Ketzerhaus. Ivonne Hübner
soll sie verhext haben, damit die ihre Kindlein des Nachts im Bette ersticken oder sich gar von dem falschen eines machen ließen. Der Teufel hatte seine Buhlin unfruchtbar gemacht, damit ihr Mann die Ehe schied und die Hexe verbannte. So erst konnte sie ihr wahres Werk vollenden. Oben auf dem Weinberg hatte man sie zum Einsiedler gesteckt. Nur wenige Monate war sie dort geblieben. Doch der Alte hatte die Riegerin keines Besseren belehren können: Sie brachte trotzdem Bauer Rieger um. Und da für musste sie jetzt ins Wasser des Schöps’, der doch nichts dafür kann.
Ihr linker Arm war taub. Das Mädchen blieb mitten auf dem Weg stehen und stellte das kostbare Gut vor seinen Füßen ab. Und, dass du dich bloß beeilst!, hallte Vaters Stimme nach. Die Sonne stach im Nacken.
Die Kleine drehte sich um, sah zuerst die Staubwolke aufwirbeln, wie wenn die Mutter die Strohmatten ausklopfte, dann erst das johlende Rudel Halbwüchsiger nahen. Mädchen waren auch dabei. Älter als sie und ohne Krug unterwegs.
Als Nächstes spürte sie ihren Hintern im Sand aufschlagen und einen dumpfen Schmerz im Steiß. Die Horde hinterließ Fußabdrücke im knisternden Schaum, der sich zu einem Rinnsal vereinte. Aller Fußabdrücke, außer von zweien. Zwei blieben stehen, unschlüssig zwar, ob sie den anderen folgen sollten, entschieden sie sich letztlich zu bleiben.
„Hast du dir wehgetan?“
„Lass mich in Ruhe, Andres!“, ging das Mädchen den an, der es offenbar gut mit ihm meinte, von dem es aber keine Hilfe wollte, weil der Vater gesagt hatte, die Hinterthurs können mehr als nur Wasser kochen. Sie rückte den verrutschten Reif auf ihrem Haar zurecht.
„Ach, komm schon, Els.“ Aber Elsa begann zu weinen, weil sie sich schämte und müde war und der Krug leer. Sie weinte, wie es eben Mädchen von zehn Jahren tun. Sie hob aber nicht den Blick, sondern schaute den sich in den Staub grabenden Perlenschnüren zu, wie sie ein Löchlein, eine Unebenheit suchten, um zu versacken, und keine fanden, weil es seit Tagen nicht geregnet hatte.
Die beiden Jungen, die stehengeblieben, waren Brüder. Das schloss man aus den dunkelbraunen Strähnen im halblangen, leicht gelockten und widerborstig verknoteten Haaren und den schmalen Gesichtern. Beide guckten die Jüngere unschlüssig an. Ein weinendes Mädchen ist keine einfache Angelegenheit. So wurde sie vom Älteren, Blasseren und Unscheinbareren verunsichert, vom anderen eher belustigt gemustert.
Die Verhältnisse zwischen den Nachbarsleuten Mälzer und Hinterthur waren kompliziert. Obschon zwischen beiden Gehöften nicht nur besagter Weinberg, sondern auch der Schwarzbach, einige schmale Hufen und ein verschlungener Pfad durch ein Waldstück führten, waren es immer noch Nachbarn. Nachbarn, die einander inniglich verachteten. „Hau ab!“, schrie das Mädchen und nahm allen Mut zusammen, den Jungen ihr allerbösestes Gesicht zu zeigen. Das machte es nur noch schlimmer.
Jost, der jüngere der beiden, neigte sich zu ihr hinab. „Na komm, steh auf.“
Sie nahm seine Hand, weil er hübsch war. „Ihr könnt eurem Vater schöne Grüße bestellen, dass dem Mälzer nun der letzte Schluck ausgegangen ist!“ Sie war nur ein Mädchen, wusste aber, dass mit diesem letzten Tropfen, das Ausschankrecht ihres Vaters verwirkt und der Nächste an der Reihe war, sein Rezept anzurühren.
„Komm mit, ich hab eine Idee“, hob Jost an und bückte sich nach dem Krug. Das sture Kind in Elsa entwendete ihn ihm.
„Ich will deine Ideen nicht, ich will die Briu meines Vaters zurück!“
„Hör endlich auf zu heulen. Komm mit.“ Jost nahm entschlossen den Krug. Beide Buben schlugen dann die Richtung ein, aus der sie eben gekommen waren.
Im Abstand von fünf Fuß folgte die Kleine ihnen, denn schlimmer, als ohne Suppergeld nach Hause zu kommen, war es, ohne Geld und ohne Krug zurückzukehren.
Andres Hinterthur, zwei Jahre älter als sie, ließ sich zurückfallen und ging neben ihr her. Er war groß für sein Alter und hager. Anders als der Jüngere, der das Haar lang über die Schultern trug, verwegen wie ein Städter, reichte Andres’ Kopfkraut, das sich noch entscheiden musste, ob es einmal gelockt oder gesträhnt wachsen wollte, jedoch krumm wie Grashalme fiel, bis zu den Ohren. Während Jost Hinterthur selbstbewusst und unbehelligt vor ihnen her schritt, passte sich Andres scheinbar ihrem vorsichtigen Gang an. „Ihr führt mich ab, wie eine, die was Unrechtes gemacht hat“, murrte Elsa. Sie bekam keine Antwort vom Jungen. Jost hatte sie nicht hören können. „Euch entgeht das Spektakel!“, setzte sie gehässig einen oben drauf. „Mein Vater sagt, wer das Sempel sich nicht anschaut, wird selber zum Verbrecher.“
„Du meinst wohl Exempel. Es ist Blödsinn“, murmelte Andres.
„Willst du sagen, mein Vater lügt?“ Elsa, kühn, holte den Schritt nach links auf und rammte ihm die Schulter in den Oberarm. Vom Mädchenrempler blieb Andres ungerührt. „Nein, ich sage, dass das Zuschauen an sich schon einen schlechten Menschen aus einem macht, uns von bösen Taten aber nicht abhält!“
Elsa fiel nichts Schlagfertiges dazu ein. In Gedanken formulierte sie hässliche Verwünschungen. Der Hinterthur-Hof sollte in Flammen aufgehen, oder vom nächsten Schlossenwetter erfasst und davongeschwemmt werden. Dass Hinterthur und Mälzer die ärgsten Konkurrenten im Geschäft mit der bernsteinfarbenen Briu waren, wusste ja jeder, doch ging der Hass nicht so weit, dass sie einander Besuche abstatteten, um sich Lästereien anzutun. So aber geschah es jetzt, da Elsa Mälzer mit den Hinterthurjungen den Hinterthur-Hof betrat.
Die Buben beschieden, Elsa möge warten und verschwanden mit ihrem Krug im Pfannenhaus, ohne über Hühnerlöcher zu stolpern, weil die Hühner eingezäunt waren. Bei Elsa zu Hause stolperte man in einem fort über irgendwas. Gerümpel und Unordnung suchte man auf dem Hinterthur-Hof vergeblich. Unter dem Laubengang fanden sich weder Küchenabfälle noch tierische oder menschliche Hinterlassenschaften, alles hatte seinen Platz. Man konnte den Hof überqueren, ohne den Saum des Kittels heben zu müssen, weil der Sand geharkt und Pfützen und Rinnen regelmäßig aufgeschüttet wurden.
Von dort, wo in Sudpfannen Gerste verkocht wurde und es stickig heiß werden konnte, trat Meister Orwid auf den Hof. Einen Krug in jeder Faust. Elsa erkannte, dass der ihre von Matsch befreit, das Zeichen der Mälzers im braunen glänzenden Steingut schön poliert worden war. Die andere Kanne zeigte das Emblem der Hinterthurs.
„Hier, Mädchen. Du kannst nichts dafür, dass dein Vater ein Idiot und die Dorfjungs Rüpel sind.“ Mit diesen Worten und einem Grinsen stippte Meister Orwid das Mädchen an der Nasenspitze. Sie wich nicht rechtzeitig vor seinem breiten Finger zurück. Sie hätte ihm gern ins Gesicht gespuckt, was sie sich natürlich nicht getraute. Der Hüne wandte sich nach dem Pfannenhaus um und rief nach seinen Söhnen. „Wie besprochen, Jungs: halbe, halbe. Ihr bekommt einen Schock für den Krug, verlangt also einen halben Groschen pro Becher. Mach die Becher voll. Wir berumsen unsere Kundschaft nicht.“ Letzteres besiegelte er mit einem Augenaufschlag für Elsa. „Guck nicht so belämmert“, meinte er zu ihr, „du bekommst das Doppelte von dem, was das Gebräu deines Vaters eingebracht hätte.“
„So bereichert Ihr euch auch am Unglück der Unholdin? Ihr habt heut nicht Ausschank“, reckte Elsa das Kinn, um sich gegen den Meister zur Wehr zu setzen. Der aber fuhr ihr kurz entschlossen über den Rand: „Und du hast keine Briu mehr.“ Es wäre nicht nötig gewesen, aber Meister Orwid erinnerte das Mädchen dennoch an die Fehde von vor zwanzig Jahren, die den Kindern beizeiten erzählt wurde, damit sie die Zunft und deren Mitglieder ehrten.
Wie eine tönerne Glocke klang das Antippen von Hinterthurs breitem Daumennagel, als er Elsa den Krug gab. Er war leicht und leer.
„Ich rette dir wahrscheinlich den Arsch, kleine Zicke. Also nimm das Angebot an, dann wirst du heut Nacht ruhig schlafen. Andernfalls wird dir der Hintern noch mehr wehtun als so schon.“
Die Hinterthurbrüder hatten wohl berichtet, wie sie vorhin auf ihrem Allerwertesten gelandet war.
Abermals öffnete sich die Tür. Ein Gesicht, blass und glatt wie Milch unter einer ebenso straffen Haube schob sich in die Sonne. Reinhilde war damals aus der Stadt gekommen, um den Orwid Hinterthur zu heiraten. Sie war und blieb die Städterin, auch wenn sie ein gut Dutzend Jahre schon in der Parochie