FLEXEN. Mirjam Aggeler

FLEXEN - Mirjam Aggeler


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des Landes und alle schauen sie auf die vor ihnen aufgebauten Mikrophone und in die Gesichter der Presseleute, die sich hinter den Kameras befinden. Ab und zu kommt das Klicken von Fotoapparaten durch. Eine Laufschrift drängt sich durchs Bild, die die Vorfälle der letzten vierundzwanzig Stunden zusammenfasst. Die Vorfälle, die ich nicht mitbekommen habe, weil ich mein Telefon ausgestellt hatte, absichtlich. Die Vorfälle, bei denen eine Person im Streit von zwei anderen erstochen worden ist, auf einem Stadtfest. Die Vorfälle, bei denen dieser Mord zum Anlass rechter Gruppierungen genommen wurde, um durch die Stadt zu ziehen, wutentbrannt. Die Vorfälle, bei denen diese Gruppierungen Migranten gejagt haben, bei denen das Wort Migranten wieder vorgeholt wurde, wie es immer wieder vorgeholt wird aus der Schatulle der falschen Kategorisierungen, die als Grund nicht genommen werden, sondern nur immer wieder die leeren Bushaltestellen, die in Bildern vorbei fliegen, die Fassaden der grauen Wohnblöcke hinter dem Schädel von Karl Marx. Immer öfter entlädt es sich und zieht als Laufschrift durch die Werbetafeln an den Bahnhöfen, hinter den Polizisten entlang, hinter den Personenkontrollen entlang; als Nachricht, die mich erreicht, wie ich vor dem Fernseher sitze und in mein Dürüm beiße. Eine Mutter kommt in den Laden mit drei kleinen Kindern, sie setzt jedes einzelne auf einen Stuhl an einem Tisch in der Nähe der Theke, sie bestellt bei dem Verkäufer, der immer wieder lächelnd die Kinder beobachtet, sie reichen Motivkarten unter sich herum, fahren sich durchs Haar, schieben ihre kleinen Brillen die Nasen hoch. Während sich das Brot im Toaster erwärmt, verschwindet der Verkäufer im Hinterzimmer. Er kommt zurück mit einem kleinen Stoffhasen in der Hand, er hält ihn über die Theke und sagt: »Ich habe ein Geschenk für euch.« An den Wänden, bezogen mit Tapeten, auf die Backsteine gedruckt sind, ranken sich die Pflanzen vom Fensterbrett bis über den Bogen, der zu den Toiletten führt. Ich wasche mir die Hände, eine Lampe hängt über dem Spiegel, und als ich aufsehe, wirft mein Gesicht Schatten. Die Leute im Fernseher fächern ihre Notizzettel auf dem Stehtisch mit den Mikrophonen auf. Es kommt einer rein, dem draußen sein Getränk umgefallen ist: »Hast du ein paar Servietten für mich?« Der Verkäufer gibt ihm einen schmalen Stapel in die Hand. »Reicht das, Bruder?«

      Ich steige in einem anderen Bahnhof in meinen Zug nach Hause, weil er mir sicherer erscheint, jetzt, wo ich es weiß. In meinem Telefon schreiben Leute: passt auf euch auf, passt aufeinander auf, vor allem in den Zügen. Ich laufe auf die Bahnhofshalle zu, am Seiteneingang steht ein Mann und raucht. Er hat zurückgegeltes Haar, im Nacken ausrasiert, er trägt ein naturfarbenes Leinensakko und spitze Schuhe und im ersten Moment wirkt es, als wäre er ein Neureicher, der sich in die Gegend verirrt hat, der vielleicht eine Immobilie hier gekauft hat, der vielleicht auf der Suche ist nach etwas Szenigem, dem Besonderen. Ich denke es auf Grundlage seiner breiten Gürtelschnalle und dem dicken Ring an seinem Finger. Er schaut mich etwas belustigt an, wie ich zugehe auf den Eingang. Ich denke, ein Schnösel, ich denke, ein Macho, ich denke, einer, der sich vielleicht seiner selbst versichern muss, und ein abschätziger Blick ist eine gute, schnelle Gelegenheit. Er verlagert sein Gewicht dandyhaft auf ein Bein und zieht an seiner Zigarette, in Zeigefinger und Daumen gehalten. Ich erwidere seinen Blick, der auf meinem Gesicht klebt, der mir dabei folgt, wie ich die Stufen nehme, näher komme, das Abzeichen an seinem Revers erkenne. Sein Blick, der sich verzieht in ein genugtuendes Lächeln, wie er meine sich weitenden Augen beobachtet, mein Erkennen des gelben Lambdas auf schwarzem Grund, mein kurzer Schreckmoment, als ich es erkenne, das Zeichen der Identitären; und dann schaue ich weg. Frage mich, ob auch er etwas an mir erkannt hat. Frage mich, ob ein Wegdrehen des Kopfes gereicht hat. Ob mein Profil sich verändert hat in seinem Blick. Ob er nur etwas gesehen hat, das sich austreiben lässt, oder das, was mir in den Genen sitzt. Ob mir jemand hinterherlaufen würde, so schnell, dass ich rennen müsste, so schnell, dass ich mich retten müsste in einen anfahrenden Zug, so schnell, dass ich mich ducken, mich am Beinzipfel einer der Polizisten festhalten müsste und der würde entscheiden: was sitzt ihr im Gesicht –

      Wahrscheinlich nicht.

      Wahrscheinlich bin ich in Sicherheit.

       Anke Stelling

       Brausen Schrägstrich Abspülen

      Flanieren heißt, sich um nichts zu kümmern. Wer sich erlauben kann zu flanieren, kann sich erlauben, sorglos zu sein.

      Zu Hause ist nichts los. Zu Hause ist egal.

      Vielleicht fliehst du es, ja? Dein Zuhause. Dann kannst du dir das wohl erlauben. Dann kommt es problemlos ohne dich aus.

      Es steht fest. Steht stets zur Verfügung. Wartet ungerührt auf deine Rückkehr, weint nicht nach dir.

      Ist da überhaupt wer? Wenn ja, dann niemand, der dich interessiert. Der es wert wäre, näher betrachtet zu werden.

      (Sag noch mal schnell, wer genau ist da? Familie? Kinder? Eine treu für dich sorgende Schrägstrich nörgelnde Mutter, eine Haushälterin oder einfach nur der Muff eingestaubter Bücher, ungelüfteter Decken und des Geschirrtuchs, das du seit Wochen schon benutzt?)

      Es ist nicht das, was dich ausmacht. Du bist Flaneur.

      Draußen, das ist dein Zuhause. Die Öffentlichkeit. Derer wirst du habhaft, da pulsiert das Leben, leuchtet die Reklame, braust der Verkehr.

      Du mittendrin, mit Schirm, Charme und Melone, Gamaschen, Notizbuch – nein, halt, das war früher. Litfaßsäulen werden jetzt abmontiert.

      Du aber dennoch mittendrin, mit dem Rucksack auf dem Rücken, der Laptoptasche unterm Arm. Gutes Schuhwerk, nachlässig Schrägstrich elegant. Schwarzer Mantel geht immer – und reicht auch als Zitat.

      So gehst du durch die Großstadt, zu Fuß und offen für Eindrücke. Derer gibt es viele: Die Plakatwände sind heute elektrisch, wechseln im Sekundentakt, sind mancherorts gleich vollständig durch Monitore ersetzt.

      Darüber machst du dich lustig. Notierst, was du siehst, beschreibst den Umbau der Umgebung, die Passanten, die dir kopflos erscheinen – du ersetzt ihnen den Kopf, erledigst für sie das Denken, du stellst haufenweise Fragen, stellst scharfsinnige Beobachtungen an.

      Du siehst, was andere nicht sehen. Du hast Zeit und die nötige Hingabe. Du hast einen Sinn für Details, weißt Zusammenhänge zu erspüren, bist gebildet und zugleich ein Freund einfacher Leute. Ha! Wer sind die denn? Du jedenfalls nicht.

      Du stehst drüber, hältst dich wacker. Hältst dich raus, bist außen vor.

      Du schaust von draußen, bist nicht wirklich beteiligt, hast es nicht nötig, dich gemein zu machen mit dem Rest der Welt.

      Irgendwie kann ich dich nicht leiden. Hast du schon gemerkt, nicht wahr?

      In meinen Augen bist du ein verwöhntes, sichersattes Söhnchen, das publikumswirksam Bohèmeleben spielt. Nur so tut, als sei es ungebunden; in Wahrheit hast du deine Leserschaft im Rücken, ihr gibst du den Künstler, kriegst es im Feuilleton gedankt.

      Da sitzen sie, Typen wie du (nur fett in Redaktionen statt fesch verloren auf der Straße) – solchen befriedigst du stellvertretend das Bedürfnis nach Freiheit und Freizeit, servierst ihnen kluge Gedanken, sodass sie glauben können, sie hätten sie selbst gedacht.

      Mir ist sie peinlich, deine Pose. Im wahrsten Sinn des Wortes: Sie schmerzt.

      Seit hundert Jahren bist du schon derselbe, du bist so albern und dennoch nicht wegzudenken, du bist stark, du bist Teil der literarischen Tradition.

      Also versuche ich, es dir gleichzutun.

      (Ich, die Mutti, die Hausfrau, die Alte mit dem Wasser in den Beinen, mit den dicken Füßen, die nur noch in ausgetretene Latschen passen – so kann ich nicht nach draußen gehen. Nur beständig hin und her, zwischen Herd und Spülstein und Wäscheboden – nein falsch, eine Waschmaschine mit integriertem Trockner steht mir heutzutage sehr wohl zur Verfügung, doch das Zusammenlegen muss immer noch sein. Wer legt sie dir zusammen, deine Wäsche? Ja, gut, ich weiß schon, du wechselst einfach nicht.)

      Ich also die andere, die all das ist, was du nicht bist. Mach mich auf den Weg, auf deine Spur, hinein ins bunte Treiben!

      Zu Hause heißt das derweil: sich


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