Gorbatschow. Ignaz Lozo

Gorbatschow - Ignaz Lozo


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der neue Kreml-Chef Chruschtschow, Molotowskoje solle fortan Krasnogwardejskoje heißen – ein Name zu Ehren aller Rotgardisten. Der Grund für diese neuerliche Umbenennung war, dass Molotow einer Dreier-Gruppe angehörte, die Chruschtschow stürzen wollte.

      Gorbatschow war 17 Jahre alt, als er in der Spät-Stalin-Ära in diese Kreisstadt zog, wo der Vater einen Schlafplatz für ihn gemietet hatte. Am Wochenende ging er oft die 20 Kilometer zu Fuß zu seinen Eltern und 20 wieder zurück, um Lebensmittel zu holen. Dennoch war das Leben freier, niemand kontrollierte mehr seine Hausaufgaben.

      In seinem Heimatdorf wohnte Nadezhda Jefimowna Litowtschenka (1933–2007), Schwester seiner Klassenkameradin Raissa und Tochter des Kolchos-Vorsitzenden Jefim Litowtschenko. Mit ihr hatte er nach Aussage von Raissa seine erste Romanze überhaupt.35 Michail und ihre inzwischen verstorbene Schwester Nadezhda hätten damals Fotos ausgetauscht und seien eine Zeit lang ein Paar gewesen. Doch sehr verliebt war Michail Gorbatschow offenbar nicht, der den Erzählungen seiner Klassenkameradin über das Verhältnis mit ihrer Schwester zwar nicht widerspricht, allerdings bekennt, er könne sich nicht mehr recht erinnern.36

      Ganz anders verhielt es sich im Fall von Julia Karagodina. Sie hatte es dem jungen Gorbatschow wirklich angetan. Die beiden lernten sich in der weiterführenden Schule in Molotowskoje kennen, als er eines Tages zu einer Schüler-Theatergruppe ging. Einer sowjetischen Zeitschrift erzählte Julia Karagodina 1991 aus jener Zeit Ende der 1940er-Jahre und von ihrem ersten Eindruck: „Es war nicht so, dass er mir anfangs nicht gefallen hätte, doch er schien irgendwie übermäßig energisch, resolut zu sein. Ich nahm aber sein besonderes Interesse an mir wahr. Damals war ich in der zehnten Klasse und Michail in der neunten. Außerdem hatte ich schon einen Freund, der später auch mein Mann wurde: – Wolodja [Koseform für Wladimir – I.L.] Tschernyschew.“37

      Diese Laien-Theatergruppe war erfolgreich und hatte zahlreiche Auftritte in der Kreisstadt und in den umliegenden Dörfern. Anerkennung, Applaus und Blumen waren ihr sicher. Zum Repertoire gehörte Lermontows Maskerade, im Original ein Versdrama in vier Akten; außerdem führte die Gruppe das Märchenspiel Snegurotschka auf, zu Deutsch: Schneemädchen. Dieses Stück von Alexander Ostrowski, einem der bekanntesten russischen Dramatiker des 19. Jahrhunderts, hat nichts von unserem Schneewittchen. Im russischen Märchenspiel verliebt sich das Schneemädchen, Tochter von Väterchen Frost und der Frühlingsgöttin, in einen Jüngling, den sie heiraten will. Julia Karagodina spielte die Hauptrolle, den Jüngling mimte Michail Gorbatschow. Dass die beiden in ihren jeweiligen Schulklassen zu den Besten gehörten, brachte sie ebenfalls einander näher. Julia Karagodina erklärt im Zeitschrifteninterview für damalige sowjetische Verhältnisse ziemlich offen: „Wir hatten natürlich nicht so eine Beziehung wie das heute bei jungen Leuten üblich ist. Sie verstehen, wovon ich rede. Damals war alles anders. Sich nur leicht zu berühren oder sich zu streifen, war schon etwas ganz Besonderes. Unsere Freundschaft habe ich als etwas wirklich Großes und Reines in Erinnerung.“38

      Auch wie resolut Michail Gorbatschow gegenüber den Lehrern und der Schuldirektorin sein konnte, schildert Julia Karagodina eindrücklich: „Er war wahrscheinlich der Einzige unter uns Schülern, der es wagte, den Lehrern auch mal zu widersprechen. Ich wusste, dass er von seinem Platz aufstehen und der Geschichtslehrerin sagen konnte: ‚Sie liegen falsch. Die Fakten sind diese und jene.‘“39

      Lang währte das Verhältnis zwischen Julia und Michail nicht: Da sie ein Jahr früher als er die Schule beendete, verließ sie die Kreisstadt. Einige Male besuchte er sie noch. Michail mochte verliebt gewesen sein, doch in der damaligen Zeit hätte er, um eine feste Beziehung einzugehen, zumindest eine Heiratsabsicht haben, wenn auch noch kein Heiratsversprechen abgeben müssen. Diese Absicht hatte er offensichtlich nicht, zumindest erinnert sich Julia: „Er war unentschlossen. Aber wir passten wahrscheinlich auch nicht wirklich zusammen.“40 So blieb sie bei ihrem Freund Wolodja und heiratete ihn einige Jahre später.

      *

      Die damalige Schule heißt jetzt Gymnasium Nr. 1, und die Direktorin Oxana Akulowa ist stolz auf ihren berühmten Absolventen. Sie nimmt sich Zeit für Erläuterungen und eine kleine Führung. Am 30. April 2000 sei Michail Gorbatschow als Präsident a. D. zur Einweihung einer Gedenktafel gekommen, die darüber informiert, dass er hier von 1948 bis 1950 zur Schule ging. 2001 sei er wiedergekommen, dieses Mal mit seinem Freund Hans-Dietrich Genscher, der sich ebenfalls in das Gästebuch der Schule eintrug. Er schrieb: „Glück und Frieden den Schülerinnen und Schülern dieser Schule und ihren Lehrern.“41 Anders als nach dem historischen „Strickjackentreffen“ in Archys mehr als zehn Jahre zuvor, war Genscher nun tatsächlich in die Heimatregion Gorbatschows gekommen, wo er auch das Geburtsdorf seines russischen Freundes besuchte.

      Griff nach den Sternen

      Michail konzentrierte sich auf die Schule und arbeitete weiter auf dem Feld als Gehilfe seines Vaters. Diese Knochenarbeit sollte sich auszahlen: Sie ebnete ihm im „Reich der Arbeiter und Bauern“ den Weg nach Moskau – ohne dass er das zum Zeitpunkt dieser Schufterei schon wusste. Gorbatschow erinnert sich immer wieder gern daran:

      Stalin hatte damals Folgendes verfügt: Die Mähdrescherführer, die bei der Ernte 10 000 Doppelzentner Korn einfahren, sollten den Titel „Held der sozialistischen Arbeit“ bekommen. Die Ernte fiel gut aus. Mein Vater und ich als sein Helfer legten los! Wir arbeiteten zusammen mit den Jakowenkos, ebenfalls ein Vater-Sohn-Gespann. […] Mir machte die Arbeit auf dem Mähdrescher Riesenspaß, und ich konnte ab dem dritten Jahr bereits nach Gehör feststellen, wenn etwas nicht richtig lief. […] Ich habe in den fünf Jahren auf dem Feld viel Staub geschluckt.42

      Zusammen mit den Jakowenkos fuhren Vater Sergej und Sohn Michail 19 600 Doppelzentner ein und verfehlten den Helden-Titel damit nur knapp. Doch den Vätern brachte das immerhin den begehrten Lenin-Orden und den Söhnen den „Orden des Roten Arbeitsbanners“ ein. Für Michail Gorbatschow war es die erste gesellschaftliche Auszeichnung, und sie stellte für ihn noch im hohen Alter die wertvollste in seinem Leben dar. Jedenfalls sagte er das und schrieb es auch, wobei er vermutlich den Friedensnobelpreis vergaß, den er gut 40 Jahre später erhielt. „Ja, der Orden des Roten Arbeitsbanners war eine große Überraschung. Und was für eine angenehme. Zuerst die gute Ernte, dann der große Lohn, dann bekamen wir noch Getreide extra und schließlich diese Auszeichnung! In der Schule folgte eine Veranstaltung. Da hielt ich meine erste öffentliche Rede. Ich erzählte, wie schwer es ist, mit einem Mähdrescher zu arbeiten und Getreide anzubauen.“43 Es war diese Auszeichnung für seine Feldarbeit, die ihm als „Dorfjungen“ ohne entsprechende Verbindungen die Zulassung zur angesehensten und begehrtesten Universität im Lande bescherte: zur Lomonossow-Universität in Moskau.

      Nach der zehnten Klasse, die er 1950 mit einer Silbermedaille absolvierte, stellte sich für ihn wie für jeden jungen Menschen die Frage, wohin und was weiter?

      Meine Entscheidung war: Nach Moskau und nirgendwohin sonst! Nur nach Moskau! Ich schickte Anfragen an mehrere Hochschulen: an die Hochschule für Stahl, an die Hochschule für Wirtschaft – insgesamt waren es fünf oder sechs verschiedene Universitäten. Von allen bekam ich Rückmeldungen, in denen stand, zu welchen Bedingungen was zu machen war. Ich entschied mich für eine Bewerbung an der Fakultät für Rechtswissenschaften an der Lomonossow-Universität. Ich weiß nicht, warum gerade Jura! Vielleicht, weil das Unrecht gegenüber meinem Großvater vor meinen Augen passiert war. Es hatte mich aufgerüttelt. Mir gefiel auch der Posten eines Staatsanwaltes und dessen Bedeutung. Aber daheim hatte ich mich mit niemandem beraten.44

      Die Wahl der Fachrichtung wirkt eher beliebig, nur in einem war der 19-jährige Michail fest entschlossen: raus aus dem Dorf! Auch sollte es keine Großstadt in der Nähe sein wie zum Beispiel Rostow am Don – nein: Es musste Moskau sein. Das war ein Griff nach den Sternen für einen jungen Mann aus der tiefen südrussischen Provinz, und es war ein Ausdruck seines Selbstbewusstseins, das später noch während der fast sieben Jahre im Kreml eine große Rolle spielen sollte.

      Nicht, dass Gorbatschow mit der kommunistischen Partei in seiner Jugend nichts zu tun gehabt hätte. Im Gegenteil: Wie fast alle war er im Jugendverband Komsomol.


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