Gorbatschow. Ignaz Lozo

Gorbatschow - Ignaz Lozo


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war Stalins Tod ein Problem, für Raissa nicht.“5

      Als Gorbatschow mit seinem Freund Zdeněk Mlynář aufbricht, um zum offenen Sarg Stalins im „Haus der Gewerkschaften“ zu gelangen, das sich ganz in der Nähe des Kremls und der Geheimdienstzentrale Lubjanka befindet, hat er großes Glück. Ohne dass noch nachvollziehbar wäre, warum, meiden sie und ein paar Kommilitonen den Trubnaja-Platz, wo es an diesem Abend des 8. März zur Tragödie kommt: Aufgrund der riesigen Menschenmenge, die unterwegs ist und immer stärker anwächst, geht es auf diesem überschaubaren Platz irgendwann weder vor noch zurück. Panik bricht aus, und Menschen kommen zu Schaden. Sie werden erdrückt, erstickt oder totgetrampelt. Die Schätzungen reichen von 500 Todesopfern bis zu mehreren Tausend. Die sowjetische Presse verschweigt diese Katastrophe.

      Immer wieder kommt Gorbatschow als Kreml-Chef a. D. auf seinen Großvater zurück, wenn es um Stalin geht. In den publizierten Dialogen, die er Mitte der 1990er-Jahre mit Mlynář führte, wird noch mal deutlich, wie sehr und wie nachhaltig der Großvater, aber auch Vater Sergej sein Stalin-Bild prägten:

      Er [Großvater Pantelej – I.L.] glaubte, dass Stalin von den Verbrechen nichts wisse. Und dies umso mehr, als jene, die ihn und andere gequält und gefoltert hatten, alsbald selbst eingesperrt oder erschossen wurden. Es schien, als träfe die nächste Welle der Repression die tatsächlich Schuldigen. Das war die hinterhältige Taktik Stalins. Mein russischer Vater Sergej, der Maria, die Tochter dieses Mannes heiratete, teilte dessen Überzeugungen und stand auf dessen Seite – obgleich doch sein eigener Vater, also mein anderer Großvater, viele Jahre sich weigerte, in die Kolchose einzutreten, und Einzelbauer blieb.6

      Auch Michail Gorbatschow verband diese Stimmungsmache gegen Ärzte und „Kosmopoliten“, die keineswegs den sozialistischen Tugenden wie Gleichheit und Gerechtigkeit entsprach, nicht mit Stalin. Schockiert war er jedoch über einen Angriff auf seinen Studienfreund Waldimir Liberman:

      Er war ein Frontsoldat, ein guter Kerl. Einmal verspätete er sich zum Unterricht. Als er dann doch kam, sah er sehr mitgenommen und zerfleddert aus, so als ob man auf ihm herumgetrampelt hätte. „Was ist passiert, Wolodja“, fragte ich. „Was ist los? Geht es dir schlecht?“ Er sagte: „Mischka, ich wurde vorhin aus der Straßenbahn geworfen – weil ich Jude bin.“ Es war die Zeit der sogenannten Ärzteverschwörung. Ich sagte zu ihm: „Komm, hör auf!“ Er darauf: „Doch! Kannst du dir das vorstellen? Gerade ich!“ Er war Jahrgang 1925, war an der Front gewesen, hatte Orden und so weiter.“7

      Wladimir – „Wolodja“ – Liberman spielte eine große Rolle in Gorbatschows Leben, wenn auch nicht bewusst. Dasselbe gilt für Juri – „Jura“ – Topilin, der mit Gorbatschow in einem Gemeinschaftszimmer wohnte. Denn diesen beiden Weggefährten verdankt Gorbatschow im Grunde die erste Begegnung mit seiner späteren Frau.

      Holpriger Start mit Raissa

      Wie so häufig versuchten die Freunde auch an einem Abend im Herbst 1951, Michail Gorbatschow von den Büchern loszureißen: „Ich wollte alles wissen. Meine Neugierde kannte keine Grenzen. Unten gab es eine Bibliothek, und wir pflegten dort zu lernen. Doch ich saß in unserem Zimmer. Im Studentenclub war jeden Abend etwas los.“ Liberman und Topilin kamen herein, und einer von ihnen sagte zu Gorbatschow: „Hör mal, Mischa, komm jetzt mit. Lass gut sein!“ Als dieser wissen wollte, warum er ausgerechnet an diesem Abend unbedingt dabei sein solle, lautete die Erklärung, es sei ein außergewöhnlich tolles Mädchen gekommen. „Geht schon mal vor, ich komme gleich“, erwiderte Gorbatschow.8 Noch in seinem Lebensherbst schildert er die damaligen Ereignisse mit so leuchtenden Augen, als wäre es gestern gewesen.

      Ich hatte gar nicht vor, nachzukommen. Aber dann klopfte etwas in mir. Oder jemand klopfte. […] Oder es klopfte einfach hier? [Gorbatschow zeigt auf sein Herz. – I.L.] Ich schloss das Buch und ging hinaus. Als ich im Studentenclub ankam, befanden sie sich in einer Gruppe mit Mädchen von der philosophischen Fakultät. Ich lernte alle kennen. Von Raissa war ich sofort beeindruckt, war auf der Stelle hin und weg! Aber offen gesagt, weckte ich ihre Aufmerksamkeit nicht. Oder sie verheimlichte es. Ich habe sie nie gefragt, wie sie unsere erste Begegnung empfand – während unseres gesamten gemeinsamen Lebens nicht. Ich glaube, wir hatten beide Glück. Sie und ich, wir hatten so eine Freundschaft und so eine innige Beziehung zueinander. So ein tiefes, festes und gegenseitiges Vertrauen.9

      Gorbatschow selbst hat in seinem Buch Alles zu seiner Zeit ausführlich die etwas holprigen Anfänge mit und sein Werben um Raissa Titarenko beschrieben. Entscheidend war dabei wie auch bei seinem politischen Aufstieg dreierlei: Behutsamkeit einerseits, große Zielstrebigkeit andererseits sowie drittens schlicht und einfach Glück.

      In Russland und im Westen gilt das Paar Gorbatschow als musterhaft. Selbst russische Bürger, die Gorbatschows Politik völlig ablehnen, ihn teilweise sogar schmähen, bewundern die gegenseitige Hingabe der Eheleute, die zu Lebzeiten Raissas für jeden sichtbar war. Inszenierte Zweisamkeit wie beim deutschen Bundeskanzler Kohl und seiner Ehefrau Hannelore alljährlich am Wolfgangsee hatten sie nicht nötig. Und jede russische, beziehungsweise sowjetische Frau sah, wie Michail Gorbatschow seine Ehefrau auf Händen trug, sie als gleichberechtigte, auf Augenhöhe agierende Partnerin behandelte und respektierte. Dabei scherte er sich wenig darum, dass Raissa mit ihren öffentlichen Auftritten allein oder an seiner Seite nicht dem sowjetischen Frauenbild entsprach.

      Damals jedoch, als der 20-jährige Michail Gorbatschow Raissa Titarenko im Moskauer Studentenclub kennenlernte, war diese schon liiert und ignorierte ihn deshalb anfänglich. Einmal bemerkte er Raissa mit einem hochgewachsenen jungen Mann und bat seine Freunde, Erkundigungen über ihn einzuholen. Nach einiger Zeit kam der Freund zurück mit dem für Gorbatschow niederschmetternden Ergebnis: Dies sei ein gewisser Anatoli Saretski, ein Physik-Student. Raissa und er hätten große Zukunftspläne.10 Gorbatschow stellte seine Bemühungen sofort ein.

      Nach ungefähr zwei Monaten besucht Gorbatschow ein Konzert im Wohnheim-Komplex. Der Saal platzt aus allen Nähten und vergeblich hält er nach einem Sitzplatz Ausschau. Plötzlich jedoch steht eine junge Frau auf, Raissa, und bietet ihm ihren Platz an, weil sie ohnehin gehen wolle. Einem inneren Impuls folgend schlägt ihr Gorbatschow vor, mitzukommen, und Raissa hat nichts einzuwenden.11 Daraus wird ein ausgedehnter Spaziergang von rund zwei Stunden. Anfangs siezten die beiden sich, wie es selbst bei jungen Studenten damals üblich war. Mehrere Treffen folgen, bis Raissa plötzlich nicht mehr will: „Wir sollten uns nicht mehr treffen und unserer Beziehung abbrechen, solange es noch nicht zu spät ist“, erklärt sie ihm. Völlig konsterniert erwidert er, er könne ihre Bitte unmöglich erfüllen, denn das käme für ihn einer Katastrophe gleich. „Ich werde auf dich warten“, erwidert er beharrlich. „Am Ende wurde eine Liebeserklärung daraus“, schreibt er in seinen Memoiren von 1995. Zwei Tage später sahen sie sich erneut und gingen nie wieder auseinander.

      Einziger Grund für das anfängliche Zögern Raissas war offenbar die noch nicht verwundene Trennung von Anatoli Saretski. Dieser, selbst nicht durchsetzungsfähig, hatte sie auf das Drängen seiner Mutter verlassen, der Raissa nicht gefiel.12 Was sich für die junge Frau zunächst wie ein großes Unglück und eine schwere Kränkung ausnahm, war zugleich die Voraussetzung für die lange und glückliche Ehe mit Gorbatschow.

      Ja-Wort ohne Verwandtschaft

      Im Juni 1952, nachdem Michail zahlreiche andere Verehrer ausgestochen hatte, wurden sie ein Paar, und ein Jahr später beschlossen sie zu heiraten. „Es war eine Studentenhochzeit. Einige Mädchen aus ihrer Gruppe kamen, dann meine Jungs – das war nichts Großes.“13 Weder Michails noch Raissas Eltern waren bei der Vermählung dabei. Wo hätten sie auch übernachten sollen? Das Wohnheim kam nicht infrage, und Hotels waren in Moskau nur schwer zu bekommen und zu teuer. Dennoch musste der Verlobte, um die Hochzeit zu finanzieren, Geld verdienen. Daher reiste er in den Sommerferien 1953 in die Heimat, um wieder mit dem vertrauten Mähdrescher auf dem Feld zu arbeiten und seine Eltern in die Hochzeitspläne einzuweihen.

      Parallel allerdings absolvierte er ein dreimonatiges


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