Ketzerhaus. Ivonne Hübner
geschickte Bewirtung mit den kleinen Gaben, die dem Brauer erlaubt waren. Was Tylike nach seiner Brauberechtigung herstellte, hatte er selbst zu verantworten und im eigenen Haus feilzubieten. Was er nicht selbst ausschenkte, wurde für die Belieferung der Kretschame im städtischen Schankbereich verfügbar gehalten. Der Verkauf über die Straße war verboten. Ausnahmen stellten die Ratskür dar oder die Wahl des Erbrichters oder des Schützenkönigs. Tylike hatte sich nach den ihm zugeteilten Brau- und Schankzeiten zu richten und seine Mägde auch.
Als Elsa die gewölbte Hallendurchfahrt des Brauerhauses durch die ins zweiflügelige Tor eingelassene Mannpforte betrat, schlug ihr der typische säuerliche Geruch mit der feinen herben Note entgegen und der angespitzte Zeigefinger der Brauerin Reinhilde hart vor ihre Brust. „Wo bist du bloß gewesen!?“
Verdutzt, Reinhilde in die Arme gerannt zu sein, als habe diese auf sie gewartet, stammelte Elsa ihre Entschuldigung, wurde jedoch barsch unterbrochen: „Du musst den Wundarzt holen.“ Reinhildes Flüstern überschlug sich am Kreuzgewölbe der Durchfahrtshalle. Sie schaute sich um wie eine Diebin, ob sie und Elsa belauscht wurden. Die Tür zum Ausschank war geschlossen. Über den Hof in der Mälzerei ging es fleißig zu. Niemand beobachtete sie, von dort, wo die gekeimte Gerste in Weichfässer umgefüllt werden musste, damit sie nach achtwöchiger Keimruhe zwei Tage lang aufweichen konnte. Es war Gunnars Aufgabe, die nach dem Weichen an der Saftoberfläche schwimmenden Reste wie Schalen und tote Körner abzuschöpfen.
Eben, als Reinhilde Luft holte, um fortzufahren, wurde die Tür zum Schanksaal geöffnet. Die Frauen beobachteten, wie der Gast das Geld fürs Bier in der kleinen Wandnische hinterlegte, das Peternelle nachher abholen würde. Der Gast schob sich an Elsa vorbei durch die Mannpforte auf die Gasse.
„Wer ist denn krank?“
„Frag nicht!“ Reinhildes Zeigefinger durchstach die Luft. „Frag bloß nicht! Beeil dich!“
Elsa nickte und machte auf dem Absatz kehrt. Ihre Füße hatten keine Gelegenheit gefunden, sich aufzuwärmen. Die Zehen waren ganz taub. Die grobe Wolle ihrer Strümpfe rieb am Holz der Schuhe.
„Und sag dem Ismael“, wurde Elsa von Reinhilde am Arm aufgehalten. „Er möchte die Gerätschaft mitbring …“
„Ismael?“, unterbrach Elsa die andere und schloss die Pforte wieder hinter sich. „Wieso zum Doktor Ismael?“ Ismael war der jüdische Arzt. Sein Haus stand auf der anderen Seite der Neiße, außerhalb der von den doppelten Mauern geschützten Stadt. Die Leute misstrauten den Juden. Elsa misstraute den Juden. „Soll ich nicht lieber den Doktor Joppener holen? Das geht schneller. Der wohnt doch in der Krebsgass …“
„Kschhh!“, machte Reinhilde und ihre Augen drohten überzulaufen, als ergriffe sie eine kleine Panik: vielleicht die Angst davor, die brave Magd sei gar nicht so brav und würde sich weigern, den Juden zu holen. „Nicht den Stadtphysikus! Der muss nicht wissen, was hier los ist.“
Elsas Gedanken flogen sogleich zum Dachboden. „Was ist denn hier los? Ist einer der Schankgäste verletzt? Gab es eine Rauferei?“ Sie stellte sich absichtlich dumm. Sie war neugierig, ob Reinhilde sich und ihren geheimen Gast verriet.
„Nein! Hol einfach den Ismael. Ihm sagst du, er soll dieses Ding mitbringen, das er den Leuten umbindet, wenn sie sich einen Arm gebrochen haben. Los doch!“
„Wer hat sich einen Arm …“ In Elsa wurden sogleich die Worte des Kohlbauern wach. Hatte er nicht erzählt, Ketzer hätten verkrüppelte Gliedmaßen?
„Du sollst nicht fragen, hab ich gesagt!“ Die Reinhildin schob Elsa in den Sturmwind hinaus wie eine hungrige Katze, die sich ihr Futter allein suchen sollte.
Elsa stemmte sich mutig in die Tür. „Einen gebrochenen Arm, so wie damals der Andres?“ Andres Hinterthur war der einzige Mensch, den Elsa kannte, der sich einen Arm gebrochen hatte. Und Elsa entging nicht, wie Reinhildes Unterlider zuckten.
Die machte einen unwilligen Laut, dann schob sie Elsa aus der Tür in den Herbststurm hinaus, der den Geruch nach Schnee über die Stadt legte und sich mit den staubigen Ausdünstungen der Schlote vermischte.
Es war längst dunkel. Die stimmgewaltigen Diskussionen der Männergesellschaften aus Handwerkerkreisen brandeten auf und verloren sich mit dem Wind. Elsas Magen knurrte. Der Weg zum jüdischen Arzt war weit. Hätten die Juden nicht vor über hundertfünfzig Jahren die Brunnen vergiftet, hätten sie sich gewiss innerhalb der doppelten Stadtmauer ansiedeln dürfen. So aber war die Seuche nach Görlitz gekommen. Es ärgerte Elsa, dass sie das getan hatten und sie jetzt so weit gehen musste. Aus Rache für die Aussiedlung hatten sie vor kaum zehn Jahren die Pest abermals über die Stadt gebracht, fiel ihr jetzt ein.
Über die Brücke ging Elsa nicht gern ohne Begleitung und schon gar nicht im Dunkeln. Die Bleichwiesen waren jetzt wieder leer. Die Wäsche trocknete in der feuchten Herbstluft ohnehin nicht mehr. Die Neißufer waren jetzt von den Fischern zurückerobert. Es roch durchdringend sauer und metallisch nach Gekröse und Blut. Weiter stromabwärts und außerhalb der Stadtmauern lebten die Ledermacher und Wirker. Dahinter kam nichts als die Armut. Die Ärmsten lebten im Schatten der Gerber und Färber und verdingten sich mit Leineweberei und als Zuarbeiter. Und immer, wenn Elsa in diese schlimme Gegend musste, hatte sie ein Einsehen, dass es ihrer Mutter und ihren Schwestern im Jakobsstift noch leidlich gut ging.
Das Angelusläuten verhallte, als Elsa und Doktor Ismael zurück in die Stadt kamen. Sie hatte ihm weder Auskünfte über das Leiden noch über den Kranken selbst gegeben. Das stand ihr gar nicht zu. Über ihre Lippen war nichts gekommen, was sie bei der Reinhilde in noch größere Ungnade hätte bringen können. Die Geldkatze war leer. Elsa hatte Zoll und Verschwiegenheit bezahlt. Ein verschwiegener dünner Arzt begleitete sie durch die Dunkelheit.
Völlig ausgehungert und durchgefroren ließ Elsa sich in der Schankstube und unter Peternelles beleidigtem Blick nieder, um ihre tauben Füße aus den Pantinen zu pellen. Der Dunst der gehäuteten Zwiebeln trieb Elsa das Wasser in die Augen. Auch der leidgeprüfte, von Tränen benetzte Augenaufschlag beeindruckte die andere nicht. „Du machst den Rest. Ich gehe zu Bett.“ Peternelle riss das Geschirrleinen von ihrer Hüfte und hängte es über das Bierfass, das heute noch geleert werden wollte.
Elsa wusste, sie würde bis zur Sperrstunde Platten und Krüge schleppen, Speisen herrichten, Abfälle beseitigen und keine Sekunde ihre inzwischen wütend zwickenden Füße ausruhen. Während des Zapfens genehmigte sie sich eine rohe Zwiebel und den Rest einer verschmähte Kruste vom frischen Brot eines eben verabschiedeten Gastes.
Weit nach der Sperrstunde, als sie die Schankstube gefegt, die Tische und Stühle gewischt und das Geschirr gesäubert hatte, fiel Elsa totengleich auf das Lager neben Peternelle. Sie hatte nicht einmal Zeit darüber nachzudenken, wie wohl Doktor Ismaels Krankenbesuch ausgegangen war und ob er wirklich so verschwiegen war, wie es die Dukaten hoffen ließen. Mutters Bergkristall würde sie heut nicht mehr in ihr eigenes Haar flechten.
In dieser Nacht träumte sie vom Zerschundenen in der hinteren Dachkammer und von dem nackten Mädchen. Elsa wachte mit der Gewissheit auf, dass der eine mit der anderen etwas zu tun haben musste.
19
Ebenso wenig scheint mir aber bewiesen, dass sie oder wenigstens alle, der Seligkeit sicher und gewiss seien,
mögen wir dessen auch ganz gewiss sein.
Zumindest die Carolina Müllerin war gefasst. Leider war es nicht Christian geglückt, die Gespielin des Teufels aufzuspüren, sondern einem anderen Gassenmeister. Der war jetzt um zwei Gulden reicher. Das Weibsstück hatte man erwischt, wie es mit einer Handvoll verdächtiger Papiere durch das Frauentor verduften wollte.
Der Torwächter, ein Dummkopf ohnegleichen, hatte die Papiere ins Feuer geworfen, sodass nicht zweifelsfrei herauszufinden war, ob jene Schriften vom Index Librorum Prohibitorum, der Liste verbotener Bücher, stammte oder nicht. Immerhin aber hatte man eine verdächtige Person erwischt.