu stehen.
In der Tat staute sich die Kloake in den Spurrinnen im Gewölbe zu matschigen, stinkenden Rinnsalen. Hier, wo kaum ein Sonnenstrahl hinreichte und der Strom der Reisenden nie abbrach, trockneten die immer breiter werdenden Fugen im Grauwackepflaster nie ganz ab. In den tiefen Rinnen, die die Fuhrwerke mit der Zeit gegraben hatten, schäumte das gelbe Tauwasser, sodass Elsa nicht nur eiskalte, sondern bald auch nasse Füße hatte. Vom Gestank der Äpfel und Fladen, die die wartenden Pferde- und Ochsengespanne zurückließen, ganz zu schweigen.
Gezeter wurde laut, weil, so kam das Raunen bis zu Elsa an, jemand die schlechte Münze aus Görlitz herausschmuggeln wollte. Es war aber verboten, die Görlitzer Münzen auszuführen. Die Torwächter unterlagen da der königlichen Order, obschon sie dem Rat der Stadt gern dabei geholfen hätten, die Schrötlinge loszuwerden. Der Befehl des Königs aber wog schwerer. Also wurde dem Delinquenten das Geld abgenommen und er achtkantig der Stadt verwiesen, nicht ohne dass dem Ganzen über Gebühr Aufmerksamkeit und Zeit gewidmet wurde.
Elsa beschlich eine Angst, sie würde weder rechtzeitig raus-, noch beizeiten wieder in die Stadt zurückkommen und Ärger mit Peternelle und anschließend mit Reinhilde riskieren. Elsa überlegte hin und her, während sie geschubst und geschoben wurde, ob sie nicht lieber zurück zum Ringmarkt laufen sollte. Ihre Unsicherheit wuchs, als vorn in der Reihe, wo die Turmwächter die Leute inspizierten, schrilles Geschrei und Gekeife laut wurde. Elsa war zu klein, um über die Hünen vor ihr hinwegspähen zu können. Auf den Gesichtern der Leute spiegelten sich geile Sensationslust und unwürdige Neugier. Das Geschrei von da vorn kam aus der Kehle einer jungen Frau, aber was sie angestellt hatte, dass man sie dermaßen triezte, konnte Elsa dem Tumult nicht entnehmen.
17
Den Seelen im Fegefeuer scheint ebenso eine Minderung des Grauens, wie eine Mehrung der Liebe notzutun.
Die arme Seele war nackt und musste entsetzlich frieren. Sie versuchte mit der einen Hand ihren Oberkörper, mit der anderen ihre Mitte zu bedecken. Elsa, die, anders als die übrigen Gaffenden, sich bemühte, wenn überhaupt, dann ins Gesicht der gedemütigten Frau zu sehen, spürte eine Wut tief im Innern gären, während ihre Taschen vom Torwächter durchsucht und die wenigen Rüben und die Handvoll Erbsen gezählt wurden.
Das Mädchen, das bloßgestellt wurde, war sehr hübsch. Sie war keine von hier. Das konnte Elsa gleich erkennen. Dem Mädchen fehlte die zweifelnd aufgeworfene Stirn oder zumindest das Fragende im Blick, was jedem hier anhaftete. Anstelle der Streiteslust der Lausitzer und dem losen Mundwerk der Schlesier war sie beseelt von Stolz und Aufrichtigkeit. Ihr Haar war flachsblond, wie es Elsa nur von ihrer Schwester Siegtraut kannte und wie es den Leuten hier eigentlich fremd war. Die Augen der meisten hier waren hell. Die Augen des Mädchens waren dunkel und wachsam.
Für einen Sekundenbruchteil glitt Elsas Blick in den der Fremden und dieser Augenblick fuhr ihr pfeilschnell und scharf ins Herz. Elsa versuchte sich an einem Lächeln für die Fremde, von der sie nicht wusste, was sie sich hatte zuschulden kommen lassen und ob die Strafe vielleicht sogar gerecht war. Ihr Lächeln verfehlte seine Wirkung, denn der starre Blick der Fremden glitt an ihr vorbei und Elsa wurde unsanft weitergeschoben; weiter voran, um den nächsten Passanten zu durchsuchen.
„Was hat sie angestellt?“, fragte Elsa einen gutmütig dreinschauenden Bauern, neben dem sie das Tor hinaus auf die Felder im Süden der Stadt passierte.
„Sie hat Papier dabei gehabt.“
„Papier?“ Elsa überlegte, seit wann Papier etwas Anrüchiges, Verbotenes war, wurde aber nicht schlau daraus und den Bauern konnte sie auch nicht weiter befragen, denn der suchte mit großen Schritten das Weite, froh, dem städtischen Mief entkommen zu sein, um sich wieder seiner Hufe zu widmen. Ein jeder Markttag musste eine Last für die Bauern sein, zumal sie so wenig vom Ertrag überhaupt zum Markte tragen durften. Das meiste wurde vom Lehnsherrn eingefordert. Der geringste Teil musste zum eigenen Überleben reichen.
Elsa nahm die Beine in die Hand, sprang über die Schlammrinnen im Feldweg und beeilte sich weiter in südliche Richtung, wo das ehemalige domus leprosum schon von Weitem zu sehen war. Jetzt, da die Lepra seltener wurde, hatte das Armenhaus die Aufgabe, die Mittellosen aufzufangen. Dabei handelte es sich um jene privilegierte Armen, die einen Bürgen hatten, der sich um Kost und Logis kümmerte. Wer keinen Bürgen vorwies, wurde nicht im Hause der Mildtätigkeit aufgenommen, sondern landete in der Gosse, bettelte, verhungerte oder verendete an einer dieser vielen Krankheiten, die sich schnell über einen geschwächten Körper hermachten. Doch so lange es einen Bürgen gab, nahm man die Armen gern auf. Die Versorgung der Hilfsbedürftigen mit dem Notwendigsten war gegeben, da die Besseren sich gern ein Stückchen Seelenheil sicherten, indem sie tatkräftig spendeten. Das Armenhaus konnte geheizt, instand gehalten und seine Bewohner verpflegt werden. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel, sagte Siegtraut gern.
Im Jakobsstift war Elsa ein häufig begrüßter Gast. Besonders gern gesehen war sie in der Küche. Dort brachte sie die roten Rüben und die Handvoll Erbsen hin, erhaschte ein gutmütiges Lächeln der Vorsteherin und ging nach hinten zum Holzhaus, wo in kleinen Kammern die Mittellosen untergebracht waren.
Als Elsa mit ihrem Klopfen in die Stube trat, schlug ihr der Wohlgeruch von Lavendel, Ringelblumen und Melisse, gemischt mit allerlei Düften von Blüten, Wurzelteilen und Rindenspänen in die Nase, die in Leinensäckchen an Haken und in irdenen Gefäßen auf Wandborden lagerten. Zwar war Johannes Mälzers Hinterbliebenen der Zunftgroschen verwehrt, weil der Mann sich zu Lebzeiten den Zunftgeboten widersetzt hatte, doch durfte Katharina Mälzer ihre Kräuter und Steine, ihren Rat für kleine Wehwehchen feilbieten.
„Mutter, ich bin’s, die Els“, rief die Eintretende ausgesucht fröhlich, um sich nicht anmerken zu lassen, dass sie furchtbar fror und in Eile und eigentlich schon wieder auf dem Rückweg war. Ihre Mutter durchschaute sie mit dem dritten Auge, auch wenn sie mit dem Rücken zu ihr saß.
„Nimm am Feuer Platz, Els, wärm dich auf, erzähl vom Treiben in der Stadt.“
Elsa erkundigte sich zunächst nach den Schwestern. Anneruth und Irmel verdingten sich im Spital, erzählte die Mutter. „Doch der Herr allein weiß, wo sich Siegtraut herumtreibt!“ Katharina Mälzers Lächeln war unerschütterlich, obschon Elsa wusste, ihre Mutter sorgte sich um ihre Zweitälteste.
Siegtraut war zu alt, um tagein, tagaus im Armenhaus zu hocken und zu jung, um sich in der Stadt herumzutreiben. Eine Anstellung hatte sich bislang nicht gefunden. „Es sind schwere Zeiten, Mutter“, setzte sich Elsa neben sie. „Weil doch die Münze nichts taugt.“ Der Wertverfall der Münze war nicht schuld an Siegtrauts Lage. Das wusste sogar Elsa. Eine aus dem Armenhaus durfte nicht auf eine gute Partie hoffen. Elsa übrigens auch nicht. Elsa stand in Kost und Logis und hatte nicht damit zu rechnen, sich jemals eine Mitgift anzusparen. Sie hatte nichts. Eine Magd ohne Mitgift konnte froh sein, wenn sie von einem Gerber geheiratet wurde. Doch die Gerber trugen grobes, kratzendes Tuch am Leib und stanken bis zum Himmel. Ihre Hütten erst recht. Man fand sie stromabwärts am nördlichen Zipfel vor der Stadtmauer. Nein, Elsa wollte keinen Gerber. Dann lieber ein Leben als