Dr. Norden Staffel 4 – Arztroman. Patricia Vandenberg
Frau ist unverbesserlich!«, stöhnte er auf und trat zurück auf den Flur. Ratlos blickte er von rechts nach links und zurück. »Wo soll ich sie denn jetzt suchen?« Es hatte keinen Sinn, durch die Klinikflure zu hetzen. Deshalb tat Dr. Norden das einzig mögliche: Er zog das Mobiltelefon aus der Tasche und wählte die Nummer von zu Hause.
»Anneka, bist du das?«, fragte er vorsichtig, als sich eine weibliche Stimme meldete.
Mit jedem Tag, den seine Töchter älter und erwachsener wurden, fiel es ihm schwerer, ihre Stimmen zu unterscheiden. Nicht mehr lange und sie würden klingen wie Fee.
»Mensch, Dad, wann lernst du eigentlich, uns auseinander zu halten?«, stöhnte Dési demonstrativ auf.
»Sagen wir mal so: Ich verlerne es jeden Tag ein bisschen mehr«, lächelte Daniel.
»Du bist lustig!« Dési lachte. »Ein Glück, dass es dir gut geht. Wir haben uns ganz schön Sorgen gemacht um dich. Aber Mum hat schon erzählt, dass alles okay ist.«
»Schön! Wenn du mir jetzt auch noch sagen kannst, wo Mum steckt, ist auch meine Welt wieder in Ordnung.«
»Danny hat sie vorhin nach Hause gebracht«, klärte das Zwillingsmädchen den Vater bereitwillig auf.
In diesem Augenblick fiel ein Stein von Daniels Herzen.
»Ein Glück!«, seufzte er erleichtert auf. »Sie hatte mir versprochen, auf mich zu warten. Aber die Operation hat ziemlich lange gedauert. Wie geht es ihr denn? Hat sie sich von einem Kollegen untersuchen lassen? Wie lange ist sie überhaupt schon daheim?«
»Mensch, Papi!«, verfiel Dési unvermittelt in die kindliche Anrede, die sie nur noch selten benutzte und nur dann, wenn sie ihren Vater tadelte. »Du kannst ja ganz schön viele Fragen auf einmal stellen. Warum kommst du nicht einfach heim zu uns?«, stellte sie eine berechtigte Frage. »Lenni kocht gerade einen Festtagsschmaus, wie sie es nennt. Und Danny ist auf dem Weg, um Tatjana abzuholen. Sie wollen den Abend mit uns verbringen und feiern, dass alle wieder gesund und munter zu Hause sind.«
Im ersten Augenblick wollte Daniel seine jüngste Tochter an den besorgniserregenden Zustand ihrer Mutter erinnern. Doch dann verzichtete er darauf und versprach, sich gleich auf den Nachhauseweg zu machen. Vielleicht ging es Fee inzwischen tatsächlich besser. Das war seine große Hoffnung, als er wenig später in ein Taxi stieg und sich durch die vom Sturm verwüstete Stadt nach Hause fahren ließ.
*
»Weißt du eigentlich, dass du mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt hast?« Wenig später stand Daniel Norden in inniger Umarmung mit seiner Frau im Flur und genoss die Wärme ihrer Liebe, die ihn einhüllte wie ein weiches Tuch.
»Tut mir leid, das wollte ich nicht«, raunte Fee ihm zärtlich ins Ohr.
Jetzt, da sie endlich wieder vereint zu Hause waren, sollte er sich keine Sorgen mehr machen. Das hatte sie sich vorgenommen und ein paar Medikamente gegen Grippe eingenommen. Tatsächlich schlugen sie an, und sie fühlte sich wesentlich besser als noch vor ein paar Stunden. »Aber so allein in diesem Krankenzimmer … Das hab ich dann doch nicht ausgehalten. Schon gar nicht, wenn ich nur ein bisschen Grippe habe.«
Daniel runzelte die Stirn und schob Felicitas ein Stück von sich. Sein kritischer Blick ruhte auf dem Gesicht seiner Frau.
»Dann hast du dich nicht untersuchen lassen?«
Ehe Fee auf diese Frage eine Antwort geben konnte, hallte Lennis aufgekratzte Stimme durch das Haus. Sie war überglücklich, ihre Familie wieder um sich vereint zu haben, und hatte groß aufgekocht.
»Essen ist fertig. Schnell, sonst fällt das Soufflé in sich zusammen«, trieb sie sämtliche Familienmitglieder zur Eile an und klatschte in die Hände.
Um Daniel nicht anzustecken, drückte Fee ihm einen Kuss auf die Wange und gesellte sich dann gemeinsam mit ihm zu ihrer hungrigen Kinderschar.
Wie von Dési schon angekündigt, hatten auch Danny und seine sehbehinderte Freundin wieder einmal den Weg ins Haus Norden gefunden. Selbst ohne Familie in Deutschland, hatte Tatjana die Nordens kurzerhand adoptiert und liebte die geselligen Runden am Esstisch über alles. Nicht selten steuerte sie eine ihrer köstlichen Kreationen als Nachtisch bei. Seit sie nach ihrem Studium eine Ausbildung als Bäckerin und Konditorin begonnen hatte, waren ihrer Kreativität keine Grenzen mehr gesetzt und sie sprudelte fast über vor ständig neuen Ideen, die sogar in einem Backbuch festgehalten werden sollten.
Gut gelaunt saß Tatjana gemeinsam mit den Geschwistern Norden und Fee und Daniel am Tisch.
»Ein Soufflé ist eine herrliche Idee!«, lobte sie Lennis Kochkünste begeistert. Dank einer Operation hatte sie einen Teil ihrer Sehkraft wieder erhalten und hypnotisierte das perfekt aufgegangene Backwerk förmlich. »Und wie das duftet! Lass mich raten.« Sie atmete tief ein und gleich darauf wieder aus. »Ich rieche Garnelen! Käse. Champignons. Und einen Hauch Zwiebeln«, zählte sie eine nach der anderen die Zutaten auf.
Gespannt starrten die Anwesenden auf Lenni. Hatte Tatjana mit ihren feinen Sinnen wieder einmal recht?
»Stimmt genau!« Die Haushälterin war sichtlich überrascht. »Woher weißt du das eigentlich immer so genau?«, fragte sie, während sie das Soufflé auf die Teller verteilte.
Versonnen lehnte sich Tatjana zurück und ließ ihre Gedanken in die Vergangenheit und zurück in die Zeit schweifen, als sie mit ihrem Vater in Marokko gelebt hatte.
»Im Deutschen gibt es das Nomen ›Souvenir‹ für Mitbringsel. In Frankreich ist dieses Wort ein Verb und bedeutet ›sich erinnern‹. Wann immer mir der Duft von besonderen Inhaltsstoffen in die Nase steigt, erinnere ich mich an die Zeit in Marokko.« Tatjanas große, dunkelblaue Augen begannen zu leuchten wie zwei Sterne. »Obwohl ich damals nichts sehen konnte, weiß ich genau, wie der Markt aussah. Noch heute kann ich sagen, wo der Stand mit den Gewürzen war, der Fischhändler, wo es Gemüse und Ziegenkäse zu kaufen gab. Kurz zuvor bin ich ja blind geworden, und in der Zeit in Marokko, auf meinen vielen Besuchen auf dem Markt, haben sich meine anderen Sinne immer mehr geschärft. Vielleicht liegt es an diesen außergewöhnlich starken Eindrücken, dass ich das mit fast jedem Gericht heute noch kann.«
Es kam selten vor, dass die selbstbewusste, schlagfertige Tatjana ihre tiefgründigen Gedanken preisgab. Wie gebannt saßen ihre Freunde mit ihr am Tisch.
»Das ist eine sehr beeindruckende Erklärung«, staunte Felicitas, die über Tatjanas innigen Worten ihre Krankheit wenigstens für einen Augenblick vergessen hatte.
»Womit die Behauptung ›Stille Wasser sind tief‹ eindeutig widerlegt ist«, kam Felix mal wieder nicht um eine freche Bemerkung herum und zwinkerte Tatjana zu.
Statt ihm böse zu sein, lachte sie belustigt auf. Mit dieser Behauptung hatte er zweifelsfrei recht. Die aufgekratzte Bäckerin war alles andere als still und wusste das selbst am besten.
»Wenn ihr nicht gleich esst, gibt es statt einem luftigen nur noch ein zähes Soufflé«, machte Lenni ihre Familie ungeduldig aufmerksam. »Und diese Behauptung lässt sich nicht widerlegen. Guten Appetit!«
Das ließen sich besonders die Männer nicht zwei Mal sagen und griffen mit gutem Appetit zu. Der aufregende Tag hatte viele Nerven gekostet, und zuerst herrschte geschäftiges Schweigen am Tisch. Eine Weile war nur das Klappern von Besteck und Geschirr, unterbrochen von zufriedenen Seufzern, zu hören. Als der erste Hunger gestillt war, entspann sich ein Gespräch zwischen Sohn und Vater.
»Weißt du übrigens schon, dass das Dach der Praxis ziemlich lädiert ist?«, erkundigte sich Danny und schob eine Gabel Salat in den Mund.
»Stimmt, ich wollte ja den Dachdecker anrufen.«
»Da bist du mit Sicherheit momentan nicht der Einzige«, wandte Felix zu Recht ein.
Doch Daniel Norden hatte noch einen Trumpf im Ärmel, den er jetzt ausspielte.
»Zufällig habe ich heute im Flugzeug neben einer Frau gesessen, deren Freund Dachdecker ist.« Triumphierend zog er die Visitenkarte aus der Hosenasche und