Ketzerhaus. Ivonne Hübner

Ketzerhaus - Ivonne Hübner


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war herrlich, die Welt von oben zu sehen. Nie zuvor hatte Elsa in einem Baum gesessen. Jost pflückte ihr einen Apfel. Von hier oben konnte man die Spitze des Kirchturms sehen, das von Bäumen gesäumte silbern glitzernde Band des Weißen Schöps’, die überreifen oder schon abgeernteten Hufen, die von jedem Hof abgingen und das ein oder andere Fuhrwerk, das den Dorfweg gen Osten entlangrumpelte, um auf die Hohe Straße und Richtung Görlitz zu gelangen. Görlitz war mit dem Ochsengespann in gut vier Stunden zu erreichen. Elsa war noch nie in der Sechsstadt gewesen. Die Geschichten von Vater und Mutter, die dort manchen Krug vom Gebräu zu verkaufen suchten, beängstigten sie. Niemals wollte sie in die übervolle, übellaunige und garantiert stinkende Stadt!

      Jost erzählte ihr von der Sechsstadt, die auch das Tor nach Osten genannt wurde. Er hatte dort Verwandte mütterlicherseits und gab sich weltmännisch. Elsa war beeindruckt. Er erzählte, was man in der Stadt Schönes kaufen konnte. Er beschrieb das feine Tuch, das dort hergestellt wurde, und den Stapel, in dem alles, was das Herz begehrte, gelagert wurde. Er berichtete von den Gauklern, die auf den beiden Marktplätzen ihre Kunststücke zeigten und Lieder sangen. Manchmal kamen richtige Bänkelsänger vorbei oder ganze Trupps von Schaustellern. Der Junge sagte das so, als fuhr er monatlich einmal dorthin, um sich diese Spektakel anzusehen. Elsa war immer nur hier gewesen. Hier kannte jeder jeden. Man musste genau aufpassen, wem man was erzählte, damit es nicht am nächsten Tag alle und vor allem die Falschen wussten. Jost beschrieb die Spielsachen, mit denen in Görlitz gehandelt wurde. Spielsachen! Elsa staunte über Josts übergroße Schlauheit. „Du meinst Dinge, die zu nichts anderem da sind, außer zum Herumtollen und sonst keinen Nutzen haben? So wie die Murmeln von Andres?“

      Jost nickte. „Ja, die auch, aber Murmeln sind langweilig. Ich meine Steckenpferd, Reifen und Kegel und so. Ich zeig dir ein Spiel.“ Damit sprang Jost aus der Astgabel, suchte und fand unterm Baum drei Stöcke. „Na, komm schon.“ Elsa kletterte vorsichtig vom Baum und dieses Mal guckte er doch.

      Jost zeigte ihr ein Spiel mit drei Stöcken, bei dem es darum ging, einen Stock mit den beiden anderen hochzuwerfen, und wieder aufzufangen. Die Schwierigkeit bestand darin, dass sich der hoch geworfene Stecken in der Luft drehen sollte. Elsa gelang das nicht. Jost amüsierte sich köstlich über sie.

      Von nun an machte sich Elsa für den Gottesdienst besonders fein: kämmte ihr Haar so lange, bis es glänzte, steckte den Reif mit Hingabe auf und achtete auf ihren Sonntagsstaat. Hatte sie früher ein kleiner Fleck oder ein gezogener Faden nicht gestört, so behob sie den Makel wie ein zu verbergendes Schandmahl. Das alles tat sie nicht aus tiefster Gottesfurcht. Sie wollte nicht Gott gefallen, sondern einem anderen.

      Diesen Plan verfolgte aber so ziemlich jedes Mädchen der Parochie. Elsa fiel auf, dass die Mädchen sich verhohlen nach Jost umdrehten, kaum, dass er die Kirche betrat. Er war immer noch eine Elle kleiner als sein stattlicher Vater, doch vom selben Stolz beseelt wie jener und von eben jenem Ansinnen erfüllt, sich in der Gemeinde als der Briuwer hervorzutun. Nur Elsa verrenkte sich nicht den Hals nach ihm. Dazu war sie zu schüchtern. Sie schlug das Kreuz und die Augen nieder, wie es sich an diesem Ort gehörte, und war doch mit jeder Faser drüben, auf der Nordseite des Kirchenschiffs, wo die Hinterthurs ihre Bank hatten. Elsa hörte den Priester sprechen. Dessen Worte tummelten sich im Kirchenschiff, ohne an ihrem Verstand zu kratzen. Ihre Gedanken glitten in den Apfelbaum zurück. Es gehörte sich nicht, das Gebet zu sprechen und die Lithurgie zu singen und gleichzeitig nur an diesen Jungen zu denken.

      Es lag sicher nur an seinem Aussehen. Das Oberlausitzische war gnädig zu seinen Menschen. Anders als das Böhmische mit seinen Mondgesichtern hinter dem riesigen Gebirge. Aber dort redete man sicherlich genauso über die Hiesigen. In der Markgrafschaft Oberlausitz war die Luft rein, waren die Herzen fromm. Es gab nur wenige Exemplare, denen Elsa das Attribut wirklicher Hässlichkeit hätte anheften wollen. Die Hinterthurs waren allesamt von einer Ebenmäßigkeit gezeichnet, die einen schaudern ließ. Alle außer einem: Womit der Jost gesegnet war, war dem Andres abholt. Der war blass, schien verhärmt und schmal und seine Extremitäten taten stets etwas anderes, als sie sollten.

      „Wer mit so viel Schönheit in der Jugend gesegnet ist, dem steht Schlimmes im Alter ins Haus“, pflegten die Basen zu wettern, wenn das Gespräch auf die Hinterthur-Sprösslinge fiel. Sicher: Man durfte dem Orwid Hinterthur nicht zu viel Segen und Glück wünschen, wenn man als Mälzer überleben wollte. Doch waren die Hinterthurs vom besonderen Schlage. „Wer reich und schön ist, hat doch was beim Gehörnten schuldig“, meinte die Schwägerin einmal und Katharina Mälzer erwiderte: „Das wäre mir egal. Ich würde jede meiner Töchter den Jungs geben.“ Worte, die Elsas Herz hüpfen ließen. Freilich: Das hatte die Mutter nur so dahingesagt, wie sie sich schon des Öfteren einen jungen Burschen von der Straße weg ins Haus gewünscht hatte, weil ihnen eben der anpackende Sohn fehlte. Elsa aber blieben diese Worte besonders im Gedächtnis. Von allen Buben in der Gemeinde war der Jost ihr der liebste. Gedanken, mit denen sich Elsa versündigte.

       Der Papst kann keine Schuld vergeben, es sei denn er erkläre und bestätige, sie sei von Gott vergeben, oder sofern er die ihm selbst vorbehaltenen Fälle vergibt, die zu missachten ein Verbleiben in Sündenschuld bedeuten würde.

      Die Weihnachtszeit war insofern die schönste, da man jetzt besonders häufig in die warme Kirche kam. Elsa achtete darauf, bei der Eucharistiefeier zu Josts Linker zu stehen. So nahm sie den Kelch von seinen Lippen, und sie tat so, als berührten ihre die seinen.

      Es wunderte sich die Katharina Mälzer über die plötzliche Frömmigkeit der ältesten Tochter. Sie stellte die biblia picta, Erbstück der Mutter und Großmutter, bereitwillig zur Verfügung. Das Kind sollte der Heilserlangung teilhaftig werden. Die aus ihrem Einband weitestgehend gelösten Blätter waren an den Rändern speckig, eingerissen sogar. Überaus kostbar war das Buch. Doch im Grunde nichts weiter als eine zerschlissene Blattsammlung mit vielen verblichenen Stellen und wenig Text.

      So klang das Jahr im Herrn Fünfzehnhundertzehn aus. Die Schicksalsschläge, die in diesem Jahr über die Parochie hereingebrochen waren, wurden einem gnädiglichen Vergessen anheimgegeben oder zumindest versucht zu verdrängen und in eine weit entfernte Vergangenheit geschoben.

      Elsa ging beständig in die Kirche. Sie beneidete die Jungen, die mit Hochwürden Horn nach dem Gottesdienst den Katechismus lernten. Mit Elsas Frömmigkeit zeigte sich Meister Mälzer gern und erzählte jedem, der es nur wissen wollte, wie eilig es die Zehnjährige hatte, am Kirchentag das Weihwasser zu nehmen und stets in Reue und Demut ganz hinten zu sitzen. Dass der kindliche Antrieb ein ganz und gar unfrommer war und Elsa hinten Platz nahm, um ab und an Jost einen Blick zuzuwerfen, das erkannte lediglich ihre Mutter.

      Katharina Mälzer erbat sich beim Priester Simon Horn die Erlaubnis, dem Kind das Lesen der biblia picta beizubringen. Zunächst lachte der Priester über die Schnapsidee. Als er erkannte, dass Katharina Mälzer von bitterem Ernst beseelt war, erlaubte er ihr, dem Mädchen das Alphabet beizubringen. Außerdem dürfte dem gelegentlich in der Parochie predigenden Geistlichen bekannt sein, dass die Kräuterfrau zumindest die Damen der Schöpfung auf ihrer Seite hatte. Insgeheim glaubte er nicht daran, dass der Backfisch weiter als bis zum G kam. Dass Elsa es bis zum P schaffen würde, konnte er da noch nicht wissen. Für die priesterliche Absolution die Lektionen betreffend, forderte Horn für seine alte, gebrechliche Mutter ein stärkendes Tonikum, welches Katharina aus Kräutern fertigte.

      So stand Elsas frommem Ansinnen nur noch der eigene Vater im Wege. Ein Weibsstück hatte nicht zu lesen! Johannes Mälzer gehörte zu denen, die dachten, wenn man etwas lange genug nicht tut, kann man es eines Tages auch nicht mehr. Bei seiner eigenen Eheschließung hatte er gehofft, niemandem würde auffallen, dass sein Weib lesen konnte, hatte gehofft, sie würde es verlernen. Vielleicht hatte er recht. Die Bilderbibel war ja eben bebildert, damit man nicht lesen können musste. Das war Mälzers Ansicht. Dem Wort des Priesters aber widersetzte er sich nicht. Er tat auf andere Weise seinen Unmut kund.

      An einem stürmischen Januarnachmittag begann Katharina Mälzer also den Unterricht. Es war einer jener


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