Asian Princess. Thomas Einsingbach
die auf das Mädchen in Bangkok warten? Wo ist der Haken an der Sache?“ In Williams Gehirnwindungen trieben erneut die drei Silben Hei-del-berg ihr Unwesen.
„Du fragst nach dem Haken? In der Tat gibt es da so etwas wie einen Haken: Mein Klient ist bereits Mitte achtzig und wenn er einmal nicht mehr lebt, wird seine Tochter das reichste Mädchen Thailands sein. Der Vater hat Sorge, dass seinem Kind etwas zugestoßen sein könnte. Der Mann ist mächtig. Natürlich hat er nicht nur Freunde. Es gibt Konkurrenten, die ihm das Leben schwer machen wollen.“
William blieb schweigsam. Vielleicht ein wenig zu lange.
„Hallo? William, bist du noch da?“
„Ja, ich bin noch da.“
Er nickte der netten Kellnerin zu, die ihm mit Gesten verständlich machte, dass sie sein Essen in der Küche warmgestellt hatte. „Ehrlich gesagt passt ein solcher Auftrag überhaupt nicht in mein Programm. Ich bin Anfang kommender Woche wieder in New York und habe dort einiges zu tun. Andererseits …“, William zögerte, „Deutschland, Heidelberg … das hört sich interessant an. Gib mir eine Nacht zum Überlegen. Ich melde mich morgen Vormittag bei dir.“
5
Claudia Bächle-Malvert, die Leiterin des Dezernats für Kapitaldelikte, und ihr Stellvertreter Malte Brettschneider waren aus Heidelberg, dem ausgelagerten Standort ihrer Abteilung, im Mannheimer Polizeipräsidium erschienen und betraten einen Konferenzraum, in dem noch die feuchtklamme Luft der vergangenen Nacht hing. Obwohl es tagsüber noch überwiegend freundlich und sonnig war, wurde es in den Nächten schon empfindlich kühl und der erste Nachtfrost schien nicht mehr fern.
Die Kriminalrätin zögerte, ihren Mantel und die Mütze abzulegen. Der Hausmeister hatte erst vor wenigen Minuten die angekippten Fenster geschlossen und die Heizkörper aufgedreht. Immerhin standen schon zwei Thermoskannen Kaffee, Pappbecher und mehrere Schalen mit Gebäck auf dem Besprechungstisch. Auch die Pressemappen lagen in ausreichender Menge bereit. Claudia schenkte sich einen Kaffee ein, der tiefschwarz dampfte und nur kleine Schlucke zuließ. Dann erst schälte sie sich aus ihrem Loden- und Strick-Outfit und ihre üppigen weiblichen Rundungen kamen deutlicher zum Vorschein.
„Scheißherbst. Tut meinem Bein gar nicht gut“, beschwerte sie sich, fuhr sich mit den Fingern durch ihre brünette Kurzhaarfrisur und frischte mit einem Fettstift den Schutz ihrer zu dieser Jahreszeit stets zu trockenen Lippen auf.
„Es ist bald Winter, dann geht’s dir wieder besser“, versuchte Malte seine Chefin aufzumuntern. In Kürze war die traditionelle Statistik-Pressekonferenz angesetzt, auf der die Anzahl der unterschiedlichen Delikte und Verbrechen des Vorjahres sowie deren Aufklärungsquoten der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Auch wenn noch kein einziger Journalist erschienen war, hörte Claudia schon jetzt die süffisanten Fragen, weshalb die Ergebnisse für den mittlerweile weit zurückliegenden Berichtszeitraum mit einer derartigen Verspätung bekannt gegeben wurden. Sollte sie das übliche Lamento der Überlastung des öffentlichen Dienstes anstimmen, was diesmal in der Tat mehr als berechtigt war? Mitarbeiter sämtlicher Polizeidienststellen waren seit Monaten in die Registrierung der Flüchtlingsströme aus dem mittleren Osten und aus Afrika eingebunden. Zehntausende von Überstunden hatten sich aufgetürmt. Zunehmend meldeten sich Kollegen wegen Erschöpfung dienstunfähig, selbst Polizeidirektor Kachelmann hatte es erwischt. Mit kaum hörbarer Stimme hatte der Behördenchef Claudia zu nachtschlafender Zeit mitgeteilt, dass er selbst unmöglich die Pressekonferenz leiten könne und sie sich, in ihrer Funktion als seine zweite Stellvertreterin, stattdessen mit den Medienvertretern herumschlagen dürfe.
Claudia fühlte sich ausgelaugt. Sie plagten Phantomschmerzen, gegen die es kaum wirksame Medikamente gab, und die Prothese hatte ihren Unterschenkelstumpf wundgescheuert. An ihrem ursprünglich freien Wochenende war sie am Sonntagmorgen in den kleinen Ort Rebheim geeilt, wo eine Leiche gefunden worden war. Es war das erste vollendete Kapitalverbrechen des laufenden Jahres im Zuständigkeitsbereich der Polizeidirektion Mannheim. Die Spurensicherung vor Ort, die Zusammenstellung einer Sonderkommision, die Auswertung der ersten Erkenntnisse und die Kontaktaufnahme zur Gerichtsmedizin – das alles hatte sich bis weit in die Nacht zum Montag hingezogen und nur drei unruhige Stunden Schlaf ermöglicht.
„Wir gehen folgendermaßen vor.“ Claudia wandte sich müde an ihren Kollegen. „Du erläuterst die Statistik der Kapitalverbrechen. Hier gibt es immerhin Erfreuliches zu vermelden. Bei den Wohnungseinbrüchen, den Verkehrsdelikten und den Sexualstraftaten fassen wir uns kurz und verweisen auf die Pressemappe. Bei Detailfragen sollen sich die Herrschaften an Kachelmanns Büro wenden. Ich denke, in einer halben Stunde haben wir die Meute wieder aus dem Saal.“
„Was ist, wenn der Rebheimer Mord ein Thema wird?“ Malte hatte am Sonntag den Pokalsieg der Fußballmannschaft seines Sohnes gefeiert und war erst in den Abendstunden zur Sonderkommission, der man den Namen „SK Madonnenberg“ gegeben hatte, gestoßen.
„Du meine Güte! Die Leiche wurde doch gerade erst entdeckt. Da gibt’s noch nichts zu berichten.“
„Die Meldung kam heute früh schon im Radio. Der Moderator hat’s dramatisch gemacht: ‚Bestialischer Mord im Weinberg.‘“
„Woher wissen die, dass es ein Mord und der Tatort ein Weinberg war?“, fragte Claudia verärgert. „Sei’s drum! Sie haben erfahren, dass es eine Leiche gibt, und spekulieren nun herum, obwohl sie keine Ahnung haben. Wenn’s denn sein muss! Du hältst dich in dieser Sache zurück und lässt mich reden.“
Claudia wollte eigentlich noch anfügen, dass sie gerade heute große Lust verspürte, den Medienleuten einmal ihre Meinung zu deren vorschnellen und unverantwortlichen Vermutungen vorzutragen, als sich die Tür öffnete und ein Polizeibeamter in Uniform eintrat.
„Kriminalrätin Bächle-Malvert? Entschuldigen Sie meine Verspätung. Mein Name ist Klingenberger. Sie hatten mich für acht Uhr bestellt.“
„Ah, Sie sind also Polizeimeister Klingenberger, der Leiter des Polizeipostens von Rebheim. Guten Morgen.“
„Kommissarischer Leiter, Frau Kriminalrätin. Ich habe die Leitung des Postens bis auf Weiteres vertretungsweise übernommen. Eine Entscheidung über die Nachfolge von Polizeihauptmeister Lorenz ist noch nicht gefallen“, korrigierte der Beamte. Claudia reichte ihm die Hand und musterte den jungen Polizisten.
„Wie alt sind Sie?“
„Sechsundzwanzig.“
„Herr Klingenberger, Sie haben ausgezeichnete Arbeit geleistet. Die Absperrung des Tatortes und das Protokoll der Aussage des ehemaligen Kollegen Kühnle, der die Leiche entdeckt hat, waren vorbildlich“, lobte Claudia und fuhr fort: „Ich möchte Sie bitten, dass Sie an der Pressekonferenz teilnehmen. Es könnte sein, dass die Rebheimer Leiche schon jetzt ein Thema für die Medien ist. Vielleicht ist es nötig, mit ein paar objektiven Information den wilden Spekulationen …“
„Es kam heute früh schon im Radio“, unterbrach Klingenberger. „Ich verstehe nicht, warum die Medien nicht begreifen, dass sie mit dieser Art der Berichterstattung die Arbeit der Polizei nicht einfacher machen.“
„Da haben Sie verdammt noch mal recht“, stimmte Claudia zu und setzte zu einem schrägen Vergleich an: „Diese Pressegeier stürzen sich auf jedes ungelegte Ei, in dem sie eine Sensation vermuten.“
„Eine Leiche ist schon ein wenig mehr als ein ungelegtes Ei“, korrigierte Malte seine Chefin, als endlich die ersten Journalisten mit zehn Minuten Verspätung den Raum betraten.
„Meine Dame, meine Herren. Bitte nehmen Sie Platz und bedienen Sie sich. Das Polizeipräsidium scheut keine Kosten und Mühen und spendiert Ihnen zur Feier des Tages echten Bohnenkaffee und Selbstgebackenes“, begrüßte Claudia ihre Gäste, unter denen sie nur ein weibliches Wesen entdeckte. Die junge Frau mit neugierigen Augen und blonden Zöpfen wurde von einem Mann etwa gleichen Alters begleitet, der eine Kamera auf der Schulter trug. Claudia war überrascht. Das erste Mal seit Einführung der öffentlichen Bekanntgabe der Kriminalstatistik beehrte eine Abordnung des privaten Fernsehsenders Badenia-TV die Veranstaltung.