Asian Princess. Thomas Einsingbach
sie zwischenzeitlich die Erkundung aufgegeben hatte.
Die Frau hatte keine Ahnung, wie lange sie schon gefangen gehalten wurde. Waren es erst ein paar Stunden oder war es schon ein Tag? Wie spät mochte es sein? War es Tag oder war die Nacht bereits angebrochen? Sie hatte nicht nur jedes Zeitgefühl verloren, sie konnte sich auch nicht mehr erinnern, wie sie an diesen Ort gekommen war. Man musste sie betäubt und mit Drogen ihre Erinnerung ausgelöscht haben. Sie wusste noch, wie sie am Morgen aufgestanden war, geduscht und danach gefrühstückt hatte. Was war anschließend passiert? Die letzten Stunden schienen wie in einem schwarzen Loch verschwunden zu sein und so versuchte die Frau, sich in der trostlosen Gegenwart zu orientieren. Sie war entführt worden. So viel stand fest. War es ein Einzeltäter? Kaum möglich, dachte sie. Die Aktion musste von einer Gruppe, die ihr Geschäft verstand, geplant und durchgeführt worden sein.
Wieder strich ihr Blick, so eingeschränkt es die Lage zuließ, durch das Gewölbe. Nirgendwo war ein Fenster, ein Lichtschacht oder dergleichen zu entdecken. Ihr Gefängnis schien sich unter der Erde zu befinden. Vielleicht ein alter Bunker oder ein Funktionsraum eines stillgelegten Bergwerks? Auf keinen Fall konnte es ein gewöhnlicher Keller sein, in dem üblicherweise das eine oder andere Geräusch der Außenwelt zu vernehmen war. Hier unten war nur das Rasseln der Lüftung zu hören, und wenn das Gebläse aussetzte, wurde es totenstill. Befand sie sich womöglich an einem abgeschiedenen Ort, fernab jeder Behausung, wo Menschen lebten, von deren Aufmerksamkeit ihr Leben und ihre Rettung abhängen konnte?
Nach einer weiteren Ewigkeit, in der sie vor sich hin dämmerte, glaubte sie, ein Geräusch gehört zu haben. War es ein Traum gewesen? Nein, es waren tatsächlich Schritte, die sich von außerhalb des Verlieses näherten. Ihr Herz schlug so stark, dass sie kaum noch atmen konnte. Mit aller Kraft veränderte sie ihre Körperlage, um die Kachelwand im Blick zu haben, aus deren Richtung der Hall der Schritte zu ihr drang. Dann sah sie den Türdrücker, der unscheinbar in eine Kachelfuge eingelassen war und der sich in diesem Moment behutsam nach unten bewegte.
8
Arusa Pisuphan hatte nach Williams Zusage darauf bestanden, dass sich sein Privatermittler unverzüglich auf den Weg nach Deutschland begibt. Der überstürzten Abreise aus Bangkok fiel bedauerlicherweise auch das geplante Abendessen mit Penelope zum Opfer. Immerhin fanden sie noch Zeit, um sich bei einem gemeinsamen Frühstück am Flughafen zu verabschieden, ehe William die Maschine nach Frankfurt am Main bestieg.
Als Penelope einen Abschiedskuss auf Williams Wange drückte und er sie daraufhin fest an sich zog, glaubte er für ein paar Momente, noch einmal die Vertrautheit zu empfinden, die sie vor einem Jahr zusammengeschweißt hatte. Aber so unvermutet diese Gefühlswoge herangerollt war, so rasch war sie auch wieder verebbt. Es war vorbei. Sie waren kein Liebespaar mehr, sie waren nur noch gute Freunde. Aber war das nicht auch etwas Besonderes und möglicherweise sogar wertvoller als eine wacklige Liebesbeziehung zwischen zwei komplizierten Charakteren?
Auf der Fahrt vom Frankfurter Flughafen ins badische Heidelberg schwirrten William unzählige Gedanken durch den Kopf. Immer wieder zog er zur Ablenkung den großzügig motorisierten Leihwagen auf die linke Spur der Autobahn. Zwei, drei Minuten jagte er dann über die zu dieser Abendstunde nicht übermäßig belebte Piste. Er genoss das Gefühl, wenn er das Gaspedal bis zum Anschlag durchtrat. So reguliert und bürokratisiert dieses Deutschland auch sein mochte, auf den Autobahnen herrschte eine ganz andere Freiheit als in seiner amerikanischen Heimat. Die rasante Fahrt war allerdings nicht nur vergnüglich, sie strengte auch gehörig an, und nach dem Adrenalinstoß reihte sich William gerne wieder in die gemächlicher dahinstrebende Kolonne auf der rechten Fahrbahn ein und ließ seine Gedanken erneut kreisen.
Er hatte sich während des Fluges zunächst mit der umfangreichen Fotosammlung beschäftigt, die Pisuphan den Unterlagen beigefügt hatte. Suwannee war ein hübsches Mädchen. Sie vereinte die chinesischen Gene des Vaters mit denen ihrer hochgewachsenen, blonden Mutter. Sie überragte ihren Vater um einen halben Kopf und auch ihre Körperproportionen waren nordisch-kaukasisch geprägt. Andererseits besaß das Mädchen leicht geschlitzte Augen, dazwischen lag ein abgeflachter Nasenrücken, ihre Haut war bronzefarben und ihr Haar asiatisch schwarz. Sollte diese junge Frau tatsächlich einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein? Oder lag Penelope mit ihrer Vermutung richtig, dass sich die Gaststudentin lediglich ein paar freie Tage gegönnt hatte, in denen sie unbeschwert ihren Leidenschaften nachging?
Wieder beschleunigte William seinen Wagen und schoss an einem Konvoi von Lastwagen vorbei. Heidelberg war fast erreicht. Sein Blick streifte über den östlichen Odenwald, der im Licht der Abendsonne wie die Kulisse eines kitschigen Heimatfilms anmutete. Hier irgendwo musste Rebheim liegen, dieser fremde und doch merkwürdig vertraute Ort, den seine Mutter versucht hatte, ihm mit sentimentalen Geschichten ans Herz zu legen. Vor seiner Abreise aus Bangkok hatte William ausführlich mit ihr in New Orleans telefoniert. Als er dabei seinen Auftrag in Deutschland erwähnte, überschlug sich ihre Stimme fast: „Billy, mein Junge, du wirst begeistert sein! Endlich besuchst du einmal mein Rebheim.“ Der Wortschwall seiner Mutter war kaum zu bremsen gewesen. Sie schwärmte von der Landschaft, der Freundlichkeit der Menschen und den regionalen Delikatessen mit unaussprechlichen Namen wie Lewwerkäs, Buwespitzle, Fleeschkiechlin oder Kerscheplotzer. Dazu fielen immer wieder Vornamen von Verwandten und die ehemaliger Jugendfreunde, mit denen William nichts anzufangen wusste.
Rebheim. Hier also hatte seine Mutter als Doris Klingenberger bis zu ihrem einundzwanzigsten Lebensjahr gelebt, ehe sie Anfang der 1970er Jahre den jungen Soldaten Vincent LaRouche geheiratet hatte und ihm unmittelbar darauf hochschwanger nach New Orleans gefolgt war.
Es war Williams erste Deutschlandreise. Er hatte sich informiert. Rebheim, die Perle der Badischen Bergstraße, lag nur wenige Kilometer von Heidelberg entfernt. Luftaufnahmen zeigten den malerischen Ort als eine Ansammlung kleiner und mittelgroßer Häuschen, von denen keines mehr als vier Etagen besaß, und die sich mit ihren roten Ziegeldächern um ein Gotteshaus scharten, dessen Glockenturm mahnend gen Himmel wies. Gleich hinter dem östlichen Ortsrand stieg das Gelände zum Odenwald hinauf. An einem Steilhang klebte das Wahrzeichen der Ortschaft, die Ruine der mittelalterlichen Guldenburg, um die herum Wein- und Obstgärten angelegt waren. William hatte bis jetzt kaum einen Gedanken an diesen Winkel der Welt verschwendet, wo es etliche Menschen gab, die mit ihm verwandt waren. Seine Mutter hatte ihm die Namen von Angehörigen und, soweit sie ihr in Erinnerung waren, auch deren Adressen zusammengestellt. Aber William war sich nicht sicher, ob er tatsächlich Interesse an Begegnungen mit diesen fremden Menschen hatte.
Endlich war Heidelberg erreicht. William steuerte die Limousine in die Garage eines am Rande der Altstadt gelegenen Businesshotels. Er entlud sein Gepäck und erledigte die Formalitäten an der Rezeption, wo man ihn schon erwartete. Die Mitarbeiter von Pisuphans Büro hatten es sich nicht nehmen lassen, alles bestens zu organisieren und dabei auch seinen Wunsch nach einer unauffälligen Unterkunft berücksichtigt. Dabei war es eigentlich Williams grundsätzliche Arbeitsweise, sich unabhängig von seinen Auftraggebern ein Quartier zu besorgen. War es wirklich ausgeschlossen, dass ein Vertrauter oder ein Angestellter Pisuphans etwas mit dem Verschwinden von dessen Tochter zu tun hatte? In einem solchen Fall würde es dem Täter nun kaum Schwierigkeiten bereiten, den Mann, der das Mädchen finden sollte, im Auge zu behalten. William erinnerte sich an die Überwachungskameras im Salon von Pisuphans Bangkoker Zentrale. Oder wollte womöglich sein Auftraggeber selbst William unter Beobachtung und Kontrolle wissen?
William ließ sich auf sein Zimmer bringen, bestellte einen großen Salat, ein paar Flaschen Coca-Cola und spülte den Reisestaub mit einer heißen Dusche ab. Es war mittlerweile zehn Uhr abends. Er verspürte noch keine Müdigkeit, wusste aber, dass er sich zum Schlafen zwingen musste, um möglichst rasch den Zeitunterschied zwischen Bangkok und Mitteleuropa wettzumachen. William ließ die koffeinhaltige Brause ungeöffnet, nahm ein Mineralwasser aus der Minibar, schluckte ein leichtes Schlafmittel und stocherte ohne Appetit in seinem Salat herum. Dabei streifte sein Blick die Ausgabe der Bangkok Post, die er sich im Flugzeug hatte bringen lassen, um sie dann doch nicht zu lesen. Auf der Titelseite fiel William eine Schlagzeile auf: „Wieder Leichen am Strand! Was ist los in der Andamanensee?“ Darunter war das Foto einer Polizeiabsperrung zu sehen, vor der Gaffer in Badebekleidung ihre Hälse reckten. Der