Dr. Daniel Staffel 9 – Arztroman. Marie Francoise
So etwas sah ihm normalerweise gar nicht ähnlich, aber dieser Kai Horstmann war ihm wirklich extrem unsympathisch. Nur deshalb war er, Dr. Daniel, vermutlich auf einen solch haarsträubenden Gedanken gekommen.
»Ich nehme an, Ihr Verlobter wird Sie heute abholen, wenn er aus dem Büro kommt«, vermutete Dr. Daniel.
Beinahe erschrocken sah Nikola ihn an, dann griff sie hastig nach dem Block.
Kann ich nicht noch hierbleiben? wollte sie wissen. Die Gespräche mit Ihnen tun mir so gut und… Sie ließ den Stift einen Moment lang sinken, dann schrieb sie langsam weiter. Hier fühle ich mich sicher.
Dr. Daniel nickte. »Natürlich würde ich Sie gern hierbehalten aber ich fürchte, dagegen wird Ihr Verlobter vehement Einspruch erheben. Ich könnte zwar sagen, daß die Antibiotika-Behandlung Ihren weiteren Klinikaufenthalt nötig machen würde, aber ich fürchte, es wird ihm ein leichtes sein herauszubekommen, daß diese Behandlung auch ambulant durchgeführt werden kann.« Er sah die Angst auf Nikolas Gesicht und tätschelte väterlich ihre Hand. »Keine Sorge, Nikola, wir werden das schon irgendwie hinkriegen.« Er zögerte. »Wenn Sie Ihrem Verlobten sagen würden, was passiert ist, dann wäre das Ganze natürlich einfacher, denn dann könnten wir die wahren Gründe für Ihren Wunsch nach einem weiteren Klinikaufenthalt nennen.«
Heftig schüttelte Nikola den Kopf.
Kai darf davon nie etwas erfahren, schrieb sie. Er könnte sich danach vor meinem Körper nur noch ekeln. Ich selbst empfinde doch schon Abscheu, wenn ich mich im Spiegel betrachte, und für Kai müßte es ja noch viel schlimmer sein. Der Gedanke, daß ein anderer mich berührt hat, mich… Der Stift fiel ihr aus der Hand, als sie schluchzend die Hände vor ihr Gesicht schlug.
Tröstend nahm Dr. Daniel die junge Frau in die Arme. Er konnte sehr gut verstehen, was in ihr vorging. Schon in der vergangenen Nacht hatte sie ihm aufgeschrieben, daß sie praktisch ständig das Bedürfnis hätte sich zu waschen oder zu duschen, und gleichzeitig das Gefühl, doch nie wieder sauber zu werden. Ein ähnliches Empfinden gab es auch bei anderen Vergewaltigungsopfern, die er kannte. Die Abscheu vor dem eigenen Körper war da oft sehr ausgeprägt, ebenso wie die Angst, der Partner könnte ähnlich empfinden.
Nikola wurde in Dr. Daniels Armen allmählich wieder ruhiger. Er suchte ihren Blick, um sicherzugehen, daß sie seine Worte von den Lippen ablesen konnte.
»Ich werde Sie hier in der Klinik behalten – gleichgültig, wie sehr ihr Verlobter mir zusetzen mag«, meinte er. »Ob und wann Sie ihm die Wahrheit sagen, bleibt ganz allein Ihnen überlassen.« Er schwieg kurz. »Allerdings will ich ehrlich sein: Ich weiß nicht, ob ich Ihnen wirklich helfen kann. In Ihrer Situation sollten Sie sich in psychiatrische Behandlung begeben. Im Kreiskrankenhaus gibt es da einen sehr guten Arzt – Dr. Berg.«
Doch Nikola schüttelte entschieden den Kopf.
Ich habe nur zu Ihnen Vertrauen, schrieb sie. Wenn Sie mir nicht helfen können, dann kann es wohl niemand.
*
Wie Dr. Scheibler schon angedeutet hatte, gab es mit der Einstellung von Ivo Kersten keine Probleme. Dr. Daniel und die Oberärztin Dr. Lisa Walther waren von dem sympathischen jungen Mann auf Anhieb angetan.
»Offiziell habe ich noch Resturlaub«, meinte Ivo eifrig. »Den hat mein Chef mir bewilligt, damit ich die Wohnung vor meinem Auszug renovieren kann, aber viel zu renovieren gibt es da nicht. Schließlich habe ich in der Wohnung ja nicht wie ein Vandale gehaust. Ich könnte also am Montag schon anfangen.«
»Langsam, Ivo«, bremste Dr. Scheibler seinen Enthusiasmus. »Erst mal werden Sie abwarten, bis Ihre Verletzung verheilt ist. Gerade als Krankenpfleger sind Sie praktisch den ganzen Tag auf den Beinen, und es wäre sicher nur eine Frage der Zeit, bis Sie mit Ihrer Wunde Probleme bekämen. Also, genießen Sie Ihren
Resturlaub, und treten Sie die Stellung hier am nächsten Ersten an.«
Ivo strahlte über das ganze Gesicht. »Mensch, ich habe wirklich Glück.« Er stand auf. »Brauchen Sie mich jetzt noch, oder darf ich jemanden besuchen?«
»Gehen Sie nur«, meinte Dr. Scheibler.
Höflich verabschiedete sich Ivo, bedankte sich nochmals für die Stellung, die er bekommen hatte und verließ schließlich das Chefarztbüro. Die drei Ärzte sahen ihm nach, dann ergriff Dr. Daniel das Wort.
»Ein sympathischer Junge«, urteilte er. »Ich glaube, da haben wir möglicherweise einen Glücksgriff getan.«
Dr. Scheibler und Lisa Walther nickten zustimmend.
Währenddessen war Ivo schon auf dem Weg zur Gynäkologie, dann blieb er vor Nikolas Zimmertür stehen, atmete tief durch und klopfte an. Erst in diesem Moment wurde ihm bewußt, daß sie das gar nicht hören konnte.
Ivo öffnete die Tür und spähte vorsichtig hinein, doch zu seiner großen Erleichterung war Nikola allein. Sie lächelte, als sie ihn sah.
»Hallo, Ivo«, begrüßte sie ihn. »Schön, daß Sie mich besuchen.«
Spontan setzte er sich an ihr Bett und antwortete ebenfalls in Handzeichen: »Das hatte ich Ihnen doch versprochen. Außerdem muß ich mich bei Ihnen bedanken. Immerhin haben Sie mich auf die Idee gebracht, mich hier als Krankenpfleger zu bewerben, und gerade habe ich die Stellung bekommen.«
Man konnte Nikola ansehen, daß sie sich aufrichtig mit Ivo freute.
»Das ist ja wunderbar«, bedeutete sie ihm. »Wann treten Sie Ihre neue Stellung an?«
»Am kommenden Ersten«, antwortete Ivo, zögerte ein wenig und signalisierte schließlich: »Werden Sie dann noch hier sein?«
Nikola wurde ernst. Sie schüttelte den Kopf. »Sicher nicht. Vermutlich will mich mein Verlobter sogar heute schon abholen, aber ich möchte noch hierbleiben. Die Gespräche mit Dr. Daniel tun mir sehr gut. Ich fühle mich in dieser Klinik ausgesprochen wohl.«
Die Erwähnung ihres Verlobten traf Ivo wieder mitten ins Herz. Schon gestern, als sie zusammen in der Cafeteria gewesen waren, hatte ihn die Tatsache, daß Nikola verlobt war, tief getroffen.
»Ich wurde heute vormittag entlassen«, bedeutete Ivo ihr. »Aber solange Sie hier sind, würde ich gern wiederkommen, um Sie zu besuchen.«
Nikola senkte einen Augenblick den Kopf, dann sah sie Ivo wieder an.
»Ich glaube, das wäre keine gute Idee.« Man konnte ihr anmerken, wie schwer es ihr fiel, diese Worte zu formen. »Sie wissen, daß ich verlobt bin.«
»Ich will Sie aber wiedersehen«, entgegnete Ivo. »Niki, bitte…«
Niki. Die junge Frau saß da und sah vor ihrem geistigen Auge noch immer die Handbewegungen, mit denen Ivo dieses eine zärtliche Wort geformt hatte. Noch nie zuvor hatte irgend jemand Niki zu ihr gesagt.
Genau in diesem Moment ging die Tür auf. Erschrocken fuhr Ivo herum und sah sich einem großen, schlanken Mann mit dunklem Haar und eisblauen Augen gegenüber. Ivo wußte sofort, wer das sein mußte.
»Was ist hier los?« fragte der Mann, und seine Stimme klang extrem hart.
Ivo erhob sich.
»Ich heiße Ivo Kersten«, stellte er sich vor. »Nikola und ich sind uns gestern zufällig begegnet und…«
»Nikola?« widerholte der Mann beinahe drohend. »Für Sie ist meine Verlobte immer noch Fräulein Forster, haben Sie mich verstanden?« Er trat neben Nikola und legte mit einer besitzergreifenden Geste einen Arm um ihre Schultern.
»Kai, beruhige dich«, bat Nikola ihn mit Handzeichen. »Es ist alles ganz harmlos. Herr Kersten hat mich nur besucht, um mir zu sagen, daß er hier eine Stellung als Krankenpfleger bekommen hat.«
»Das dürfte für dich ziemlich uninteressant sein«, entgegnete Kai. »Immerhin werde ich dich jetzt mit nach Hause nehmen, und die Wahrscheinlichkeit, daß du diesem Herrn in seiner Eigenschaft als Krankenpfleger noch einmal begegnest, ist äußerst gering.«
Nikola schluckte. Offensichtlich wußte Kai