FLEXEN. Mirjam Aggeler
Ein paar Monate später outete sie sich als bipolar, woraufhin sie Aktivistin für die Aufklärung über psychische Krankheiten wurde. Fernsehteams kamen zu ihr nach Hause, baten sie, beim Geschirrspülen möglichst verrückt auszusehen. Sie protestierte öffentlich.
Die Exfreundin meines Vaters löschte mich auf Facebook. Ihre Familie wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben, ich chattete oft mit ihr. Wenn ich nicht schnell genug antwortete oder erklärte, dass es Nacht war in Indonesien, löschte sie mich. Kurze Zeit später schickte sie mir wieder eine Freundschaftsanfrage.
Ich traf mich mit Umer, einem Mitstipendiaten, der eine Firma gestartet hatte. Er importierte Skalpelle aus Pakistan nach Indonesien. Erzählte mir, dass er insgeheim Israel gut fand – aber wir stritten uns darüber, ob Armenien oder Aserbaidschan im Unrecht war. Verkrochen uns hinter Marmorsäulen in einer architektonisch lächerlichen Mall und tranken Kaffee. Auf einmal sprang jemand von hinten auf mich: Anzhelika – was ein Zeichen Gottes sein musste, da wir uns von diversen Anarchistencamps in Europa kannten. Ich dachte, sie sei in Sri Lanka, sie wusste nicht, dass ich in Indonesien war, und auf einmal waren wir zur gleichen Zeit in der gleichen Mall in Jakarta. Dann verließ ich Jakarta. Es war Januar, es wurde Februar.
Jakarta III
Jakarta ist Jayakarta, Stadt des Sieges. Ich dachte immer, ich würde jemanden treffen, der jung war, solange ich ebenfalls jung war. Wir würden langsam älter werden, und wenn ich in der Zukunft das alte Gesicht sehen würde, dann würde das junge noch zu erkennen sein.
Du hattest versucht, meinen Namen zu beschmutzen, Soldaten mit Halbwahrheiten rekrutiert, sie gegen mich in Stellung gebracht. Ich verkroch mich im klimatisierten Hostel, aß eine Mahlzeit am Tag. Ich fastete. So wollte ich meine Erinnerungen verhungern lassen. Ich wusch mich nicht, denn wenn man trauert, soll man verwildern. Du wolltest, dass ich mein Haar abschneide. Ich habe mein Haar nicht abgeschnitten. Ich ließ mich auf Motorradtaxen umherfahren und weinte ästhetisch, ging zu Kurzfilmabenden. Ich spürte, dass du in der Stadt warst.
Ich konnte mich nicht verteidigen. Ich ging in Wahnsinn. Du zwangst mich zu Gesprächen, ich fand immer mehr heraus. Ich provozierte dich, lachte über dich. In mir baute ich den Widerstand auf. Meine Sehnen waren durchlöchert wie die Bürgersteige dieser Stadt, und in unvorhersehbaren Abständen gab es tiefe Löcher, in die ich fallen konnte. Ich wusste nicht, ob du strategisch vorgingst wie ein Feldherr, oder ob du einfach nur den Horror der bevorstehenden Vernichtung spürtest, das Enttarntwerden, deine Auflösung in Dampf und Asche, wenn jemand dich durchschaute. Ich sah dich, ich erkannte dich, ich sprach das Zauberwort. Du wurdest zu Nichts, du gingst in die Leere. Ich durchschaute deine Gewalt, die Mechanismen und Taktiken deiner Kontrolle. Du warst ein schlechter Gefängniswärter. Du warst zu sehr überzeugt, alles im Griff zu haben, so dass du die Löcher in deinem Netz nicht gestopft hattest. Ich hatte die Löcher entdeckt, angefangen, die Maschen zu dehnen. Bis sie groß genug waren.
Ich hielt mein Telefon fest in der Hand und las Artikel über Cluster B-Persönlichkeitsstörungen. Nahm mir fest vor, ins Diorama zu fahren. War zu müde, obwohl ich nichts tat. Manchmal arbeitete ich diszipliniert und besessen an Projekten. Lud Tinder herunter. Am gleichen Tag ein erstes Date, in der Nähe der Jalan Thamrin. Der Typ hatte Psychopathenaugen. Er ging bald, ich trank weiter mit westlichen Expats. Einer war ein Exdiplomat aus Kanada.
Der Exdiplomat sang Sowjetlieder mit einem Vibrato. Ich kannte die Lieder entweder nicht oder sein Akzent war zu krass, aber ich war sehr angetan. Ich ging nach Hause, bevor ich zu betrunken oder die Situation zu sexuell werden konnte. Tanzte mit der jungen indonesischen Frau eines alten Amerikaners. Er sagte mir »Gut, dass du sie eingeladen hast, sie wird sonst immer sehr eifersüchtig, wenn ich mit jungen Mädchen rede«. Der Psychopath hatte seine ziemlich hohe Rechnung nicht bezahlt, wollte, dass ich sie bezahlte, versprach, mir das Geld zurückzugeben. Ich sagte Nein, löschte seine Nummer und seine Nachrichten, blockierte ihn. War stolz auf mich. Meine Wut hattest du mir gestohlen. Jetzt kam sie wieder – sie war mächtig. Du hattest mich zuerodiert, aber es war genug von mir übrig, um mich wieder aufzubauen.
In meiner Stadt brach der Vulkan aus. Instagram und Facebook waren voller Videos der Rauchsäule, die das, was auf der Erde passierte, an den Himmel verrieten. Ich fuhr zum Flughafen und klaute aus Versehen die Codekarte des Hostels. Es war Mai.
Jakarta IV
Das erste Mal war ich in Liebe gekommen, das zweite in Sehnsucht, das dritte in Trauer. Jetzt kam ich in Heilung. Ich war im gleichen Hostel, gab ihnen die Codekarte zurück. Jeden Morgen sah ich in meinen Mails nach, ob das Visum für Australien schon angekommen war. Die Flüge nach Melbourne wurden jeden Tag teurer. Eine Bekannte, die mal mit ihrer Schwester und ihrem besten Freund (der der Scheinehemann einer meiner besten Freundinnen war) bei mir in Deutschland gewohnt hatte, würde mich aufnehmen.
Adam saß da, aus Melbourne. Seine Arme und Beine waren zerkratzt nach einer viertägigen Wanderung in Sumatra. Er sagte, sein Sohn habe viel über Politik auf Reddit gelernt. Und von Jordan Peterson. Ich sagte ihm, dass dessen Verdienst nur sei, junge Männer von aufgeräumten Zimmern zu überzeugen und Hummersymbolik zu verderben. Er fand das alles sehr positiv, denn Hummer seien unterschätzt.
Er verhörte alle Gäste, entlockte ihnen ihre geheimsten Geheimnisse. Dann erzählte er mir ihre Geheimnisse weiter. Vielleicht sollte ich einen Youtubekanal aufmachen, auf dem ich dann kontroverse politische Thesen verbreiten würde. Leute würden angepisst sein. Ich würde viel Erfolg haben.
Eine Freundin aus meiner Schule, Hannah, war auch in Indonesien für ein Praktikum und gerade in Jakarta, für ein Visum. Wir gingen zu dem Poetry Slam, bei dem die goldene Jugend Südjakartas schlechte Gedichte las und mit zittrigen Stimmen sang. Sie sprachen leidenschaftlich darüber, dass sie gerade eine einmonatige Challenge machten: keine Plastikstrohhalme mehr zu benutzen.
Am Morgen fuhren wir zum Hafen, der nach Katzenfutter roch. Die Ratten waren schamlos. Die Menschen im Hafen lebten in Ställen vor den neuen Hochhäusern, die eigentlich niemals hätten gebaut werden dürfen, aber die Regeln pflegten sich zu ändern. Korruption macht die Welt flexibel. Sie sahen aus wie normale postsowjetische Hochhäuser in der kasachischen Steppe, in der es erst unendlich leer war und dann unerwartet eine Stadt auftauchte.
Auf einem der Boote stand in Himmelblau Revolution. Kinder winkten. Die Boote waren Brücken über den Kanal, Motorräder benutzten sie. Man setzte uns im Kampung-Aquarium aus – der Slum hieß so, weil Fische seit den 1970ern von der Inselgruppe vor der Küste hergebracht wurden.
Der Fährmann war ein lächelnder Hüter der Unterwelt, reichte den Leuten beim Aussteigen die Hand. Am Eingang der Unterwelt ein Stand mit Schokoladenbananen, pisang coklat, oder in der renitenten Liebe zu Abkürzungen piscok. Wo die Fische gesalzen wurden, lebten die fettesten Katzen von Jakarta.
Wir gelangten zum Fluss, in den die Scheiße der umgebenden Hochhäuser geleitet wurde. Die Scheiße formte Muster, ich machte ein Foto, das aussah wie ein Luftbild einer majestätischen Wüste. Zwei Monate später wurde für die Asian Games das Abwasser in eine Kammer unter den Fluss geleitet, der eigentliche Fluss nahm die Farbe eines Smaragds an. Eine Blondierte trug ein blaues Kolonialzeitkleid aus synthetischem Samt, drehte ihren Papierschirm in den Händen. Sie war dazu da, mit ihr Fotos zu machen, hatte viele Kunden.
»Hit me in the face I need to feel alive«, stand auf dem T-Shirt eines Mannes.
In der Ausstellung der Kunstuni Jakartas bestand ein Exponat aus Zitaten auf Papier: »Go as a river, true love heals, drink your tea, I am here for you.«
Am Taman Ismail saßen Chuck, Nesha und ich bei den Wahrsagern, ließen unsere Beine von Moskitos zerbeißen. Die Masseure griffen ihren Kunden erotisch ins Körperfett, sehr intim und sehr öffentlich. Der Alte neben mir heulte wie ein Wolf, obwohl Vollmond vorbei war. Wir aßen gebratenes Tempeh. Am Tag danach fuhr ich mit Nesha ins Diorama. Sie war eine der vielen Affären von Chuck, die alle voneinander nichts wussten.
Sie studierte, arbeitete in Teilzeit als Hijabmodel und Modedesignerin. Beim Diorama stand ein Schild:
»Links zur blutverschmierten Kleidung der Helden, rechts zum Brunnen des Todes«. Blut war rotgeschrieben, der Rest schwarz. In den sechs Schaufenstern,