BOY'S LIFE - Die Suche nach einem Mörder. Robert Mccammon

BOY'S LIFE - Die Suche nach einem Mörder - Robert Mccammon


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      Es war fast sechs Uhr. Im Osten, über den Hügeln mit ihren Kiefern und Kudzu, wurde der Himmel langsam heller. Der Wind schob sich durch die Bäume wie die Faust eines Riesen. Uns kam ein Auto in Richtung Norden entgegen und der Fahrer grüßte per Lichthupe. Dad winkte. »Marty Barklee fährt die Zeitung aus«, sagte er zu mir. Ich dachte über die Tatsache nach, dass eine ganze Welt vor dem Sonnenaufgang ihren Geschäften nachging, und dass Menschen, die jetzt erst aufwachten, nicht mit dazugehörten. Wir bogen von der Route Ten ab und fuhren einen Schotterweg hoch, um bei einem kleinen an den Wald geschmiegten Haus Milch, Buttermilch und Kartoffelsalat abzuliefern. Dann fuhren wir weiter in Richtung Süden auf den See zu. »College«, sagte mein Dad. »Ich denke, du solltest aufs College gehen.«

      »Wahrscheinlich«, gab ich zurück, aber es klang Lichtjahre von meinem jetzigen Leben entfernt. Alles, was ich über Colleges wusste, war etwas über College-Football, und dass manche Leute Bear Bryant gut fanden und andere Fans von Shug Jordan waren. Mir schien, dass man sich sein College danach aussuchte, welchen Trainer man besser fand.

      »Um ins College zu kommen, muss man gute Noten haben«, sagte Dad. »Du musst deine Hausaufgaben machen.«

      »Müssen Detektive aufs College gehen?«

      »Schätze ich mal, wenn sie ihren Job professionell angehen wollen. Wenn ich aufs College gegangen wäre, hätte ich vielleicht ein Mann werden können, der auf einem unbebauten Grundstück ein Haus baut. Man weiß nie, was die Zukunft für einen bereithält, das kannst du mir –«

      … glauben, hatte er sagen wollen, aber dazu kam er nicht, weil wir aus einer bewaldeten Kurve kamen und ein braunes Auto direkt vor uns zwischen den Bäumen herausgeschossen kam. Dad schrie auf, als hätte ihn eine Hornisse gestochen, und trat auf die Bremse.

      Als Dad das Lenkrad nach links riss, raste das braune Auto an uns vorbei. Ich sah es von der Route Ten abkommen und rechts von mir die Böschung runterfahren. Die Scheinwerfer waren nicht an, aber es saß jemand am Steuerrad. Die Autoreifen rissen Schneisen durchs Unterholz und dann krachte es über einen kleinen roten Felsvorsprung in die Dunkelheit. Wasser spritzte hoch und mir wurde klar, dass das Auto soeben in den Saxon’s Lake gestürzt waren.

      »Er ist ins Wasser gefallen!«, schrie ich, und Dad hielt den Milchtruck an, zog die Handbremse fest und sprang in das Unkraut am Straßenrand. Während ich noch ausstieg, rannte Dad schon zum Seeufer. Der Wind peitschte und wirbelte um uns herum und Dad kam auf dem roten Felsvorsprung zum Stehen. Im schwachen rosafarbenen Dämmerungslicht konnten wir das Auto im Wasser schlingern sehen. Um den Kofferraum herum stiegen riesige Luftblasen auf.

      »He!«, schrie Dad, der seine Hände wie einen Trichter um den Mund gelegt hatte. »Klettern Sie raus!« Jedermann wusste, dass Saxon’s Lake so tief wie die Sünde war, und wenn das Auto in die tintenschwarze Tiefe sank, würde es für immer und ewig verloren sein. »He, kommen Sie raus!«, brüllte Dad wieder, aber wer auch immer am Steuer saß, gab keine Antwort. »Ich glaube, der muss bewusstlos geworden sein!«, sagte Dad zu mir, während er sich die Schuhe auszog. Das Auto begann sich auf die Beifahrerseite zu drehen und ein schreckliches heulendes Geräusch drang zu uns hoch, das von dem ins Auto strömenden Wasser kommen musste. »Geh einen Schritt zurück«, sagte Dad. Das tat ich, und er sprang in den See.

      Er war ein guter Schwimmer. Mit ein paar kräftigen Zügen hatte er das Auto erreicht und sah, dass das Fahrerfenster offen war. Er spürte das Wasser an seinen Beinen saugen, während es das Fahrzeug in die unergründliche Tiefe zog. »Kommen Sie raus!«, brüllte er, aber der Fahrer saß einfach nur da. Dad klammerte sich an die Tür, griff ins Auto und packte den Fahrer an der Schulter. Es war ein Mann und er trug kein Hemd. Die Haut war weiß und kalt, und mein Dad spürte, wie ihm selbst eine Gänsehaut über den Rücken lief. Der Kopf des Mannes rollte nach hinten. Sein Mund stand offen. Er hatte kurzgeschnittenes blondes Haar. Seine Augen waren von schwarzen Prellungen zugeschwollen, sein Gesicht von gnadenlosen Schlägen verquollen und verunstaltet. Ein Kupferdraht war um seine Kehle geknotet, das dünne Metall so strammgezogen, dass Haut und Fleisch aufgeschlitzt waren.

      »Oh Gott«, flüsterte mein Vater und trat Wasser.

      Das Auto schlingerte und zischte. Der Kopf fiel wieder nach vorn auf die Brust wie bei jemandem, der betete. Das Wasser stieg dem Fahrer über die unbekleideten Knie. Mein Dad registrierte, dass der Fahrer splitternackt war, ohne jegliche Kleidung. Am Lenkrad glänzte etwas: Er sah, dass das rechte Handgelenk des Mannes an das Steuerrad gefesselt war.

      Mein Vater war vierunddreißig Jahre alt. Er hatte schon tote Menschen gesehen. Hodge Klemson, einer seiner besten Freunde, war im Tecumseh River ertrunken, als sie beide fünfzehn Jahre alt gewesen waren. Die Leiche war drei Tage später gefunden worden, aufgedunsen und wie eine verkrustete uralte Mumie mit gelbem Flussschlamm bedeckt. Er hatte die Überreste von Walter und Jeanine Traynor gesehen, als Walters Buick vor sechs Jahren frontal mit einem Holztransporter zusammengestoßen war, dessen junger Fahrer von Aufputschmitteln high gewesen war. Er hatte den dunklen glänzenden Klumpen gesehen, der von Little Stevie Cauley übriggeblieben war, nachdem die Feuerwehrmänner den zerstörten schwarzen Dragster namens Midnight Mona gelöscht hatten.

      Er hatte die grinsende Totenmaske mehrmals gesehen und den Anblick wie ein Mann ertragen, aber das hier war anders.

      Diese Maske war die eines Mordes.

      Das Auto ging unter. Als der Kühler versank, brachen die Heckflügel aus dem Wasser. Die Leiche hinter dem Lenkrad bewegte sich wieder und mein Vater sah etwas auf der Schulter des Mannes. Einen blauen Fleck auf der weißen Haut. Keine Prellung, nein. Eine Tätowierung. Es war ein Totenkopf, von dessen knochigen Schläfen Flügel nach hinten zeigten.

      Ein großer Strom Luftblasen brach aus dem Fahrzeug hervor, als mehr Wasser eindrang. Der See ließ sich nicht zurückweisen; er würde sich sein Spielzeug nehmen und es in eine geheime Schublade stecken. Als das Auto in der Finsternis zu versinken begann, packte das strudelnde Wasser meinen Vater an den Beinen und zog ihn unter die Oberfläche. Von meinem Standort auf der roten Felsenkante sah ich seinen Kopf verschwinden. »Dad!«, schrie ich. Panik krallte sich in meinen Bauch.

      Unter Wasser kämpfte er gegen die Muskeln des Sees an. Das Auto fiel unter ihm in die Tiefe und als seine Beine in der flüssigen Gruft nach einem Halt kickten, trieben neue Luftblasen nach oben und setzten ihn frei. Er stieg die silberne Treppe aus Luftblasen hoch.

      Ich sah seinen Kopf aus dem Wasser brechen. »Dad!«, schrie ich wieder. »Komm zurück, Dad!«

      »Alles in Ordnung mit mir!«, rief er zurück, aber seine Stimme zitterte. »Ich komme raus!«

      Er begann wie ein Hund ans Ufer zu paddeln, sein Körper plötzlich schwach wie ein ausgewrungener Lappen. Der See brach immer wieder vulkanartig aus, als das Auto sich wie etwas Verdorbenes, das verdaut werden musste, durch seine Eingeweide arbeitete. Dad konnte den roten Felsvorsprung nicht hochklettern und schwamm deshalb an eine Stelle, an der er über Kudzuranken und Steine an Land kam. »Alles in Ordnung mit mir«, sagte er wieder, als er aus dem Wasser stieg und seine Beine bis zu den Knien in Schlamm einsanken. Eine Schildkröte, groß wie ein Suppenteller, kroch vor ihm davon und versank mit einem verdutzten Schnaufen im See. Ich warf einen Blick auf den Milchtruck zurück; warum, weiß ich nicht, aber ich blickte nach hinten. Und auf der anderen Straßenseite sah ich im Wald eine Gestalt stehen.

      Einfach nur in einen langen dunklen Mantel gekleidet dort stehen. Die Falten des Stoffs bewegten sich im Wind. Vielleicht hatte ich die Augen dieser Gestalt auf mir gespürt, die mich beobachtet hatten, während ich meinen Vater beobachtete, als er zu dem Auto schwamm. Ich zitterte etwas; mir war eiskalt. Und dann blinzelte ich ein paarmal, und dort, wo die Gestalt gestanden hatte, war nur noch windgepeitschter Wald.

      »Cory?«, rief mein Dad. »Zieh mich raus, Sohn!«

      Ich ging runter ans schlammige Ufer und half ihm, so gut ein unterkühltes, verängstigtes Kind es konnte. Dann fanden seine Füße feste Erde und er strich sich die nassen Haare von der Stirn. »Wir müssen ein Telefon finden«, sagte er drängend. »Da war ein Mann in dem Auto. Ist runter auf den Grund gesunken!«

      »Ich hab gesehen, wie … ich hab …« Ich zeigte


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