Gorbatschow. Ignaz Lozo

Gorbatschow - Ignaz Lozo


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glaubte allerdings, als Sekretär der Komsomol-Organisation einen Vorteil zu haben. Denn kraft dieses Amtes saß er in der Kommission, die darüber entschied, wo die Universitätsabsolventen nach ihrem Abschluss eingesetzt werden würden. Er wollte in Moskau bleiben, auch weil Raissa hier mit dem Graduiertenstudium begonnen hatte. Doch es kam anders:

      „Als ich die letzte Prüfung hinter mir hatte, kam ich nach Hause, genauer gesagt ins Wohnheim. Da finde ich einen Brief. Ich solle bitte in die Staatsanwaltschaft der Sowjetunion kommen. Ich war sehr froh. Doch mit meiner tollen Stimmung war es schnell vorbei. Der Personalchef teilte mir mit – ein gewisser Sajzew, den Namen weiß ich noch – , dass es Änderungen mit der Zuordnung gibt. Die sowjetische Regierung habe im Mai 1955 verordnet, dass die Absolventen nicht mehr in den zentralen Rechtsorganen eingestellt werden dürfen.“26

      Als „zentral“ wurden jene Organe bezeichnet, die sich in der Hauptstadt befanden. Das war vorerst das Aus für Gorbatschow in Moskau, aber auch für alle anderen Absolventen, die dort bleiben und ihre Arbeit als Jurist oder als Juristin aufnehmen wollten. „Offen gestanden, war ich verletzt. Mir wurde Krasnojarsk angeboten. Ich habe all die Namen schon vergessen. Oder die Staatsanwaltschaft der Republik Tadschikistan. Oder ich sollte in Stupino als Staatsanwalt in einem Rüstungsbetrieb arbeiten.“

      Michail Gorbatschow beriet sich mit seiner Frau. Nichts kam infrage. „Ich habe alles abgelehnt, dann aber gefragt: ‚Haben Sie die Möglichkeit, mich nach Stawropol zu schicken?‘“ Das erwies sich als möglich. „In der Arbeitszuweisung wurde dann die Passage ‚… der Staatsanwaltschaft der Sowjetunion zuzuordnen …‘ durch die Passage ‚… der Staatsanwaltschaft der Region Stawropol zuzuordnen …‘ ersetzt.“27

      Auch wenn Gorbatschow nun in den vertrauten Nordkaukasus zurückkehren würde – für das junge Ehepaar war es dennoch ein herber Schlag, weil Raissa nun ihr Graduiertenstudium in Moskau nicht fortsetzen konnte. Vor dem Umzug nach Stawropol im Sommer 1955 nahm sich das Paar noch eine unangenehme Sache vor: den Besuch bei Raissas Eltern im Dorf Ermolajewka in Baschkirien. Diese waren zu Recht gekränkt und empört, weil sie erst im letzten Moment oder sogar erst im Nachhinein von der Hochzeit in Kenntnis gesetzt worden waren. Der familiäre Hintergrund Raissas spiegelt ebenso wie der ihres Mannes die besonders dunklen und schrecklichen Seiten der sowjetischen Geschichte.

      Die Großeltern mütterlicherseits überlebten den Horror der 1930er-Jahre nicht: Großvater Pjotr Parada war einer der Bauern, welche die kommunistischen Machthaber im Zuge der Kollektivierung enteigneten. Sie verurteilten ihn im damals üblichen Schnellverfahren durch eine „Troika“ zum Tode und erschossen ihn aufgrund des konstruierten Tatvorwurfs, „Trotzkist“ zu sein. Seine Ehefrau Anastasia Parada wurde daraufhin von den Dorfbewohnern aus ihrem Haus gejagt und starb vor aller Augen an Hunger und Trauer.28 Ihr Leben sei „nichts als Schinderei gewesen – das war kein Leben“, habe Raissas Mutter Alexandra über ihre eigene Mutter immer wieder gesagt.29

      Raissas Großvater väterlicherseits, Andrej Titarenko, saß vier Jahre im Gefängnis, überlebte aber. Er war Ukrainer, kam aus einer Region etwa 120 Kilometer nordöstlich von Kiew und arbeitete als Eisenbahnbauer. Sein Sohn Maxim, also Raissas Vater, schlug beruflich denselben Weg ein, weshalb er oft umzog. Nachdem es ihn 1929 in die Altai-Region verschlagen hatte, traf er Alexandra Parada und heiratete sie.

      Maxim und Alexandra Titarenko (geb. Parada) bekamen drei Kinder: die erstgeborene Raissa, Sohn Jewgeni und die zweite Tochter Ludmilla. Auch hier mag es zunächst erstaunen, dass Raissa, die aus einem völlig bildungsfernen Elternhaus kam, als Mädchen gefördert wurde, später zur Universität ging und sich schließlich sogar einen akademischen Titel erarbeitete, der in Deutschland etwa einer Promotion entspricht. Ihre Eltern hatten nicht einmal die Grundschule besucht, waren also beide Analphabeten. Entsprechend las auch Raissa als Kind ihren Eltern vor,30 wie Michail Gorbatschow die Frontbriefe und die Zeitung vorgelesen hatte. Lediglich Raissas Mutter nahm noch als verheiratete Erwachsene am kommunistischen Bildungsprogramm „Likbes“ teil. Diese Abkürzung steht für Likwidacija besgramotnosti, die Liquidierung des Analphabetentums. In diesen drei- bis viermonatigen Schnellkursen lernten Erwachsene lesen und schreiben.

      Die allgemeine Grundschulpflicht von vier Klassen wurde 1930 von der Kommunistischen Partei auf dem XVI. Parteitag beschlossen. Die Schulpflicht begann spätestens mit acht Jahren, doch wurden auch ältere Kinder und Jugendliche einbezogen, die bis dahin noch nicht zur Schule gegangen waren. Zusammen mit dem Programm „Likbes“ gelang es auf diese Weise vor allem auf dem Land, den Anteil der Analphabeten deutlich zu senken. Raissas Mutter (1913–1991) bezeichnete die Tatsache, nicht in den Genuss von Bildung gekommen zu sein, als ihre „Lebenstragödie“. Aus diesem Grunde sah sie es als „ihre zentrale Lebensaufgabe an, ihren eigenen Kindern eine gute Bildung zu ermöglichen.“31 Entsprechend waren die Eltern Raissas anfangs unzufrieden darüber, dass die Tochter das Graduiertenstudium in Moskau aufgab, weil sie einem Ehemann in die nordkaukasische Provinz folgen musste, dessen Berufsaussichten noch eher vage waren. Aber die anfängliche Skepsis und der Unmut wichen bald einem herzlichen Verhältnis.

      Ende Juli 1955 kehrte Michail Gorbatschow also gezwungenermaßen von Moskau zurück in den Nordkaukasus. Er wohnte vorübergehend in einem kleinen Hotel in Stawropol und kümmerte sich um ein neues Zuhause, während Raissa derweil noch bei ihren Eltern blieb. Schließlich mietete Michail in Stawropol ein elf Quadratmeter großes Zimmer, in der vom Stadtzentrum etwas abgelegenen Kasanskaja-Straße. Besuch zu empfangen, war dort aufgrund der Enge praktisch unmöglich.

      Gorbatschows Cousine Maria Michalowa wohnt immer noch in Priwolnoje. Sie erinnert sich: „Wir waren da nie. Sie hatten ja für sich selbst kaum Platz. Nur sein Vater oder seine Mutter war mal dort und erzählte: ‚Man kann sich da nicht einmal umdrehen. Es war ein winziges Zimmer. Es standen dort ein Bett, dann eine Kiste, in der die Bücher lagen. Und auf dieser Kiste mussten sie lesen, schreiben, kochen und essen.‘“32

      Fließendes Wasser gab es nicht, es musste mit Eimern von einer draußen gelegenen Wasserpumpe geholt werden. Vor der Ankunft seiner Ehefrau schaffte es Michail Gorbatschow mit seinen kargen finanziellen Mitteln immerhin, zwei Stühle zu kaufen. „Damit war die Möbelfrage dann auch gelöst“, schreibt er selbstironisch in seinem Buch Naedine s soboj.33 Die Vermieter waren ein pensioniertes Lehrer-Ehepaar, nette Leute. Raissa erinnerte sich, der Mann sei eher wortkarg gewesen, was sich nur änderte, wenn er alkoholisiert war. „Und dann belehrte er mich in seinem deutlich angetrunkenen Zustand, ich solle ‚immer klar und nüchtern auf das Leben schauen‘.“34

      7 In diesem Haus in Stawropol lebte das junge Ehepaar Gorbatschow ab Sommer 1955 in einem gemieteten kleinen Zimmer, wo auch ihre Tochter Irina zur Welt kam.

      Michail und Raissa waren damit ein ganz gewöhnliches junges Paar in der Sowjetunion, das sich ein Jahrzehnt nach Kriegsende seinen Platz im Leben erkämpfen musste, während nicht nur eine große Wohnungsnot, sondern auch quälende Armut herrschte. Der ausgebildete Jurist trat seine Arbeit in der Staatsanwaltschaft von Stawropol vorschriftsmäßig zunächst als Praktikant an. Im Nachhinein haben Journalisten sowie angebliche enge Weggefährten schon in Gorbatschows frühen Berufsjahren Anzeichen für seine Systemkritik, gar für sein revolutionäres Gedankengut erkennen wollen. Diese Interpretationen weist er selbst aber nicht nur weit von sich, sondern betont im Gegenteil, er sei ein treuer und überzeugter Anhänger der kommunistischen Idee gewesen und habe sich mit seinem Staat identifiziert.

      Nach dem Kriege kehrten die Soldaten, also vor allem junge Menschen, von der Front zurück, sie waren stolze und selbstbewusste Sieger und hatten ein Stück der durch Krieg zwar zerstörten, aber dennoch anderen europäischen Welt gesehen. Die Zukunft stellten sie sich im Rahmen der kommunistischen Ideologie vor, die sowohl soziale Gerechtigkeit als auch Herrschaft des Volkes verkündete. Die Schulkenntnisse, vor allem Geschichte, bestätigten mir, dass weder der russische Zarismus und der Kolonialismus der europäischen Großmächte noch die Krisen und Kriege Propaganda waren. Sie gab es wirklich. Das bestärkte mich und meine Generation darin, keinen Gedanken darauf zu verschwenden, die Ordnung zu verändern, in der wir lebten.35


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