Dr. Daniel Staffel 9 – Arztroman. Marie Francoise
Der Morgen dämmerte bereits, als Nikola endlich wieder einschlief. Dr. Daniel saß an ihrem Bett und hielt noch ihre Hand. Er war zutiefst erschüttert von dem, was er in der vergangenen Nacht erfahren hatte.
Was waren das nur für Menschen, die so etwas taten? Sein Blick ruhte auf Nikolas Gesicht, das jetzt gelöst und entspannt wirkte, doch er wußte, daß es in ihrem Innern völlig anders aussah, und es würde vermutlich noch lange dauern, bis sich das änderte – falls es überhaupt möglich war. Konnte eine Frau so etwas jemals ganz vergessen? Die Angst, die Demütigung, den Schmerz? Das Gefühl, einfach nur benutzt worden zu sein?
Langsam stand Dr. Daniel auf, dann verließ er leise den Raum. Im Schwesternzimmer fand gerade die Dienstübergabe statt.
»Carola«, sprach Dr. Daniel die junge Stationsschwester an. »Fräulein Forster war fast die ganze Nacht wach. Ich möchte, daß sie nicht gestört wird, bis sie ausgeschlafen hat. Den Chefarzt werde ich gleich persönlich informieren, daß die Patientin von der täglichen Visite ausgenommen werden soll.«
»In Ordnung, Herr Doktor«, nahm Schwester Carola die Anweisung entgegen. »Ich werde gleich ein Schild an der Tür anbringen, damit wirklich niemand hineingeht und die junge Frau womöglich aufweckt.«
Dr. Daniel bedankte sich, dann machte er sich auf den Weg zur Chirurgie, wo der Chefarzt Dr. Gerrit Scheibler gerade seinen Dienst antrat.
»Robert, was tun Sie um diese Zeit schon hier?« fragte er erstaunt.
Mit einem tiefen Seufzer fuhr sich Dr. Daniel durch das dichte blonde Haar.
»Ich war die halbe Nacht hier«, erzählte er. »Nikola Forster hatte einen schrecklichen Alptraum, der von einem schrecklichen Erlebnis herrührte.« Er schwieg kurz. »Deshalb bin ich jetzt auch bei Ihnen. Ich möchte Sie bitten, Fräulein Forster heute von der täglichen Visite auszunehmen. Sie muß ihren versäumten Schlaf nachholen.«
Dr. Scheibler nickte verständnisvoll, dann holte er eine Akte hervor. »Die wollte ich Ihnen ohnehin gleich heute früh vorlegen.«
»Das Ergebnis der Abstrichuntersuchung?« erkundigte sich Dr. Daniel, als er auf der Akte Nikolas Namen las.
Dr. Scheibler nickte. »Ihre Vermutung war völlig richtig. Es handelte sich tatsächlich um eine Chlamydieninfektion.«
Dr. Daniel betrachtete das Untersuchungsergebnis und dachte unwillkürlich daran, daß er darüber auch mit Kai Horstmann sprechen mußte – allerdings
erst, wenn er Nikola zuvor noch einige Fragen gestellt haben würde.
»Danke, daß Sie das so schnell erledigt haben, Gerrit«, meinte Dr. Daniel.
»Das ist doch selbstverständlich.« Der Chefarzt musterte ihn besorgt. »Ist mit Ihnen alles in Ordnung, Robert?«
Dr. Daniel seufzte noch einmal. »Ja, Gerrit, ich bin nur ziemlich müde. Die Nacht war anstrengend – weniger im körperlicher als vielmehr in psychischer Hinsicht.«
»Sie sind eigentlich zu sensibel für diesen Beruf«, entfuhr es Dr. Scheibler.
»Fangen Sie jetzt auch noch damit an?« erwiderte Dr. Daniel unwillig. »Das durfte ich mir von meinem Freund schon einige Male anhören.«
»Meine Worte waren nicht negativ gemeint«, verwahrte sich Dr. Scheibler. »Gerade Ihre Sensibilität ist es doch, die einen großen Teil Ihrer Beliebtheit ausmacht, aber… Sie sind dadurch eben auch… anfälliger… verletzlicher.« Er seufzte. »Es ist schwierig, das richtig auszudrücken.«
Dr. Daniel lächelte. »Ich verstehe schon, Gerrit, und vermutlich haben Sie sogar recht. Der Fall von Fräulein Forster geht mir tatsächlich gehörig an die Nieren, wie man so sagt.« Er schaute auf die Uhr. »Ich muß zusehen, daß ich in die Praxis komme. Heute mittag werde ich das Untersuchungsergebnis mit Fräulein Forster besprechen.«
Dr. Scheibler sah ihm nach, wie er die Klinik verließ.
»Irgendwann klappt er mal zusammen«, murmelte er, dann ging auch er an seine Arbeit.
*
Ivo Kersten hatte nicht die Geduld zu warten, bis der Chefarzt mit seinem Team zur Visite kam. Kaum hatte er gefrühstückt, da machte er sich auch schon auf den Weg zum Büro des Chefarztes, atmete tief durch und klopfte dann beherzt an.
»Ja, bitte«, erklang von drinnen Dr. Scheiblers tiefe Stimme.
Ivo trat ein. »Guten Tag, Herr Chefarzt.«
Dr. Scheibler sah ihn erstaunt an. Es kam äußerst selten vor, daß Patienten ihn mit diesem Titel ansprachen. Innerhalb der Klinik taten das eigentlich nur die Schwestern und Krankenpfleger.
»Guten Morgen, Herr Kersten«, erwiderte Dr. Scheibler, und nun war es an Ivo, erstaunt zu sein.
»Sie kennen meinen Namen?«
Mit einer einladenden Geste bot ihm der Chefarzt Platz an.
»Üblicherweise merke ich mir nur die Namen meiner Patienten«, meinte er lächelnd. »Vor allem, wenn die Station – wie auch jetzt gerade – nicht voll belegt ist, behalte ich den Überblick.« Er schwieg kurz. »Nun, was führt Sie zu mir? Sind Sie mit der Behandlung nicht zufrieden?«
»Damit hat es überhaupt nichts zu tun«, beeilte sich Ivo zu versichern. »Ich fühle mich hier in der Klinik sogar sehr gut versorgt, aber das nur nebenbei. Es geht um…« Er stockte kurz und atmete tief durch, dann entschloß er sich, nicht lange um den heißen Brei herumzureden. »Könnten Sie noch einen Krankenpfleger brauchen?«
Dr. Scheibler schmunzelte. »Bewerben Sie sich immer so direkt?«
Ivo errötete. »Nein, eigentlich nicht. Dieser Gedanke kam mir nur ganz plötzlich – gestern abend, als ich mich mit einer jungen Frau unterhalten habe, die hier ebenfalls Patientin ist.« Er verschränkte die Finger ineinander. »Ich habe nun natürlich auch gar keine Unterlagen dabei, aber Sándor kennt mich, und… ich könnte auch gleich anfangen.«
Der Chefarzt mußte lachen. »Sie fallen ja wirklich mit der Tür ins Haus, Herr Kersten. Nun mal langsam. Erstens kann ich über eine Einstellung nicht allein entscheiden. Da hat unser Direktor auch noch ein Wörtchen mitzureden, und gewöhnlich ziehe ich auch unsere Oberärztin vorher zu Rate. Zweitens würden wir uns aufgrund Ihrer Zeugnisse gern ein Bild von Ihnen machen. Ihre Noten und Beurteilungen sind zwar nicht allein ausschlaggebend, aber ein bißchen informiert möchten wir natürlich schon sein.« Er lächelte. »Allerdings will ich ganz offen sein: Wir könnten tatsächlich noch einen guten Krankenpfleger brauchen.«
Rasch erhob sich Ivvo. »Ich werde gleich nach Hause fahren und meine Zeugnisse holen.«
»Moment, Herr Kersten«, bremste Dr. Scheibler jetzt seinen Übereifer. »Noch sind Sie Patient dieser Klinik. Ob und wann Sie nach Hause gehen, entscheide also noch immer ich.«
»Ja, natürlich«, entgegnete Ivo kleinlaut, dann ließ er sich wieder auf den Stuhl sinken. »Sie müssen ja einen völlig falschen Eindruck von mir bekommen. Normalerweise bin ich nicht so kopflos und ungeduldig, aber… wissen Sie, ich bin vor kurzem arbeitslos geworden und muß deshalb auch aus der Wohnung, die ich hier in Steinhausen bekommen habe. Der Gedanke, so schnell wieder Arbeit zu bekommen, wäre einfach wunderbar für mich.«
Dr. Scheibler mußte lächeln. Der Eifer des jungen Mannes gefiel ihm, und seine Freundschaft mit dem zuverlässigen Sándor besagte ja auch einiges über Ivos Charakter.
»Kommen Sie, Herr Kersten«, meinte Dr. Scheibler und stand auf. »Gehen wir mal in den Untersuchungsraum, dann sehe ich mir Ihr Bein an. Etwas anderes hätte ich heute während der Visite ja auch nicht getan, und wo Sie schon mal hier sind, können wird das auch gleich erledigen.«
Ivo verstand. In seinem Gesicht ging die Sonne auf. »Danke, Herr Chefarzt. Ich meine… daß Sie das so zwischendurch machen, nur damit ich gleich nach Hause kann.«
Er folgte Dr. Scheibler nach nebenan.
»Ziehen Sie bitte die