BOY'S LIFE - Die Suche nach einem Mörder. Robert Mccammon
es sie gibt.«
»Und was bedeutet das nun?«
Der Sheriff dachte über die Frage meines Vaters nach. Das Lampenlicht verfing sich an dem Silberstern auf seinem Hut. Draußen bellte Rebel und in ganz Zephyr stimmten andere Hunde in seinen Stammesschrei ein. Der Sheriff spreizte die großen Hände und betrachtete seine Finger. »Tom«, sagte er, »wir sehen uns hier mit einer äußerst seltsamen Situation konfrontiert. Wir haben Reifenspuren, aber kein Auto. Sie haben gesagt, dass Sie einen toten Mann gesehen haben, der mit Handschellen ans Lenkrad gefesselt war und der einen Draht um den Hals hatte. Aber wir haben keine Leiche und werden wahrscheinlich auch keine bergen können. Im Ort wird niemand vermisst. In der gesamten Gegend wird niemand vermisst, abgesehen von einem jungen Mädchen, und dessen Mutter nimmt an, dass sie mit ihrem Freund nach Nashville durchgebrannt ist. Übrigens hat dieser Freund keine Tätowierungen. Ich kann niemanden finden, der jemanden mit so einer Tätowierung gesehen hat, wie Sie sie beschreiben.« Sheriff Avery sah mich mit seinen kohlschwarzen Augen an, dann meine Mutter, und dann wieder meinen Vater. »Kennen Sie diese Rätselfrage, Tom – die über den Baum, der im Wald umfällt, und ob der ein Geräusch macht, wenn niemand da ist, um es zu hören? Tja, wenn es also keine Leiche gibt und soweit ich sehen kann niemand vermisst wird … ist dann ein Mord geschehen, oder nicht?«
»Ich weiß, was ich gesehen habe«, sagte Dad. »Zweifeln Sie an meinen Worten, J.T.?«
»Nein, so meine ich das nicht. Ich will damit nur sagen, dass ich nichts mehr tun kann, bis wir ein Mordopfer haben. Ich brauche einen Namen, Tom. Ich brauche ein Gesicht. Ohne jemanden identifizieren zu können, weiß ich nicht mal, wo ich überhaupt anfangen soll.«
»Und in der Zwischenzeit spaziert jemand, der einen anderen Mann umgebracht hat, fröhlich frei herum und muss keine Angst haben, dass er in absehbarer Zeit gefasst wird. Ist das etwa, wie’s aussieht?«
»Ja«, gab der Sheriff zu. »So sieht das aus.«
Natürlich versprach Sheriff Amory, dass er weiter an dem Fall arbeiten würde und dass er im ganzen Bundesstaat nach Vermisstenanzeigen herumtelefonieren würde. Früher oder später, sagte er, würde jemand nach dem Mann fragen, der im See versunken war.
Als der Sheriff weg war, ging mein Vater nach draußen, um allein auf der Veranda zu sitzen, ohne das Licht anzumachen. Dort saß er immer noch allein, als Mom mir sagte, ich sollte mich bettfertig zu machen.
Das war die Nacht, in der der Schrei meines Vaters mich im Dunkeln aufweckte.
Ich setzte mich im Bett auf, alle Nerven zum Zerreißen gespannt. Hinter der Wand konnte ich Mom mit Dad reden hören. »Ist schon gut«, sagte sie. »Es war ein schlimmer Traum, nur ein schlimmer Traum. Alles ist gut.«
Dad blieb lange still. Ich hörte im Badezimmer Wasser laufen. Dann das Quietschen ihrer Bettfedern.
»Willst du mit mir darüber reden?«, fragte Mom ihn.
»Nein. Oh Gott, nein.«
»Es war nur ein schlechter Traum.«
»Ist mir egal. Es war realistisch genug.«
»Meinst du, du kannst wieder einschlafen?«
Er seufzte. Ich konnte ihn mir da drüben im finsteren Schlafzimmer vorstellen, die Hände vors Gesicht geschlagen. »Ich weiß nicht«, sagte er.
»Ich kann dir den Rücken reiben.«
Als sich ihr Gewicht verlagerte, quietschte das Bett erneut. »Du bist schrecklich verspannt«, sagte Mom. »Bis ganz in den Nacken hoch.«
»Das tut höllisch weh. Genau an der Stelle, wo dein Daumen ist.«
»Da ist ein Knoten. Du musst dir einen Muskel gezerrt haben.«
Stille. Mein Nacken und meine Schultern waren auch schon oft von den geschmeidigen Händen meiner Mutter getröstet worden. Ab und zu meldeten sich die Bettfedern zu Wort, verrieten eine Bewegung. Dann kam wieder die Stimme meines Vaters. »Ich hatte wieder einen Albtraum über den Mann im Auto.«
»Das hab ich mir gedacht.«
»Ich hab ihn da im Auto betrachtet, sein zu Brei geschlagenes Gesicht und den Draht um den erdrosselten Hals. Ich hab die Handschellen an seinem Handgelenk gesehen und die Tätowierung an seiner Schulter. Das Auto sank, und dann … dann hat er die Augen aufgemacht.«
Ich erschauderte; konnte es vor mir sehen. Die Stimme meines Vaters wurde fast zu einem Schluchzen.
»Er hat mich angestarrt. Mich direkt angesehen. Wasser ist ihm aus den Augenhöhlen geströmt. Er hat den Mund aufgemacht und seine Zunge war schwarz wie ein Schlangenkopf. Und dann hat er gesagt: Komm mit mir.«
»Denk nicht mehr dran«, unterbrach meine Mutter ihn. »Mach einfach die Augen zu und ruh dich aus.«
»Ich kann mich nicht ausruhen. Ich kann nicht.«
Ich stellte mir meinen Vater vor, der gekrümmt wie ein Fragezeichen auf dem Bett lag, während Mom ihm die eisenharten Rückenmuskeln massierte.
»Mein Albtraum«, sprach er weiter. »Der Mann im Auto hat die Hand ausgestreckt und mich am Handgelenk gepackt. Seine Nägel waren blau. Seine Finger drückten sich hart in meine Haut und er sagte: Komm mit mir, runter in die Dunkelheit. Und dann ist der See über meinem Kopf zusammengeschlagen und ich konnte nicht mehr weg und hab den Mund aufgemacht, um zu schreien, aber das Wasser hat mir die Kehle gefüllt. Oh Gott, Rebecca. Oh Gott.«
»Es war ja nicht wirklich. Hör mir zu! Es war nur ein schlimmer Traum, und jetzt ist alles gut.«
»Nein«, antwortete Dad. »Ist es nicht. Diese Sache frisst mich auf und es wird immer schlimmer. Ich dachte, ich könnte das vergessen. Ich meine, Herrgott, ich habe ja schon tote Menschen gesehen. Von nahem. Aber das hier … das ist anders. Dieser Draht um seinen Hals, die Handschellen, das Gesicht, das jemand komplett eingeschlagen hat … das ist anders. Und nicht zu wissen, wer er war, gar nichts über ihn zu wissen … das frisst mich auf, Tag und Nacht.«
»Es wird vorbeigehen«, sagte Mom. »Das sagst du doch immer zu mir, wenn ich mir unnötig Sorgen mache. Halte durch, sagst du zu mir. Es wird vorbeigehen.«
»Vielleicht wird es das. Bei Gott, ich hoffe, dass es das wird. Aber im Moment steckt es mir im Kopf und ich kann es bei bestem Willen nicht loswerden. Und das Schlimmste, Rebecca, das, was mich fertigmacht: Wer das auch verbrochen hat, er muss von hier sein. Muss es sein. Denn er wusste, wie tief der See ist. Er wusste, dass die Leiche verschwindet, wenn das Auto in den See stürzt. Rebecca … das kann jemand gewesen sein, den ich mit Milch beliefere. Es könnte jemand sein, der in der Kirche neben uns auf der Bank sitzt. Jemand, von dem wir Lebensmittel oder Kleidung kaufen. Einer, den wir schon unser ganzes Leben lang kennen … oder dachten, dass wir ihn kennen. Das jagt mir mehr Angst ein als alles andere, vor dem ich mich je gefürchtet habe. Weißt du, warum?« Er schwieg einen Moment, und ich konnte mir vorstellen, wie die Ader an seiner Schläfe im Pulsschlag zuckte. »Wenn das Leben hier nicht sicher ist, dann gibt es nirgendwo auf dieser Welt Sicherheit.« Bei dem letzten Wort brach seine Stimme ein bisschen. Ich war froh, dass ich nicht mit im Zimmer war und dass ich sein Gesicht nicht sehen konnte.
Zwei oder drei Minuten verstrichen. Ich glaube, mein Vater lag bloß da und ließ sich von Mom den Rücken reiben. »Meinst du, dass du jetzt schlafen kannst?«, fragte sie ihn schließlich, und er sagte: »Ich werd‘s versuchen.«
Die Bettfedern meldeten sich ein paarmal zu Wort. Ich hörte meine Mutter ihm etwas ins Ohr murmeln. »Ich hoffe es«, sagte er und dann waren sie still. Manchmal schnarchte mein Dad; in dieser Nacht aber nicht. Ich fragte mich, ob er wach lag, nachdem Mom eingeschlafen war, und ob er die Leiche im Auto nach ihm greifen sah, um ihn in die Tiefe zu ziehen. Seine Worte ließen mir keine Ruhe: Wenn das Leben hier nicht sicher ist, dann gibt es nirgendwo auf dieser Welt Sicherheit. Dieses Erlebnis hatte meinen Vater an einer Stelle verletzt, die tiefer lag als die Abgründe des Saxon’s Lake. Vielleicht, weil es so unerwartet passiert war. Oder, weil es dermaßen grausam war. Oder wegen der Kaltblütigkeit. Vielleicht lag es an der Erkenntnis, dass sich selbst in