Asian Princess. Thomas Einsingbach

Asian Princess - Thomas Einsingbach


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die Strahlen der aufgehenden Sonne strichen. Kühnle liebte die Jahreszeit, wenn der Sommer sich verabschiedete und der Herbst heranschlich. In wenigen Tagen würde die Hauptlese des Spätburgunders beginnen. Je näher sie den Weingärten kamen, desto deutlicher stieg ihm der fruchtig-säuerliche Duft der violettblauen Trauben in die Nase. Auch Diabolo hob die Nase und verharrte einen Moment. Dann sah Kühnle seinen Hund in einer Rebzeile verschwinden. Ein heller Pfiff durchschnitt die Stille. Ein weiterer folgte.

      „Diabolo!“

      Kühnle war es gewohnt, dass sein Hund, seit dieser keine dienstlichen Pflichten mehr zu erfüllen hatte, seine Freiheiten durchaus eigenwillig nutzte. Was den gutmütigen Pensionär üblicherweise nicht weiter besorgte, war mit Beginn der Weinlese eine andere Sache. Wenn sich in den Weingärten Vogelschwärme und andere Erntediebe über die Trauben hermachten, wurde der eine oder andere Winzer schon nervös. Da wurde nicht lange gefackelt und gelegentlich sogar scharf geschossen.

      „Diabolo! Kumsch jetzt odder kumsch net?“

      Endlich hatte auch Kühnle die steil ansteigende Rebzeile erreicht, in die sein Hund gewitscht war. Als er sich an Diabolo herangearbeitet hatte, sah er dessen Hinterteil hin und her schwingen und Hinterläufe, die sich in den feuchten Erdboden gruben. Diabolo schien in der nicht einsehbaren benachbarten Rebreihe mit etwas beschäftigt zu sein, das seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit beanspruchte. Kühnle schob das Blattwerk der Reben beiseite. Ein Schreck durchfuhr den ehemaligen Polizisten. Sein Blick fiel auf einen unbekleideten menschlichen Körper. Kühnle hatte in seinem Leben schon so manchen Toten gesehen, aber noch niemals zuvor in ein derartig entstelltes Gesicht geschaut. Tief klaffende Schnitte zogen sich von den Ohren und dem Kinn über die Nasenwurzel bis hinauf zum Haaransatz. Geronnenes Blut hatte das Antlitz in eine dunkelrote Krater- und Krustenlandschaft verwandelt, die teilweise noch von Raureif überzogen war und jede Menschenähnlichkeit verloren hatte. Das Schlimmste waren jedoch die Augenhöhlen. Man hatte dem Toten die Augäpfel herausgerissen und die Reste faseriger Nervenverbindungen und Muskelstränge hingen gespenstig aus den leeren Schädelöffnungen heraus.

      Kühnle schaute sich um. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Natürlich wusste er, wie ärgerlich es für die Kollegen der Kriminalpolizei war, wenn am Fundort einer Leiche die Aktivitäten der Entdecker möglicherweise aufschlussreiche ältere Spuren verwischten. Trotzdem konnte er seiner professionellen Neugier nicht widerstehen. Der Boden des Weinberges war rutschig und steil. Michael Kühnle suchte Halt an einem der Drahtspaliere, an denen die Rebtriebe aufgeheftet waren, und sah noch einmal durch das Blattgewirr. Nein, er hatte sich nicht getäuscht. Der schlanke, mittelgroße nackte Körper lag auf dem Rücken. Kühnle sah schmale Schultern und eine unbehaarte Brust. Als sein Blick hinab zum Geschlecht der männlichen Leiche wanderte, verspürte er einen Brechreiz. Der Penis fehlte. Nur ein blutverkrusteter Stumpf war übrig geblieben. Hatte man den Mann hier im Weinberg abgeschlachtet? War er möglicherweise bei lebendigem Leib verblutet? Kühnle wendete sich ab, zog das Mobiltelefon aus der Jacke und wählte die Nummer der Polizei.

      4

      William hatte sich für ein Restaurant am Jachthafen entschieden und gegrillte Riesengambas und Tom-Kha-Gai, eine mild-scharfe Kokossuppe mit Hühnerfleischeinlage, bestellt, als sein Mobiltelefon vibrierte. Er erkannte die Nummer von Penelopes Büro in Bangkok. Es war acht Uhr abends und eine Dreimannkapelle spielte den Uraltschlager „Dancing in the Dark“, wobei der schwergewichtige thailändische Sänger die Stimme Frank Sinatras verblüffend originalgetreu imitierte. William stöpselte die Ohrhörer ein und zog sich an die Bar zurück, wo der Geräuschpegel ein wenig geringer zu sein schien.

      „Hallo, Penelope. Kannst du mich hören …?“

      „Ja. Ich höre dich. Und ich höre Frank Sinatra. Amüsierst du dich gut?“

      „Kann nicht klagen! Prima Wetter. Gutes Essen. Eiskalte Cola und ein dicker, brauner Frankie Boy singt Songs aus der Heimat.“ William versuchte seine Freude über Penelopes Anruf einigermaßen zu verbergen. „Wir sehen uns doch nächste Woche?“

      „Klar! Der Termin steht. Aber ich muss vorher mit dir reden. Es ist dringend.“

      Penelope wirkte konzentriert und geschäftsmäßig. William erinnerte sich, dass die Juristin gerne Beruf und Freizeit auseinanderhielt.

      „In Ordnung. Ich hoffe, es stört unser Gespräch nicht zu sehr, wenn der Koh-Samui-Frankie inzwischen weitersingt. Also: Ich höre!“

      „William, ich freue mich echt auf unser Wiedersehen in ein paar Tagen. Entschuldige bitte, dass ich dich in deinem Urlaub belästige, aber einer unserer Klienten hat ein Problem. Ich möchte dich um etwas bitten.“

      „Mach’s nicht so spannend. Wie kann ich helfen?“

      William war in entspannter Urlaubsstimmung, auf ihn wartete ein leckeres Abendessen, der Rückflug nach New York war gebucht und sein Hilfsangebot leichtfertig dahingesagt. Egal, dachte er bei sich, wenn Penelopes Anliegen eine telefonische Beratung überschritt, konnte er sich immer noch mit seinen Verpflichtungen in Amerika entschuldigen.

      „William, du hast mir erzählt, dass du einigermaßen deutsch sprichst. Deine Mutter stammt doch aus Deutschland. War es nicht so?“ William entsann sich, dass er etwas in dieser Art erwähnt hatte, als sie sich in langen nächtlichen Gesprächen ihre Vergangenheit erzählt hatten.

      „Ich spreche eigentlich nur mit meiner Mutter deutsch“, schränkte William ein, „aber ich denke, ich komme dabei ganz gut zurecht.“

      „Das hört sich prima an“, lobte Penelope.

      „Gibt es etwas zu übersetzen oder sucht einer deiner reichen Klienten einen Reiseführer für einen Trip nach good old Germany?“

      „Mein Klient sucht seine Tochter. Sie studiert in Deutschland. In Heidelberg. Deine Mutter kommt doch aus Heidelberg, wenn ich nicht alles durcheinandergebracht habe?“

      William musste schmunzeln. Nur Penelopes äußere Erscheinung war asiatisch. Ihre amerikanischen Adoptiveltern hatten sie als Säugling aus einem thailändischen Waisenheim adoptiert. Sie war in Washington aufgewachsen und vom Scheitel bis zur Sohle Amerikanerin. Er hatte ihr tatsächlich erzählt, dass seine Mutter aus Heidelberg stammte. Welcher Amerikaner kannte schon das verschlafene Rebheim am Rande des südlichen Odenwaldes, in dem sie wirklich aufgewachsen war.

      „Es war doch Heidelberg? Nicht wahr? William, bist du noch am Apparat?“

      Penelope hatte aus dem deutschen Heidelberg ein amerikanisches Haidelbörg gemacht, was William an seinen Vater erinnerte, der diesen Namen ebenso ausgesprochen hatte. „Heidelberg. Es heißt Heidelberg“, William betonte dabei das „e“ in der letzten Silbe.

      „Okay. Haidelbörg“, wiederholte Penelope und begann das Problem ihres Klienten zu erläutern. William hörte zu, sein Interesse an Penelopes Ausführungen hielt sich jedoch in Grenzen. Er war vielmehr überrascht, was die mehrmalige Erwähnung von Heidelberg, einem Ort, den er noch nie besucht und von dem er keine rechte Vorstellung hatte, in ihm auslöste. Vor seinem inneren Auge tauchte unvermittelt seine Mutter auf. Doris LaRouche, geborene Klingenberger aus Rebheim bei Heidelberg, schien sich in den Momenten, in denen Penelopes Worte an ihm vorbeirauschten, in seinem Coca-Cola-Glas zu spiegeln. Er riss sich von diesem Bild los und hörte, dass Penelopes Klient seine Tochter zu einem Studienaufenthalt nach Heidelberg geschickt hatte. Bereits seit Tagen versuchte der Vater nun vergeblich seine Tochter zu erreichen. Da der Mann ausländischen Behörden grundsätzlich misstraute und zudem Zweifel an der Effizienz der deutschen Polizei in sich trug, hatte er sich an Penelope, die Niederlassungsleiterin der Goldstein-&-Schulman-Kanzlei in Bangkok, gewendet.

      „Ich glaube, das ist keine große Sache. Das Mädchen ist Mitte zwanzig. Vermutlich genießt sie noch einmal in vollen Zügen ihre Freiheit, weit weg vom strengen Vater und mit großem Abstand zu den Aufgaben, die sie bei ihrer Rückkehr nach Bangkok erwarten. Mein Klient ist sehr einflussreich. Vermutlich würde in einer ähnlichen Situation in Thailand ein Anruf von ihm genügen, und die Royal Thai Police würde alles stehen und liegen lassen und sich mit Mann


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