Gorbatschow. Ignaz Lozo

Gorbatschow - Ignaz Lozo


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Brief an Raissa, in welchem er ihr von seinem Alltag auf dem Feld und in der Staatsanwaltschaft berichtete. Über das Praktikum verliert er dabei keine guten Worte: Leere, Langeweile, überhebliche Vorgesetzte, die keine Autorität ausstrahlen. Sein vernichtendes Urteil lautet: „Die Atmosphäre hier ist deprimierend.“14 Offenbar war diese Praktikumserfahrung das erste Warnsignal, dass der Beruf des Juristen für ihn nicht der richtige sein könnte. Doch jetzt ging es erst einmal darum, mit dem Studium weiterzumachen und vor allem das Geld für die bevorstehende Hochzeit zusammenzubekommen.

      6 Michail Gorbatschow und Raissa Titarenko vor ihrer Hochzeit 1953

      Ich verdiente 1 000 Rubel! In der damaligen Zeit war das viel. Das waren zehn Doppelzentner Getreide, Weizen und so weiter. Ich kaufte mir den ersten richtigen Anzug in meinem Leben, einen dunkelblauen. Auf dem Weg zur Universität lag eine tolle Nähwerkstatt. Dort wurde er gefertigt. Für Raissa kauften wir weißen Chiffon-Stoff, und wir ließen daraus das Hochzeitskleid herstellen. Für Schuhe aber reichte das Geld nicht. Und so waren wir gezwungen, diese bei einer Freundin zu leihen. Es waren weiße Schuhe.15

      Auch Raissa fuhr im Sommer 1953 heim. Ihre Eltern lebten in Baschkirien, etwa 1 500 Kilometer östlich von Moskau, nahe der Grenze zu Kasachstan. „Aber ihren Eltern sagte sie nichts von der bevorstehenden Hochzeit“, so Gorbatschows Version, während seine Frau berichtet, diese seien immerhin „im letzten Moment“ in Kenntnis gesetzt worden.16 Am 25. September 1953 jedenfalls heiraten Michail und Raissa standesamtlich; die Hochzeitsfeier im Studentenwohnheim legen sie auf den 7. November, den damals größten Feiertag in der Sowjetunion zu Ehren der sogenannten Großen Oktoberrevolution von 1917.

      Kurz darauf zogen Michail, Raissa und viele andere Kommilitonen um, da ein neues Wohnheim bezugsfertig wurde. Im Oktober 1953, also nach der standesamtlichen Hochzeit, fand die Einweihung des Gebäudes auf den Lenin-Bergen statt. „Die älteren Semester der geisteswissenschaftlichen und der naturwissenschaftlichen Fächer wurden dorthin verlegt. Es wurde ‚Das Adelsnest‘ genannt.“17 Gorbatschow verwendet die alte Bezeichnung „Lenin-Berge“, die seit 1999 wieder „Sperlingsberge“ heißen. Sie gehören zu den schönsten Plätzen Moskaus und bieten einen herrlichen Ausblick auf die Stadt.

      Hier liegt ebenfalls das imposante Hauptgebäude der Lomonossow-Universität, das als Stalinbau im Zuckerbäcker-Stil zu den sogenannten „Sieben Schwestern“ Moskaus gehört. Es wurde einen Monat vor dem neuen Studentenwohnheim feierlich eingeweiht. Mit seinen 182 Metern – die Stahlspitze nicht eingerechnet – ist es 25 Meter höher als der Kölner Dom und war lange das höchste Gebäude Europas. Michail und Raissa Gorbatschow(a) gehörten zu den ersten Studenten, die dort ein- und ausgingen, wenn sich ihre jeweiligen Fakultäten auch weiterhin im alten Universitätsgebäude gegenüber dem Kreml befanden.

      „Adelsnest“ hieß das neue Wohnheim deshalb, weil es sehr viel komfortabler war als das frühere Wohnheim an der Stromynka. Hier waren auch die Besuchszeiten nicht mehr so streng geregelt. Entsprechend erklärt Michail Gorbatschow: „Erst als wir dorthin umgezogen waren, wurden wir zu Mann und Frau.18

      Junges Glück mit Rückschlägen

      So schön die Hochzeitsfeier mit den rund 30 Kommilitonen auch gewesen war, so glücklich das junge Paar auch in die gemeinsame Zukunft startete – schon bald war der erste private Rückschlag zu überwinden. Raissa wurde zwar schwanger, doch es traten Komplikationen auf. Erst 2012 äußerte sich Michail Gorbatschow zu dieser schweren Phase.

      Wir vergaßen alles um uns herum und waren nicht darauf vorbereitet, dass Raissa schwanger wurde. Die Sache war die, dass sie ein Jahr zuvor eine schwere Form des Rheumas durchleben musste. All das – die Krankheit und die Behandlung – wirkten sich sehr auf ihre Herzfunktion aus. Die Ärzte sagten: „Wir können nicht garantieren, dass es mit der Geburt klappt. Daher wird zu entscheiden sein müssen: entweder das Leben der Mutter oder das Leben des Kindes.“ Wir wussten nicht, was wir tun sollen. Raissa weinte die ganze Zeit. Ich sagte zu ihr: „Wir werden noch Kinder gemeinsam haben. Aber jetzt müssen wir tun, was die Ärzte sagen.“ In der Geburtsklinik an der Schabolowskaja [Moskauer Ausfallstraße Richtung Süden – I.L.] unterzog sie sich dann der Operation.“19

      2014 offenbarte Gorbatschow gegenüber der populären Zeitung Komsomolskaja Prawda, dass es ein Sohn geworden wäre, und noch etwas später, anlässlich seines 88. Geburtstags 2019, verriet er der Zeitung, wie er hätte heißen sollen: „Sergej. – Sergej Michailowitsch – das wäre schön gewesen.“20 Raissa erholte sich. Die Ärzte hatten ihr empfohlen, sich in ein gesünderes Klima zu begeben. Da bot sich der Nordkaukasus an, zumal sie sich dort auch endlich den Schwiegereltern vorstellen musste.

      Im Sommer 1954 ist es so weit: Als Michail und Raissa in Priwolnoje ankommen, schauen sie zuerst bei Großmutter Wasilisa vorbei, weil es auf dem Weg zum Haus der Eltern liegt und weil Großvater Pantelej im Herbst 1953 gestorben ist. Die Witwe empfängt beide sehr herzlich und mit offenen Armen, macht Raissa sogar Komplimente zu ihrem Aussehen. Danach geht es zum Haus der Eltern:

      Raissa hat meinem Vater sofort gefallen. Er nahm sie wie eine Tochter auf. Seine Gefühle gegenüber Raissa bei dieser ersten Begegnung blieben und hielten für immer an. Aber bei meiner Mutter war alles ganz anders. Eine warmherzige Begegnung kam nicht zustande. Im Großen und Ganzen war sie auf Raissa eifersüchtig. In jenen Tagen machte sie mir Vorhaltungen: „Was hast du da für eine Schwiegertochter mitgebracht? Die wird doch nicht anpacken und sie wird keine Hilfe sein.“ Ich entgegnete: „Sie hat das Universitätsstudium abgeschlossen und wird lehren.“ Mutter darauf: „Und wer wird uns helfen? Du hättest lieber eine Frau von hier nehmen sollen!“21

      Doch Gorbatschow stand unverrückbar zu seiner Frau und zeigte klare Kante. Nie zuvor und nie danach war er so deutlich gegenüber seiner Mutter Maria: „Ich will dir jetzt mal was sagen, was du dir für immer merken musst! Ich liebe sie. Sie ist meine Frau. Nie wieder wirst du zu mir irgendetwas in dieser Richtung sagen!“ Sie fing an zu weinen, was dem Sohn zwar leidtat, aber er hielt es für nötig, „das ein für alle Male klarzustellen“.22 Dennoch gab sich die energische Maria wenig versöhnlich gegenüber Raissa, die nur mit den besten Absichten nach Priwolnoje gekommen war. Einmal nötigte die Schwiegermutter sie, Wasserkübel aus dem Brunnen zu ziehen, um damit den Garten zu wässern. Schwiegervater Sergej sah das jedoch, erfasste sofort die Situation und sprang Raissa mit den Worten bei: „Lass uns beide das zusammen machen.“23 Es sollte lange dauern, bis sich die Spannungen zwischen Gorbatschows Mutter und Raissa legten und alles in halbwegs normalen Bahnen lief.

      Das junge Paar reiste zurück nach Moskau, wo sich die Frage stellte, wie es beruflich weitergehen sollte. Raissa legte ihre Abschlussprüfungen schon im Sommer 1954 ab und setzte ihr Studium in der für das sozialistische Bildungssystem typischen „Aspirantur“ fort, eine Art Forschungsstudium zum Erlangen höherer wissenschaftlicher Grade. Michail hatte ohnehin noch ein Jahr Studium vor sich.

      Mit dem Ende der Stalin-Ära wurde das gesellschaftliche Klima insgesamt liberaler – auch oder gerade an der Universität. Gorbatschow zufolge herrschten dort eine gewisse Freizügigkeit und eine durchaus schöpferische Atmosphäre. Das habe viel dazu beigetragen, dass er anfing, Dinge neu zu betrachten und zu hinterfragen.24

      Am meisten vermittelten uns einige hervorragende Professoren. Zum Beispiel einer wie Ketschekian, der Vorlesungen über die Geschichte des politischen Denkens hielt. Er entdeckte uns die Welt der verschiedenen Ideen, der indischen Wissenschaften, brachte uns Konfuzius, Platon, Aristoteles, Machiavelli und Rousseau nahe. Letzten Endes hat mir die Universität auch den Marxismus vermittelt. Vor allem fesselten mich Polemiken, die auch die Argumente der Opponenten offenlegten.25

      Dass Gorbatschow offensichtlich kein glühender Jurist war, sondern eher zum Politiker taugte, zeigte sich erneut beim Einstieg in die Arbeitswelt. Im damaligen System hatte ein Berufsanfänger nicht die freie Wahl, in welcher Stadt er oder sie arbeiten wollte, und auch die Arbeitsstelle wurde von staatlicher Seite


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