Dr. Norden Staffel 4 – Arztroman. Patricia Vandenberg
fühlen.
»Gott sei Dank!«, raunte er ihr heiser ins Ohr. »Ich hatte solche Angst um dich. Geht’s dir gut?«
»Aber Basti, was machst du hier?«, wiederholte Ricarda ihre Frage. »Du weißt doch, dass ich erst ins Hotel gehen wollte.«
»Nicht böse sein. Aber ich konnte nicht anders.« Noch immer hielt er sie so fest, als wollte er sie nie mehr loslassen. »Als der Sturm losgebrochen ist, habe ich am Flughafen angerufen, um zu erfahren, ob alles in Ordnung ist. Sie haben mir gesagt, dass ihr in Turbulenzen geraten seid. Da konnte ich nicht anders und musste einfach herkommen.« Endlich löste er sich von ihr und schob sie ein Stück von sich, um sie zu betrachten. Sein Blick fühlte sich an wie ein Streicheln auf der Haut, und ein Schauer rann über Ricardas Rücken. »Ricky, ich habe die Rettungswagen hier am Flughafen gesehen. Und dann konnte ich dich nirgends entdecken. Es war schrecklich. Wenn dir was passiert wäre … Das hätte ich mir nie verzeihen können. Schließlich bist du ja nur wegen mir hierher geflogen.« Erst jetzt erkannte Ricarda die Spuren der ausgestandenen Angst auf seinem Gesicht, und vor Rührung zog sich ihr Herz schmerzhaft zusammen.
»Jetzt musst du keine Angst mehr haben, Basti. Mir geht’s gut. Aber es war wirklich schlimm und es hat eine Weile gedauert, bis ich mich wieder beruhigt habe. Zum Glück ist neben mir ein ganz netter Arzt gesessen. Er heißt Daniel Norden und hat einen Dachschaden …« Lachend hielt Ricarda inne. »Ich meine natürlich, dass der Sturm einen Schaden an seinem Praxis-Dach verursacht hat. Deshalb hab ich ihm deine Karte gegeben. Er wird sich mit dir in Verbindung setzen. Du musst ihm unbedingt helfen. Wenn er nicht gewesen wäre, wäre ich vor Angst gestorben. Er hat mir quasi das Leben gerettet«, purzelten die Worte nur so aus ihrem Mund.
Kopfschüttelnd lauschte Sebastian ihrer wortreichen Erklärung.
»Immer noch dieselbe Plaudertasche wie früher«, bemerkte er amüsiert, und Ricarda erschrak.
»Herrje, darüber hast du dich ja damals schon lustig gemacht«, erinnerte sie sich schlagartig an die Vergangenheit.
Doch Sebastian beruhigte sie sofort wieder.
»Keine Sorge. Damals war ich ein dummer Junge und wusste nicht, wie schön es ist, wenn ein Mensch so lebendig und fröhlich ist wie du. Wenn jemand etwas zu sagen hat. Und wenn es dann noch auf so charmante Art und Weise passiert, ist das umwerfend.« Er machte eine Pause und betrachtete sie zärtlich. »Außerdem gibt es da ein probates Mittel, dich zum Schweigen zu bringen«, erklärte er und schloss sie wieder in seine Arme. Ohne sie aus den Augen zu lassen, zog er sie zu sich. Ricarda bekam Herzklopfen, und als sich ihre Lippen berührten, war sie wieder einer Ohnmacht nahe. Diese Küsse waren es gewesen, nach denen sie so lange gesucht hatte. Nach Sebastian hatte sie kein Mann mehr so berührt …
»Oh, Basti, ich kann es gar nicht glauben«, stammelte sie, als sie sich nach einer gefühlten Ewigkeit voneinander lösten. Es kam selten vor, dass ihr die Worte fehlten. Doch Sebastian hatte es ihm Handumdrehen geschafft, ihr den Verstand zu rauben. »Das ist …, das ist …«
»Was denn?«, gab er heiser zurück und strich ihr eine wirre, krause Strähne aus dem Gesicht. »Was kannst du nicht glauben?«
»Dass ich nicht weiß, was ich sagen soll«, erwiderte sie treuherzig. »Du verstehst es wirklich, mich zum Schweigen zu bringen.«
Einen Moment lang starrte Sebastian sie ungläubig an. Er hatte mit einer tiefschürfenden Liebeserklärung gerechnet. Aber das war es wohl auch in Ricardas Augen, und er warf den Kopf in den Nacken und brach in schallendes Gelächter aus.
»Und du bringst mich zum Lachen!«, erklärte er, als er wieder Luft bekam. »Weißt du eigentlich, dass du erfrischend anders bist als alle anderen Frauen, die ich nach dir getroffen habe? Kein Wunder, dass mir keine gut genug war.« Er legte den Arm um Ricardas Schultern, griff nach dem Koffer und zog sie mit sich zu seinem Wagen. Wegen der umgestürzten Bäume und des Chaos‘ auf den Straßen würde es dauern, bis sie zu Hause waren. Doch das war Sebastian gerade recht.
*
»Starker Blutverlust! Schnell, wir brauchen sofort einen Arzt«, rief Noah Adam, als er, einen Rollstuhl vor sich herschiebend, in die Notaufnahme der Behnisch-Klinik raste. Er wurde von einer Menschenmenge aufgehalten, die sich in den Fluren vor der Notaufnahme angesammelt hatte.
Eine ältere Schwester drehte sich zu ihm um und musterte ihn ungerührt.
»Hinten anstellen. Du bist du nicht der Einzige hier!«, erwiderte sie lakonisch. Sie stand neben einer Liege und überwachte die Vitalfunktionen eines Mannes.
Sein Brustkorb war mit einem blutgetränkten Verband umwickelt und sein Gesicht blass.
Doch Noah hatte keine Zeit für Mitgefühl, und hektisch sah sich der Rettungsassistent in Ausbildung um. Sein Blick fiel auf Dr. Matthias Weigand, der mitten auf dem Flur stand.
»Schwester, machen Sie OP 3 bereit und bringen Sie den Patienten schon mal dorthin!« Wie ein Verkehrspolizist bemühte sich der Internist, den Überblick zu behalten und Ordnung zu schaffen. »So, lassen Sie mich überlegen. Der Junge hier gehört in den Schockraum. Wenn ich die Frau untergebracht habe, komme ich gleich nach.« Dr. Weigands Stimme war ruhig und besonnen. Die Schwestern und Kollegen, die ihm zugehört hatten, nickten zustimmend und machten sich zügig auf den Weg.
Schon wollte sich Noah einen Weg zu dem Internisten bahnen, als eine aufgeregte Stimme von hinten ertönte.
»Aus dem Weg! Schweres Schädel-Hirn-Trauma durch herabstürzenden Ast. Patient, weiblich, 18 Jahre alt, nicht bei Bewusstsein. Kreislauf instabil. Die Kleine wird beatmet«, erklärte Noahs Kollege, der mit einem weiteren Notarztwagen gekommen war, atemlos. Als er das Durcheinander auf den Gängen sah, blieb er ebenso abrupt wie ratlos neben Noah stehen. »Ach, du liebe Zeit. Ich dachte ja, dass es schlimm wird. Aber so schlimm …«
Weiter kam er nicht, denn es wurden bereits die nächsten Patienten eingeliefert. Wohin Noah auch blickte, fielen seine Augen auf Leid und Not. In diesem Moment zweifelte der junge Mann zum ersten Mal daran, ob er wirklich den richtigen Beruf gewählt hatte.
»Dachte ich es mir doch, dass ich dich hier treffe!« In seine Gedanken hinein hörte er eine wohlbekannte und tröstliche Stimme.
Erleichtert drehte sich Noah um und begrüßte den Vater seiner Freundin, Dr. Daniel Norden.
»Ein Glück, dass Sie hier sind. Können Sie mir helfen?« Er deutete auf die Frau mittleren Alters, die mit abwesendem Blick im Rollstuhl saß. »Ich hab ihr was gegen die Schmerzen gegeben«, erklärte Noah auf den fragenden Blick des Arztes hin. »Deshalb ist sie ein bisschen weggetreten.«
»Besser so«, lobte Daniel und ging um den Rollstuhl herum. Frau Mennickes rechter Unterschenkel sah so aus, als wäre er von einer Maschinengewehrsalve getroffen worden. Das, was von der Hose übrig war, hing in Fetzen herunter.
»Stellen Sie sich vor, sie hat sich mehr drüber aufgeregt, dass ihre Hose kaputt ist, als über ihre Wunden.«
»Das macht der Schock«, konnte Dr. Norden den jungen Rettungsassistenten trösten. Er kniete vor dem Rollstuhl und hatte eine erste Bestandsaufnahme beendet. Nachdenklich sah er sich um. »Dann lass uns mal eine ruhige Ecke mit einer Liege suchen. Wenn wir die gefunden haben, kümmere ich mich um die Wundversorgung und du kannst gehen und mir schon mal eine neue Aufgabe suchen«, scherzte er und zwinkerte Noah aufmunternd zu.
Ihm war der desolate Zustand des jungen Mannes nicht entgangen, und er verstand ihn nur zu gut. Diese Phase machte jeder Mensch, der sich für einen solchen Beruf entschieden hatte, wenigstens einmal durch. Entweder er blieb danach dabei. Oder aber er suchte sich danach ein neues Betätigungsfeld.
»Dann gehen wir mal auf Liegenjagd!«, erwiderte Noah, der sich durch Daniels Anwesenheit seltsam getröstet fühlte.
In diesem Moment wusste der erfahrene Arzt, dass der junge Mann Durchhaltewillen hatte, und sah ihm zufrieden nach, wie er sich einen Weg durch das Chaos bahnte.
Trotz der widrigen Umstände fand sich gleich darauf eine ruhige Ecke. Noah blieb noch bei der Patientin, bis Dr. Norden die nötigen