Gorbatschow. Ignaz Lozo

Gorbatschow - Ignaz Lozo


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deutet Gorbatschow indirekt selbst an. In seinen Memoiren schrieb er: „Meine Situation wurde dadurch erleichtert, dass Mironenko meinen Wechsel zur hauptamtlichen Tätigkeit im Jugendverband mit dem Regionsparteikomitee abgesprochen hat.“20 Mit wem Mironenko genau sprach, lässt Gorbatschow offen.

      Da in der sowjetischen Ära Staatsanwälte und Richter verlängerte Arme der Partei waren, stand im Streitfall fest, wer das Sagen hatte. Ob die Vorgesetzten sich tatsächlich vor den Kopf gestoßen fühlten, weil der Nachwuchsjurist mit Moskauer Universitätsabschluss schon nach einer Woche genug hatte und gehen wollte, bleibt unklar. Doch nach den damaligen Regeln wäre Gorbatschow verpflichtet gewesen, drei Jahre lang die zugewiesene Stelle auszuüben. Entsprechend habe ihn die Personalabteilung der Staatsanwaltschaft – „Abteilung für Kader“ – von oben herab behandelt, klagte Gorbatschow.21 Ob das stimmt, kann nicht mehr verifiziert werden.

      Sicher aber war ein junger Jura-Absolvent mit einem ausgezeichneten Diplom der renommiertesten Universität des Landes etwas Besonderes in der Provinz. Hier genoss er die Aura eines „jungen Mannes von Welt“, was möglicherweise auch Neid hervorrief. In einem Brief an Raissa, die zum Zeitpunkt des Berufswechsels ihres Mannes noch gar nicht in Stawropol angekommen war, schrieb er: „Man hat in der Staatsanwaltschaft noch mal mit mir gesprochen.

      8 Nikolaj Porotow, geb. 1924, half Gorbatschow entscheidend bei seinem Berufswechsel vom Juristen zum hauptamtlichen Parteifunktionär, zunächst im Jugendverband der KP.

      Jeder dort schimpfte mit mir nach Belieben. Man einigte sich auf meinen Weggang – hin zum Komsomol des Gebietes.“22 Dieser Propaganda-Posten stand in der Parteihierarchie zwar ganz unten und gehörte noch nicht einmal zum Parteiapparat selbst. „Aber dann ging es mit der Karriere bergauf“, konstatierte Gorbatschow 2015 nüchtern.23

      1955 waren die Rechtsorgane hoffnungslos überfordert mit den unzähligen Rehabilitierungsanträgen von politisch Verfolgten und ihren Angehörigen. Doch diese Fälle waren nichts für Berufsanfänger – damit wurden nur erfahrene Juristen betraut. Und die Aktenarbeit lag Gorbatschow nicht so sehr wie der direkte Kontakt mit den Menschen, was zum Anforderungsprofil seiner neuen Arbeitsstelle gehörte.

      Tauwetter

      Die sogenannte Tauwetter-Periode war nicht nur verbunden mit Wiedergutmachungsversuchen gegenüber den Stalin-Opfern, sondern auch mit einer Lockerung der Zensur und mit gewissen neuen künstlerischen und literarischen Freiheiten. Die Epochenbezeichnung ‚Tauwetter‘, auf Russisch Ottepel, geht zurück auf den gleichnamigen Kurzroman des russisch-jüdischen Schriftstellers Ilja Ehrenbug (1891–1967). Dieses Werk war gleichermaßen in der Sowjetunion wie im Westen ein großer Erfolg. Es erschien 1954 zunächst in der Zeitschrift Snamja und zwei Jahre später in Buchform. Stalins Namen erwähnt Ehrenburg darin zwar nicht, doch erstmals in der Sowjetliteratur finden die Ärzteverschwörung und die Verbannung in Arbeitslager Erwähnung. Zudem lässt dieser Roman dem Leser Raum für Hoffnung auf eine bessere Zukunft, obwohl er von der offiziellen sowjetischen Literaturkritik als zu düster kritisiert, ja geschmäht wurde.

      ‚Tauwetter‘ als Bezeichnung für eine liberalere Epoche war in der russischen Geschichte allerdings nicht neu. So führt der Slawist Reinhard Lauer unter Berufung auf die wissenschaftlichen Ergebnisse von Peter Thiergen aus: „Schon einmal, in der Mitte des 19. Jahrhunderts, nach dem Tod von Nikolaus I., war der sich abzeichnende Klimawechsel im politischen und geistigen Leben mit der gleichen Vokabel benannt worden.“24 Die Tauwetter-Epoche ab Mitte der 1950er-Jahre war es jedoch, die den jungen Gorbatschow, wie auch den späteren Gorbatschow im Kreml und seine Politik entscheidend prägte. Sie wird häufig als Blaupause für Gorbatschows Perestroika (Umgestaltung) und von Glasnost (Offenheit) bezeichnet, was jedoch nur zu einem geringen Teil zutrifft. Richtig ist jedoch, dass die Entstalinisierung, die damals begann und erst nach Chruschtschows Sturz 1964 von dessen Nachfolger Leonid Breschnew gestoppt wurde, unter Gorbatschow mehr als zwanzig Jahre später wieder aufgenommen wurde. Allerdings ging Gorbatschow sehr viel intensiver und großflächiger vor, wobei sich schon die Liberalisierung nach Stalins Tod nicht nur auf die inneren Verhältnisse der Sowjetunion beschränkte und bereits punktuell zur Entspannung mit dem Westen führte.

      Nach Lesart Moskaus repräsentierte die Bundesrepublik damals den einstigen Aggressor und trug allein die Schuld am Zweiten Weltkrieg, während man in der DDR eine antifaschistische Bastion und einen Verbündeten sah. Und eben diese Bundesrepublik nahm jetzt, zehn Jahre nach Kriegsende, mit der Sowjetunion diplomatische Beziehungen auf. Auf Einladung der sowjetischen Regierung reiste Bundeskanzler Konrad Adenauer vom 8. bis 14. September 1955 nach Moskau. Diese Aufnahme diplomatischer Beziehungen war gekoppelt an die Freilassung der verbliebenen deutschen Kriegsgefangenen und der Verschleppten, die sich in der sowjetischen Besatzungszone oder in der neu gegründeten DDR tatsächlich oder vermeintlich aufgelehnt hatten. 20 000 solcher Zivilisten waren von sowjetischen Militärtribunalen abgeurteilt und in sowjetische Arbeitslager deportiert worden. Die Zahl der Kriegsgefangenen lag bei 9 626, weshalb ihre Rückführung als „Rückkehr der letzten 10 000“ in die deutsche Nachkriegsgeschichte einging.

      Auch der junge Gorbatschow konnte den Adenauer-Besuch verfolgen, weil die sowjetischen Medien offen darüber berichteten. Selbst die deutschen Kriegsgefangenen und Verschleppten – oder zumindest ein Teil von ihnen – erfuhren erlaubterweise in den Arbeitslagern über das Radio davon. Bei der Ankunft auf dem Moskauer Flughafen sagte Adenauer: „Ich hoffe sehr, dass der erste Kontakt, den wir mit unserer Anwesenheit in Moskau aufnehmen, die Herstellung normaler, guter Beziehungen einleitet.“25 Fast unvorstellbar, dass sogar die Nationalhymne des einstigen Aggressors und Feindes auf dem Flugplatz gespielt und im sowjetischen Radio übertragen wurde.

      Adenauer schafft den Durchbruch nach zähen Verhandlungen, was nach dem unvorstellbaren Leid, das durch den deutschen Überfall auf die Sowjetunion verursacht worden war, einem starken Friedenssignal gleichkam. Zwar waren bereits bis 1955 rund zwei Millionen deutsche Gefangene von der Sowjetunion freigelassen worden. Doch die verbliebenen rund 10 000 Wehrmachtsoldaten, darunter auch SS-Männer, sowie die verschleppten Zivilisten waren eine Art Pfand gewesen, ein Druckmittel, das politisch im richtigen Moment genutzt werden sollte.

      Der junge Parteifunktionär Gorbatschow hat der Jugend nicht nur die aktuelle Parteilinie und die gelegentlichen Wendungen in innenpolitischen und außenpolitischen Fragen nahezubringen, sondern auch herauszufinden, was sie denkt, was sie bedrückt, welche Erwartungen sie an die Gebietsführung hat. Daher ist er viel unterwegs, vor allem auf den Dörfern. Seine Berufsbezeichnung, die im Russischen „Propagandist und Agitator“ heißt, verzerrt im Deutschen etwas das Bild seiner frühen Tätigkeit. In erster Linie sind seine Begegnungen mit der Jugend Erkundungsreisen, bei denen Probleme erörtert werden, sei es die offiziell im sozialistischen System nicht existierende Arbeitslosigkeit, sei es das Fehlen von Freizeiteinrichtungen oder überhaupt von lokalen Begegnungsstätten. Denn tatsächlich war Arbeitslosigkeit ein Thema. Selbst Gorbatschows Frau Raissa fand lange keine Stelle als Philosophie-Dozentin. Ihr blieb daher zunächst nichts anderes übrig, als in der Gebietsbibliothek in der Abteilung für ausländische Literatur zu arbeiten.

      Gorbatschow machte sich mit Feuereifer an seine Aufgabe und wollte seine Altersgenossen natürlich im Geiste des Kommunismus mobilisieren. Daher rief er in Stawropol einen Diskussionsklub der Jugend ins Leben. „Das Interesse war so gewaltig, dass wir von Mal zu Mal größere Veranstaltungsräume finden mussten. Die Menschen begannen aufzuwachen. Gefühle der Einengung und der Angst verloren sich.“26 Nach einem Jahr als „Propagandist und Agitator“ stieg Gorbatschow 1956 zum Ersten Sekretär des Stadtkomitees des Partei-Jugendverbandes Komsomol auf. Das war ein einschneidendes Jahr, politisch und privat.

      Nikita Chruschtschow beginnt auf dem inzwischen historischen XX. Parteitag der KPdSU damit, seinen Vorgänger Stalin als Verbrecher zu entlarven, nachdem der sowjetischen Bevölkerung jahrzehntelang eingetrichtert worden ist, er sei der größte, der weiseste, der gütigste, der gerechteste, der genialste Staatslenker auf Erden. Diesem Stalin-Kult setzt Chruschtschow in einer Geheimrede, die


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