BOY'S LIFE - Die Suche nach einem Mörder. Robert Mccammon

BOY'S LIFE - Die Suche nach einem Mörder - Robert Mccammon


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denke, mein Vater hat immer geglaubt, dass alle Menschen in der tiefsten Seele ihres Wesens gut sind. Dieses Erlebnis erschütterte ihn in seinen Grundfesten, und ich hatte das Gefühl, dass der Mörder meinen Vater genauso an diese schreckliche Morgenstunde gefesselt hatte wie das Opfer ans Lenkrad. Ich schloss die Augen und betete für Dad, dass er seinen Weg aus der Finsternis herausfinden konnte.

      Der März verstrich lammfromm, aber die Arbeit des Mörders war noch nicht getan.

      Der Eindringling

      Alles beruhigte sich wieder, wie es meist der Fall ist.

      Am ersten Samstagnachmittag im April, als die Bäume Knospen trugen und Blumen sich aus der warmen Erde schoben, saß ich zwischen Ben Sears und Johnny Wilson von brüllenden Leuten umzingelt, während Tarzan – Gordon Scott, der beste Tarzan, den es je gegeben hat – sein Messer im Bauch eines Krokodils versenkte. Blut spritzte in scharlachroter Filmfarbe auf.

      »Hast du das gesehen? Hast du das gesehen?«, fragte Ben immer wieder und stieß mir seinen Ellbogen in die Rippen. Natürlich sah ich es. Ich hatte schließlich Augen, oder nicht? Meine Rippen würden bis zu den Three Stooges in der Filmpause nicht überleben, so viel war sicher.

      Das Lyric war das einzige Kino in Zephyr. Es war 1945 nach Ende des Zweiten Weltkriegs gebaut worden, als Zephyrs Söhne nach Hause marschierten oder humpelten und nach Unterhaltung verlangten, die die Albträume von Hakenkreuzen und der Aufgehenden Sonne vertreiben konnte. Irgendein wohlhabender Stadtvater griff tief in die Tasche und ließ aus Birmingham einen Architekten kommen, der einen Bauplan zeichnete und auf einem verkommenen Grundstück, das einst eine Tabakscheune beheimatet hatte, Quadrate absteckte. Natürlich war ich zu der Zeit noch nicht geboren, aber Mr. Dollar könnte euch die ganze Geschichte erzählen. Ein wahrer Palast voller Stuckengel wurde errichtet, und wenn wir junge Burschen uns samstagnachmittags mit unserem Popcorn, Süßigkeiten und Flaschen Schokoladenmilch in die Sitze flegelten, konnten unsere Eltern ein paar Stunden lang durchatmen.

      Jedenfalls saß ich an einem Samstagnachmittag mit meinen zwei Freunden im Tarzan-Film. Ich weiß nicht mehr, warum Davy Ray nicht mit dabei war; ich glaube, er hatte Stubenarrest, weil er Molly Lujack einen Kiefernzapfen an den Kopf geworfen hatte.

      Satelliten konnten zum Himmel steigen und Funken ins Weltall spucken. Ein Mann mit Bart und Zigarre konnte auf einer Insel vor Floridas Küste Spanisch plappern, während Blut die Bucht der Schweine rot färbte. Der kahlköpfige Russe konnte seinen Schuh werfen. Soldaten konnten ihre Ausrüstung für einen Ausflug in einen Dschungel namens Vietnam packen. Atombomben konnten in der Wüste gezündet werden und Mannequins aus Reihenhauswohnzimmern fliegen lassen. Nichts davon interessierte uns. Das war keine Magie. Magie gab es samstagnachmittags im Doppelfilm im Lyric, und wir nutzten die Gelegenheit, uns in diesem Zauber zu verlieren.

      Ich erinnere mich an eine Fernsehsendung – 77 Sunset Strip –, in welcher der Held ein Kino betrat, das Lyric hieß, und das ließ mich über das Wort nachdenken. Ich schlug es in meinem massiven 22.483 Seiten langen Wörterbuch nach, das Granddaddy Jaybird mir zu meinem zehnten Geburtstag geschenkt hatte.

      Lyric, stand da: Melodisch. Zum Singen geeignet. Ein lyrisches Gedicht. Von Lyra, Leier. Das schien in Bezug auf ein Kino nicht viel Sinn zu ergeben, bis ich Leier in meinem Wörterbuch nachschlug. Leier brachte mich zur erzählenden Dichtkunst, die reisende Minnesänger zu Zeiten der Schlösser und Könige vortrugen. Was mich zu dem wunderbaren Wort erzählen führte. Schon als Kind kam es mir so vor, als würde alle Kommunikation – ob im Fernsehen, in Filmen oder Büchern – mit jemandem beginnen, der eine Geschichte erzählen will. Dieses Bedürfnis zu erzählen, sich in ein weltweites Netz einzuweben, ist wahrscheinlich unser größtes Verlangen. Und das Bedürfnis, Geschichten zu hören, auch nur für einen kurzen Augenblick ein anderes Leben als unser eigenes zu leben, ist der Schlüssel zu der Magie, die uns von Geburt an in den Knochen steckt.

      Das Lyric.

      »Spieß es auf, Tarzan! Erstich es!«, schrie Ben, und sein Ellbogen machte Überstunden. Ben Sears war ein rundlicher Junge mit kurzgeschorenen braunen Haaren. Er hatte eine hohe, mädchenhafte Stimme und trug eine Hornbrille. Ein Hemd, das in seine Jeans gesteckt bleiben konnte, war noch nicht erfunden worden. Er war so unbeholfen, dass ihn seine Schuhbänder erdrosseln konnten. Er hatte ein breites Kinn und dicke Backen und würde nie zu einer Tarzan-Figur werden, von der die Mädchen träumten, aber er war mein Freund. Johnny Wilson war im Gegensatz zu Bens pausbäckiger Ausgelassenheit schlank, still und ein Bücherwurm. Er hatte einen indianischen Vorfahren und das zeigte sich in seinen schwarzen, glänzenden Augen. Die Sommersonne ließ seine Haut braun wie einen Pinienkern werden. Seine Haare waren fast schwarz und bis auf eine Stirntolle, die an seinem Scheitel wie eine wilde Zwiebel empor spross, mit Vitalis pomadisiert. Sein Vater, ein Vorarbeiter in der Gipsplattenfabrik zwischen Zephyr und Union Town, trug seine Haare genauso.

      Johnnys Mutter war die Bibliothekarin der Schule von Zephyr, deshalb nehme ich an, dass er durch sie zu seiner Bücherliebe gekommen ist. Johnny fraß sich durch Enzyklopädien wie andere Kinder durch Süßigkeiten. Er hatte eine Nase wie ein Beil der Cherokee und seine rechte Augenbraue war von einer kleinen Narbe verzerrt, wo sein Cousin Philbo ihn 1960 mit einem Stock getroffen hatte, als wir alle Soldat gespielt hatten. Auf dem Schulhof wurde Johnny Wilson gehänselt, er sei ein Squawbaby oder hätte Negerblut, und zu allem Übel war er mit einem Klumpfuß geboren worden, was die gegen ihn gerichteten Gemeinheiten noch verdoppelte. Er war bereits stoisch, bevor ich die Bedeutung des Wortes überhaupt kannte.

      Der Film schlängelte sich auf sein Finale zu wie ein Dschungelfluss zum Ozean. Tarzan besiegte den niederträchtigen Elefanten, gab dem Stamm den Salomonstern zurück und schwang sich in den Sonnenuntergang. Die kurze Pause mit den Three Stooges begann, in der Moe faustweise die Haare von Larry ausriss und Curly in einer mit Hummern gefüllten Badewanne saß. Wir amüsierten uns königlich.

      Und dann, ohne jegliche Fanfare, begann der zweite Film.

      Es war ein Schwarzweißfilm, was dem Publikum sofort Laute des Unmuts entlockte. Jeder wusste, dass Farbe echtes Leben war. Auf der Leinwand erschien der Titel: Invasion vom Mars. Der Film wirkte alt, als wäre er in den Fünfzigerjahren gedreht worden.

      »Ich geh Popcorn holen«, verkündete Ben. »Wollt ihr welches?« Wir sagten nein, und er suchte sich seinen Weg durch den dichtbesetzten Gang.

      Der Vorspann endete und die Story begann.

      Ben kam mit seiner Tüte Butterpopcorn gerade rechtzeitig zurück, um zu sehen, was der junge Held durch sein auf den Nachthimmel gerichtetes Teleskop entdeckte: eine fliegende Untertasse, die hinter seinem Haus auf einem Sandhügel landete. Meistens brüllte und lachte das Samstagnachmittagspublikum, wenn auf der Leinwand nicht gekämpft wurde, aber dieses Mal versetzte der beeindruckende Anblick des unheilverkündenden Ufos im Landeanflug den Saal in Schweigen.

      Ich glaube, der Kinoimbiss machte in den folgenden anderthalb Stunden keinerlei Umsatz, auch wenn einige Kinder aufstanden und nach draußen liefen, um sich zu vergewissern, dass es heller Tag war. Der Junge in dem Film konnte niemanden davon überzeugen, dass er eine fliegende Untertasse landen gesehen hatte. Er beobachtete durch sein Teleskop, wie ein Polizist von einer Art groteskem, unerklärlichem Staubsauger in aufgewirbeltem Sand weggesaugt wurde. Dann kam der Polizist ins Haus und versicherte dem Jungen, dass ganz gewiss kein Ufo gelandet war. Es hatte ja sonst niemand etwas gesehen, oder? Allerdings benahm sich der Polizist … seltsam. Wie ein Roboter. Seine Augen lagen wie tot in seinem käsigen Gesicht. Dem Jungen fiel eine ungewöhnliche x-förmige Wunde am Nacken des Polizisten auf. Der Polizist, der ein fröhlicher Mann gewesen war, bevor er auf den Sandhügel gegangen war, lächelte nicht. Er war anders.

      Die x-förmige Wunde begann auch am Hals von anderen Menschen zu erscheinen. Niemand glaubte dem Jungen, der seinen Eltern zu erklären versuchte, dass es in der Erde hinter ihrem Haus ein Nest von Marsbewohnern gab. Dann gingen seine Eltern nach draußen, um selbst nachzuschauen.

      Ben hatte die Popcorntüte auf seinem Schoß vergessen. Johnny saß mit an die Brust gezogenen Knien da. Ich schien keine Luft mehr zu bekommen.


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